Wissenstand 2015

Kurz nach der Mitte des 17. Jahrhunderts wurde im europäischen Kulturraum ein Knabe namens Joh. Heinrich Weissenburg geboren; zwar ohne offiziellen Eintrag in einem Taufregister, d.h. die Nachwelt kannte weder den Namen der Mutter, noch den Beruf des Vaters, weder das Taufdatum des Knaben, noch der Ort seiner Herkunft. Nicht aus Akten, sondern aus dem weiteren Verlauf seiner retrospektiv erfassten Lebensgeschichte erfahren wir, dass dieser Knabe ein ausserordentliches Talent besass: Er beherrschte früh das Geigenspiel auf hohem Niveau und auch Musiktheorie und Kompositionslehre erlernte er mühelos.

Das erste und einzige Dokument, das wir besitzen stammt vom bereits erwachsenen, jungen Weyssenburg, der die Stelle eines Musicus Academiae der Universität Leyden in den Niederlanden erhielt. Wie es ihn in die Niederlande verschlug, ist nicht bekannt. Auf dem genannten Dokument der Universität ist ausser der Anstellung ein sehr wichtiges Faktum wiedergegeben: Er bezeichnet sich bezüglich Herkunft als Viennensis (aus Wien). Wahrscheinlich haben ungezählte Albicastro-Fans seither die kirchlichen und weltlichen Akten in Wien durchforscht, aber – wie wir – ohne Erfolg.

Verwirrung schaffte dann das später erschienen Lemma «Albicastro» im ersten Deutschsprachigen Musiklexikon von J.G. Walther (1728): «Albicastro (Henrici) ein Schweitzer, Weissenburg eigentlich genannt … » nun fokussierte sich das Interesse auf die Schweiz, bis heute. Seine Werke wurden in der Reihe «Schweizerische Musikdenkmäler» ediert und vom Bund finanziert. Die ersten wissenschaftlichen Arbeiten wurden auch hierzulande gemacht. Der Schweizer Violinist und Bayerische Kammermusiker Walter Probst hat das gesamte, damals noch nicht gedruckte Werk in sehr schöner Handschrift kopiert und gleichzeitig den Bass ausgeschrieben. Schliesslich entdeckte Prof. Kurt Fischer in den 1970er-Jahren die Solokantate Coelestis angelici chori im Brüsseler Konservatorium.

Von der Kindheit und Jugend Albicastros wissen wir also nur, dass er ein frühreifes musikalisches Genie bezüglich des Violinspiels und der Komposition von ein- und mehrstimmigen Sonaten, vorwiegend im italienischen Stil (Vorbild: Arcangelo Corelli), war. Leider wissen wir nichts über seine schulische und musikalische Ausbildung. Die Lateinschule (und den Italienischunterricht) besuchte er wahrscheinlich nur auf einer untersten Stufe; zu häufig sind seine orthografischen und grammatikalischen Fehler, z. B. der Gebrauch des Genitivs für seinen Vornamen.

Militärische und musikalische Laufbahn
In den Niederlanden trat Weissenburg auch in die Armee ein, wo er in einer langen und erfolgreichen Karriere zehn Ränge aufsteigt, vom Unteroffiziert bis zum Rittmeister. Er diente in Niederländischen Regimentern, die im Spanischen Erbfolgekrieg eingesetzt waren. Ab 1706 signiert er seine musikalischen Werke ausschliesslich mit Henrici Albicastro, seine dienstlichen und privaten Papiere seit 1686 mit (Johan) Hendrick van Weyssenburgh.

Mit etwa 40 Jahren erfolgte ein tiefgreifender Bruch in seiner Lebenslinie: Er legte seine Violine beiseite und konzentrierte sich ausschliesslich auf seine militärische Laufbahn bei den berittenen Truppen. Der Berufswechsel ist wohl als Ausdruck seines Ehrgeizes zu verstehen. Eine Gruppe von Schweizer Grafologen sieht seinen persönlichen Traumplatz auf dem «Feldherrenhügel».

Familiäre Verhältnisse
1705 heiratete er Cornelia Maria Coeberg, eine Kaufmannstochter aus Grave, einer Festungs- und Garnisonstadt an der Maas. Nach der Geburt seines ersten Kindes gründeten sie einen eigenen Hausstand an der gleichen Strasse (Klinkerstraat), schräg vis à vis ihrer Eltern. Das erste Kind hiess Gerhardus Alexander, der in den Fussstapfen seines Vaters ebenfalls eine militärische Laufbahn einschlug, aber leider schon mit 22 Jahren verstarb. Dann folgt die Tochter Johanna Allegundis, tüchtig, arbeitsam und intelligent, die den Gutsverwalter des Fürstenhauses Hohenzoller-Sigmaringen – Petrus Johannes Hengst – heiratet und eine kinderreiche Familie hinterliess, deren letzte Nachkommen bis heute leben.

Dann folgte wieder ein Knabe, Johannes Michaelis, der ebenfalls, wie Gerhard die Lateinschule bei den Karmelitern in Boxmeer absolviert hatte. Diesem gelang dann die militärische Karriere endgültig. Aber trotz seiner zehn Kindern versiegt der Stamm der von Weissenburgs bei seinen Grosskindern, sodass dieses Geschlecht in den Niederlanden ausgestorben oder ausgewandert ist. Schliesslich folgt als viertes noch die Tochter Everdina Alexandrina. Nur bei ihr besitzen wir den Taufbucheintrag. Sie wurde 1713 in Grave geboren und ist 1734 als Krankenschwester dem Karmeliterorden beigetreten.

Zu einem Hinscheiden seiner Frau fehlt jeder Hinweis. Jedenfalls heiratete der 61-jährige Witwer am 15. Februar 1722 ein zweites Mal. Die Erkürte war Petronella Baronessa Rhoe d’ Oppsinnigh, eine Baronin, die vielleicht seinem Traum vom Feldherrenhügel zu entsprechen vermochte, aber deren Lebensstil die finanziellen Möglichkeiten des Rittmeisters bei Weitem überstieg. Zunächst mussten zwei Pferde plus Kutsche und eine entsprechende Stallung angeschafft werden. Das luxuriöse gesellschaftliche Leben und weitere Kosten führten nicht nur in die Armut, sondern zu einem grossen Schuldenberg, den die Kinder aus erster Ehe und die Witwe der zweiten Heirat abzutragen hatten.

Kompositorisches Werk
Wenn Albicastro beim Eintritt in die militärischen Schulen seine Geige abgelegt hat, so gilt das nicht für sein Kompositionsheft. Paradoxerweise begann da seine musikalisch produktivste Phase seines Lebens. Es ist fast unglaublich, dass er in den Jahren seiner militärischen Ausbildung und ersten Karriereschritte genau 100 Sonaten komponiert hat, meist 4-sätzige, in allen Dur- und Moll-Tonarten, technisch zum Teil sehr anspruchsvoll: voller Doppelgriffe und ausgedehnter fugierter Sätze. Das Schreiben allein ist eine Riesenarbeit. 100 Sonaten sind für andere ein Lebenswerk. Rechnen wir die früheren und späteren und verschollenen Werke dazu, so kommen wir auf etwa 130 Kompositionen, vor allem Sonaten.

Eine Sonderform sei hervorgehoben, die Folia, ein Thema mit «ausgelassenen» Variationen. Auch Corelli hat eine Folia geschrieben; op. V / Nr. 6. In Ehrerbietung zu seinem geistigen Lehrer reiht Albicastro die seine ebenfalls als op. V / Nr. 6 ein. Ein Vergleich ergibt: Der Römer schreibt nach den Regeln der Kunst, hält die historisch vorgeschriebenen Takt- und Satzzahlen ein, lebhaft, aber nicht ausgelassen, künstlerisch sehr sauber. Bei Albicastro ist es eher wild, die Sätze unterschiedlich lang, zum Teil sehr hohe Tempi, emotional stärkere Ausbrüche und ein rauschende Finale in den Schlusstakten.

Die einzige vokale Komposition Albicastro ist Coelestes angelici chori, eine geistliche Solokantate für hohe Stimme, Streicher und Basso continuo. Vielleicht das letzte Musikstück von Albicastro? Ein wunderschönes Gesangswerk, das mit einem brillanten, reich kolorierten Hauptsatz eröffnet wird. Dann folgt ein unglaublich schönes Rezitativ (wie man es fast nur von Bach kennt), gefolgt von einem zart fliessenden Adagio, in welchem weiche Solo-Violinen den Gesang umweben. Dann schliesst ein festliches Halleluja die Kantate ab.