Hubert Harry: Begnadeter Lehrer und phänomenaler Interpret
Als Pädagoge schuf er am Konservatorium Luzern eine «Isle joyeuse», als Interpret setzte er in seinen Konzerten verbindliche Massstäbe: Erinnerungen an den am 12. Juni 2010 verstorbenen Hubert Harry.
Patrizio Mazzola
- 23. Jun. 2020
Geboren und aufgewachsen in der englischen Region Cumbria, seine Mutter war Sängerin, sein Vater Organist und Chorleiter, begann Hubert Harry schon im Alter von zweieinhalb Jahren Klavier zu spielen, und bereits als Vierjähriger präsentierte er Rachmaninows berühmtes Prélude cis-moll. Als Jugendlicher wurde Hubert in seiner englischen Heimat mit diversen wichtigen musikalischen Aufgaben betraut, bis er mit nur 19 Jahren in die Schweiz kam, um beim berühmten Pianisten Edwin Fischer zu studieren. Dieser führte eine Meisterklasse am Luzerner Konservatorium, das zu dieser Zeit erst seit vier Jahren bestand (gegründet 1942, während des Krieges, u. a. vom Luzerner Juristen und Musikkenner Walter Strebi). In Luzern resp. am Vierwaldstättersee in Weggis/Hertenstein durfte Hubert Harry damals noch Rachmaninows Witwe kennenlernen, was ihm als grossem Verehrer dieses Komponisten eine besondere Ehre und Freude war.
Pädagoge
Durch Harrys Leben in Luzern und Kontakt zum dortigen Konservatorium wurde er bereits wenige Jahre später selber Lehrer an diesem Institut, dem er jahrzehntelang beispiellos die Treue halten sollte. Zahllose Klavierstudierende (zu denen auch ich selber gehörte) gingen durch Harrys Schule, die im Laufe der Zeit immer weiter über Luzern hinaus auszustrahlen begann. In seiner Klasse fühlte man sich musikalisch und menschlich so sehr aufgehoben, dass man sich beim Verlassen dieser «Isle joyeuse» erst wieder im profanen übrigen Leben eingewöhnen musste. Auch seine Frau, Heidi Harry, ebenfalls treffliche Pianistin, leistete ihren wesentlichen pädagogischen Beitrag dazu, etwa durch die Betreuung der Methodikkurse. (Sie war u. a. auch Lehrerin der pianistisch ausgebildeten Bundesrätin Sommaruga.)
Interpret
Obwohl das Hauptgewicht von Hubert Harrys musikalischer Tätigkeit in der Pädagogik lag, gab es gelegentlich grosse Konzertanlässe, vorzugsweise in der Schweiz. Diese Konzerte wurden durch ihren Seltenheitswert zu besonderen Höhepunkten, ja oftmals Sternstunden. Glücklicherweise ist vieles davon in gelungenen Aufnahmen dokumentiert und zugänglich. Harrys Programme widmeten sich zur Hauptsache der grossen internationalen Konzertliteratur. Seine Interpretationen der vielgespielten Literatur haben aber den Vergleich mit (sogenannt) weltberühmten pianistischen Grössen nie scheuen müssen – eher das Gegenteil ist der Fall … Mit einzelnen Darbietungen gelang es Harry, verbindliche Massstäbe zu setzen, die kaum mehr erreicht, geschweige denn übertroffen wurden.
Wirkung
Das hier Gesagte mag nun überraschen, wo doch Harrys Wirken eigentlich so eingeschränkt blieb und nie die verdiente umfassende Breitenwirkung erreichte – wohl auch, weil dies für Harry kein Anliegen war in seiner echten Demut und Hingabe an die Musik. Aber wahre grosse Kunst wird sehr häufig vorerst kaum als solche erkannt und erst posthum geschätzt (womit sich Harry freilich in guter Gesellschaft befindet). Ob Harrys verdienter Weltruhm, so er ihm denn wichtig wäre, noch eintrifft, wird sich weisen. Bei den heutigen technisch-digitalen Möglichkeiten wäre es denkbar. Bis dahin bleibt der immerhin wachsende Kreis seiner Gefolgschaft eine privilegierte Gemeinde von Eingeweihten.
Aktuell
Am Samstag, 4. Juli, 11 bis 16 Uhr, veranstaltet die Hochschule Luzern – Musik auf Dreilinden einen Anlass zum Abschied vom dortigen Ort, bevor sie ins neue Gebäude im Südpol Luzern/Kriens umzieht. Patrizio Mazzola wird zum Gedenken an Hubert Harry und Caspar Diethelm, die beide sehr lange an der Schule wirkten, entsprechende Werke spielen und kommentieren.
Ingvar Lidholm, einer der grössten schwedischen Komponisten des 20. Jahrhunderts, starb am 17. Oktober 2017 im Alter von 96 Jahren. Er war nicht nur eine der wichtigen Figuren des schwedischen «Chorwunders», es lassen sich auch Berührungspunkte mit der Schweiz feststellen.
Markus Utz
- 10. Nov. 2017
Der Komponist Ingvar Lidholm ist vor allem in Chorkreisen auch hierzulande bekannt. Er gehörte der Montagsgruppe an, die den Weg bereitete für das sogenannten schwedische Chorwunder. Anregungen holte sich die Gruppe auch in Basel.
Ingvar Lidholm, einer der grössten schwedischen Komponisten des 20. Jahrhunderts, starb am 17. Oktober 2017 im Alter von 96 Jahren. Nach dem Tod von Knut Nystedt (1915-2014) und Einojuhani Rautavaara (1928-2016) geht mit Lidholm ein weiterer, hochbedeutender skandinavischer Komponist des 20. Jahrhunderts.
Lidholm war über 70 Jahre lang eine zentrale Figur im schwedischen Musikleben und schrieb bahnbrechende Werke für Chor, Kammermusik und Orchester. Sein Wirken hat wesentlich zum sogenannten «Schwedischen Chorwunder» beigetragen, der Entstehung und Bewegung von Chören, die sehr schwierige Stücke aufführen können. Zu diesen Stücken gehört auch Laudi, welches Lidholm im Alter von 26 Jahren komponierte, inspiriert von einem Chor, der von seinem Freund Eric Ericson geleitet wurde. «Beinahe unmöglich aufzuführen», urteilten angeblich die Choristen, als sie 1947 die Noten in die Hände bekamen.
Lidholm schrieb A-cappella-Werke, Solowerke für Klarinette, Oboe und Violoncello, aber auch Orchesterwerke wie Kontakion (1978) und Ritornell (1955) und Opern wie Der Holländer, für die er1968 den Preis der Salzburger Oper erhielt, oder Ein Traumspiel (Ett drömspel, 1990). Andere Kompositionen Lidholms sind im Chorwesen inzwischen zu Klassikern geworden, etwa Canto LXXXI (1961), Libera me (1995) und a riveder le stelle (1973).
(Ausführliche Biografie und Verzeichnis der Chorwerke siehe weiter unten.)
Die Montagsgruppe
Einige schwedische Komponisten, Musiker und Musikwissenschaftler taten sich 1944 zusammen und trafen sich bis ca. 1950 regelmässig montags, um über Komposition zu diskutieren. Der informelle Leiter der Gruppe war Karl-Birger Blomdahl (1916-68). In der Wohnung seiner Familie, umsorgt mit Kaffee von seiner Mutter, fanden in der Drottninggatan in Stockholm die Treffen statt.
Da durch den Zweiten Weltkrieg die internationalen Kontakte abgebrochen waren, gab es einen grossen Bedarf, Erfahrungen auszutauschen. Unter anderem diskutierte man Satz- und Formenlehre bei Komponisten wie Hindemith, Bartók, Strawinsky, Schönberg und Berg. Der Kern der Gruppe bestand, neben Blomdahl selbst, Klas-Thure Allgén, Sven-Erik Bäck, Sven-Eric Johansson, Hans Leygraf, Claude Génetay, Eric Ericson und Ingmar Bengtsson und eben auch Ingvar Lidholm.
Im Jahr 1946 reisten mehrere Mitglieder der Gruppe (Sven-Eric Bäck, Eric Ericson und Lars Edlund) nach Basel ans «Lehr- und Forschungsinstitut» für Alte Musik, um bei Ina Lohr zu studieren. Ina Lohr spielte als Assistentin von Paul Sacher beim Aufbau der heute unter dem Namen Schola Cantorum Basiliensis bekannten Institution eine bedeutende Rolle. Ihre ganze Arbeit war getragen von einer tiefen Religiosität. Sie war an der schweizerischen Singbewegung sowie an der Einführung des Probebands des neuen Kirchengesangbuches beteiligt. Gleichzeitig suchte die Bewegung der Alten Musik allmählich grössere Professionalisierung, wollte sich befreien vom Etikett des Dilettantismus, der die Hausmusik substantiell definierte, was unter anderem dazu beitrug, dass Ina Lohrs Name heute kaum mehr bekannt ist.
Als die Montagsgruppe sich dann ab 1947 wieder traf, wurden auch mehrere Teilnehmer neu aufgenommen, darunter Göte Carlid, Magnus Enhörning, Nils L. Wallin und Bo Wallner.
Paradigmenwechsel im Musikleben
Die Ausrichtung der Montagsgruppe war und wurde mit der Zeit immer stärker die radikal modernistische Musik. Das ursprüngliche Ziel war, die eigenen Kompositionen parallel zur Entwicklung der europäischen Kunstmusik zu verbessern. Man wollte aber auch darauf hinwirken, mehr Verständnis für die eigene, oft bespottete Musik zu gewinnen. Man hatte in Schweden gegen das traditionalistische Musik-Establishment zu kämpfen, in dem die Spätromantik und der Neoklassizismus vorherrschende Stilideale waren. Zur Distanzierung gegenüber der Spätromantik gehörte auch das Interesse für Barockmusik und ihrer Aufführungspraxis bei vielen Mitgliedern der Gruppe.
Die Mitglieder der Montagsgruppe beteiligten sich rege an den Debatten über Neue Musik, sie bekamen Schritt für Schritt mehr Aufmerksamkeit und mehr Einfluss. Und so besetzten allmählich (nachdem sich die Gruppe schon aufgelöst hatte) einige ihrer Mitglieder, zuvorderst Blomdahl, Bäck und Lidholm zentrale Positionen innerhalb des schwedischen Musikbetriebs. Die Montagsgruppe ist deshalb von zentraler Bedeutung in der schwedischen Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts und verantwortlich für den deutlichen ästhetischen und stilistischen Paradigmenwechsel im Musikleben während der 1950er- und 1960er-Jahre. Sowohl Blomdahl als auch Lidholm wurden Professoren für Komposition an der Königlichen Musikhochschule in Stockholm. Besonders die Chormusik hat in Schweden nach dem zweiten Weltkrieg entscheidend zur allgemeinen Entwicklung der dortigen Neuen Musik beigetragen.
Die enorme Entwicklung der zeitgenössischen skandinavischen Chormusik selbst, die auch als «schwedisches Chorwunder» bezeichnet wird, ist vor allem mit der Chorleiterlegende Eric Ericson verbunden. Dieser regte nicht nur Komponisten zum Schreiben derartiger neuer Werke an. Er bildete vor allem auch Chorleiter ausbildete, die keine «Angst» mehr vor neuen Klängen und ungewöhnlichen Partituren hatten. Damit setzte er für folgende Generationen einen Kreislauf in Gang, in dem sich leistungsfähige Chöre, hervorragend ausgebildete Chorleiter und Komponisten befruchten konnten.
Dieser Einfluss wird heutzutage als positiv und negativ bewertet. Andere Komponisten, die die Ideale der Gruppe nicht teilten oder auf traditionellere Weise komponierten, wurden weitgehend ausser Acht gelassen bei den Institutionen wie dem schwedischen Radio, geleitet von Mitgliedern der Montagsgruppe oder deren Freunden und «Alliierten». Dies schilderte unter anderem der Komponist Erland von Koch in seinem Buch Musik och Minnen [Musik und Erinnerungen], Stockholm 1989.
Geboren in Jönköping, in der südschwedischen Provinz Småland, am 24. Februar 1921. Als Abiturient in Södertälje bekam er Violinunterricht bei Hermann Gramms und Orchestration bei Natanael Berg. Von 1940 bis 1945 studierte er an der Königlichen Musikhochschule Stockholm bei Axel Runnqvist Violine und bei Tor Mann Dirigieren; von 1943 bis 1945 auch Komposition bei Hilding Rosenberg. Er war Viola-Spieler an der Oper in Stockholm von 1943 bis 1947.
Der Preis der Jenny-Lind-Fellowship ermöglichte ihm, seine Studien in Frankreich, der Schweiz und Italien fortzusetzen. Er war Musikdirektor der Stadt Örebro (1947–1956) und der erste Schwede, der bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik Darmstadt im Jahr 1949 teilnahm. 1956 wurde er Programmdirektor für Kammermusik beim schwedischen Radio. Ab 1965 unterrichtete er Komposition an der Königlichen Musikhochschule Stockholm, um 1975 als Planungsdirektor für Neue Musik zum Radio zurückzukehren. Zudem fungierte er ab 1967 als Herausgeber des Journals Neue Musik. Von 1947 bis 1951 und von 1963 bis 1965 war er Vorstandsmitglied der Schwedischen Komponistengesellschaft. Ausserdem war er Vize-Präsident der Königlichen Musikhochschule Stockholm von 1963 bis 69 und Präsidiumsmitglied des Internationalen Schwedischen Komponistenverbandes.
Er bekam 1958 den Christ-Johnson-Preis, 1965 den Internationalen Kussewitzki-Preis. 1968 wurde er mit dem Preis der Salzburger Oper für seine Komposition Der Holländer ausgezeichnet. Er selbst sagte über sein Komponieren: «Ich versuche mir immer im Bewusstsein zu halten, dass es mein Beruf ist, Noten zum Sprechen zu bringen … Lasst uns versuchen, wieder Musik zu formulieren, die den Hörer stark und unmittelbar anspricht, Musik für Menschen unserer Zeit.»
Ingvar Lidholms frühe Werke enthüllen eine subjektive, skandinavische Romantik (Gullberg-Gesänge 1944), noch bevor lange Elemente wie bei Hindemith oder Bartók ins Spiel kommen (Concerto 1945, Music for strings 1952). Die Chorkomposition Laudi kombiniert frühe Vokalpolyfonie mit moderner Harmonie. Lidholms Tonsprache ist reich und vielseitig, die Zahl seiner Werke bemerkenswert und ihr Stil wandlungsfähig.
Der internationale Durchbruch kam mit dem Orchesterstück Ritornell. Von seinen anderen Stücken für Orchester müssen besonders das Ballett Riter (1959), Mutanza und vor allem Poesis (1964 zum 50-jährigen Jubiläum der Stockholmer Philharmoniker) erwähnt werden. Letzteres ist ein unkonventionelles Stück für ein Jubiläum, mit brutalen, unterschiedlich gefärbten Klangblöcken, dynamischen Kulminationspunkten und absurden Solo-Kadenzen für Klavier und Kontrabass. Greetings from an old world wurde 1976 komponiert für die Clarion Musikgesellschaft New York aus Anlass des zweihundertjährigen Jubiläums der Vereinigten Staaten von Amerika.
«Ich mache Gebrauch von der Tradition – mit klar verständlichen Klangmodellen mit gestischem, virtuosem oder melodischem Charakter.» Eine wichtige Zutat des Stückes ist Heinrich Isaacs Wanderlied Innsbruck, ich muss dich lassen. Das dazu passende Schwesterwerk ist Kontakion (1979), das anlässlich einer Sowjetunion-Tournee entstand und orthodoxe Traditionen klanglich verarbeitet. Wahrscheinlich wurde kein Werk von ihm mehr verbreitet als Stamp Music. Er hat es geschrieben im Zusammenhang mit der Erstellung einer Briefmarke zum zweihundertjährigen Jubiläum der Königlichen Musikhochschule Stockholm.
Liste der Chorwerke
Laudi (1947) Vier Chöre (1953) Zwei Gesänge (1945-1955): 1. Saga (Männerchor) 2. Jungfrulin (Frauenchor) Canto LXXXI (1956) Motto (1959) Zwei griechische Epigramme (1959). 1. Kort är rosornas tid (3st. Männerchor), 2. Phrasikleia (Sopran-Solo und Frauenchor) Drei Strindbergweisen (1959): 1. Välkommen åter snälla sol 2. Sommerafton 3. Ballad Nausikaa allein (1963): Szene für Solosopran, Chor und Orchester a riveder le stelle (1971) Die Perser (1978): Dramatische Szene für Rezitation und grossen Männerchor Skaldens natt (1958/1981): Für Sopransolo, Chor und Orchester De profundis (1983)
aus der Oper Ett drömspel (Ein Traumspiel): Vindarnas klagan (1981), Troget och milt (1990) Inbillningens värld für Männerchor (1990/1996) Libera me (1993–94)
aus der Oper Ett drömspel (Ein Traumspiel): Vokalsymphonie (1997), Zwei Madrigale (1981) beide mit Orchester Madonnans vaggvisa für Solostimme und gemischten Chor (1943/2001) Grekisk gravrelief (2003)
Eigenart, Stil und Bedeutung erläutert an zwei Sonaten.
Bernhard Billeter
- 09. Nov. 2017
Bereits sieben früheste handschriftlich erhaltene und deshalb nicht datierbare Sonaten – im Band IV der Neuausgabe Nr. 44–50, wohl vor 1773 – sind eindeutig nicht für Cembalo gedacht, sondern dem sich damals auf dem Siegeszug befindlichen «Fortepiano» auf den Leib geschrieben. Sie können es an Erfindungskraft und Tiefe der Emotionalität mit frühen Haydn-Sonaten aufnehmen. Eine davon in Es-Dur, Nr. 47, weist im ersten Satz, Adagio, noch eine zweiteilige Sonatenhauptsatzform auf (ohne Durchführung) wie in Mozarts Es-Dur Sonate KV 282. Mozart hat sie vermutlich Anfang 1775 in München während der Uraufführung des dort bestellten dramma giocoso La finta giardiniera geschrieben; ein Einfluss von Koželuch ist wohl auszuschliessen. Das ist ein Überbleibsel der Frühklassik.
Zwei ausgereifte, grosse Sonaten der mittleren Schaffensperiode verdienen es, näher beschrieben zu werden. Diejenige in A-Dur op. 35 Nr. 2 von 1791 ist dreisätzig und besteht wie die meisten aus einer Sonatensatzform, einer zusammengesetzten Liedform und einer Rondoform. Das Notenbeispiel 1 zeigt den Vordersatz des Hauptthemas in der Form der Periode; der Nachsatz ist erweitert auf 12 Takte.
Nach dem allmählichen Übergang zur Dominanttonart bleibt der Dominantseptimakkord vier Takte lang stehen. Hier (Notenbeispiel 2) auf Takt 35 könnte also der Seitensatz beginnen. Überraschenderweise erscheint in e-Moll statt in E-Dur das Anfangsmotiv des Hauptthemas.
Das Notenbeispiel 3 zeigt in Takt 49 einen Trugschluss und den übermässigen Quintsextakkord zur Dominante und im Auftakt zu Takt 53 den Beginn des mit 26 Takten relativ kurzen Seitensatzes. Von einer «Schlussgruppe», die in manchen Formenlehren herumgeistert, kann ohnehin, wenn schon, erst bei Beethoven gesprochen werden. In der Durchführung verarbeitet der Komponist in weitflächigem Quintfall lauter Hauptsatz-Motive. Vier vollständige Takte des Anfangs in D-Dur könnten die Hörer dazu verleiten, einen Reprisenbeginn zu vernehmen.
In den Takten 111–117 bewährt sich zur leichten Anreicherung mit polyphonen Verfahren die zweistimmige komplementäre Führung der rechten Hand (Notenbeispiel 4).
Statt die Reprise mit längerem Stehenbleiben auf der Dominante vorzubereiten, bedient sich Koželuch eines viel drastischeren Mittels, nämlich einer eintaktigen Generalpause. Den bemerkenswerten Vergleich zwischen Exposition und Reprise mit verkürztem Hauptsatz und verlängertem Nebensatz und zahlreichen Detailunterschieden überlassen wir dem Spürgeist einer geneigten Leserschaft, falls sie sich die Noten beschafft. Es lohnt sich!
Eine kleine Bemerkung verdient der Schluss dieses Satzes: Hier fehlen die Wiederholungszeichen, die sonst in frühklassischen und meist in klassischen Sonaten zur Wiederholung von Durchführung und Reprise üblich waren, auch bei Mozart. Koželuch bricht hier und in allen folgenden Klaviersonaten mit dieser Tradition. Wir kommen darauf zurück. – Leichter wird es fallen, die übrigen zwei Sätze zu beschreiben, beide mit einem Minore-Teil in der Mitte und beide von sprühendem Einfallsreichtum. Das ausdrucksstarke Adagio erschliesst sich, wenn die genau aufgeschriebenen Auszierungen (im 18. Jahrhundert «willkürliche Veränderungen» im Gegensatz zu den «wesentlichen Manieren» genannt) als solche erkannt werden. Das Rondo bietet viel mehr als einfach einen Kehraus. Sein Hauptthema –oder sagen wir sachkundiger: – sein Refrain zeigt sich nur dreimal, das zweite Mal stark abgekürzt, dafür auch als Rahmen des Minore und wirkt deshalb nie abgedroschen. Weil das Allegro des ersten Satzes zeitweise sich einer Alle-breve-Taktierung nähert und das Allegro des Rondos im Zweivierteltakt notiert ist, sollte ersteres zügig und letzteres etwas langsamer genommen werden. So wird die Zuhörerschaft über die blendende Virtuosität einer Darbietung staunen, auch wenn der Schwierigkeitsgrad wegen der handgerechten Schreibweise des Klavierpraktikers für einen gewiegten Amateur durchaus zugänglich ist (etwa Stufe 8-9 gemäss Klaus Wolters).
Fünf Sonaten in den beiden ersten Bänden und sechs in den Bänden III und IV beginnen mit einem Satz in Moll. Das ist zwar – wie bei Mozart – eine kleine Minderheit, die jedoch besondere Beachtung verdient. Koželuch experimentiert in ihnen mit polyphonen Elementen, zum Beispiel am Anfang der Sonate op. 26 Nr. 2 in a-Moll von 1788 (Notenbeispiel 5).
Der Seitensatz beginnt ganz normal mit einem zwölftaktigen Thema in der Paralleltonart C-Dur. Doch wenn dasselbe Thema nach fast zweitaktiger Generalpause ohne jede Modulation in Es-Dur erscheint, ist die Überraschung perfekt. Schubert lässt grüssen. Die Generalpause bedingt übrigens ein zügiges Allegrotempo.
Noch interessanter, auch in der ungewöhnlichen Satzfolge, erweist sich die Sonate op. 30 Nr. 3 in c-Moll von 1789. Sie beginnt mit einem umfangreichen langsamen Satzteil, viel zu umfangreich für eine Einleitung, auch wenn er unabgeschlossen auf der Dominante stehen bleibt.
Die ersten 8 Takte (Notenbeispiel 6) sehen aus wie der Vordersatz einer Periode. Die punktierten Sechzehntel mit Zweiunddreissigsteln evozieren einen Trauermarsch.
Attacca beginnt das Allegro in Sonatensatzform. Auch hier entspricht der Anfang, das heisst das Hauptsatzthema (Notenbeispiel 7) einem Vordersatz. Er ist durch Wiederholungen des Halbschlusses auf 14 Takte verlängert. Statt eines Nachsatzes kommt ein Überleitungsteil zur Durparallele mit nur 16 Takten. Auch der Seitensatz (Notenbeispiel 8) ist mit 36 Takten extrem kurz gegenüber anderen Sonaten von Koželuch und seinen Zeitgenossen.
Am Ende der Exposition steht wie üblich das Wiederholungszeichen. Aber wo soll die Wiederholung beginnen, mit dem Largo oder mit dem Allegro? Das gibt der Komponist nicht an, weil selbstverständlich: mit dem Allegro! Die Durchführung wäre mit 32 Takten wieder sehr knapp. Aber beginnt hier wirklich in Takt 142 die Reprise, und zwar in der Tonart g-Moll? Nein, es ist wie in der A-Dur-Sonate eine Scheinreprise. (Notenbeispiel 9).
Denkbar kurz mit drei Takten ist die «Korrektur» nach c-Moll (Notenbeispiel 10). Schubert geht ja noch viel weiter: In den beiden fast gleichzeitig entstandenen zwei Klaviersonate in a-Moll und C-Dur («Reliquie») verschleiert er absichtlich völlig den Reprisenbeginn, über den sich die Musiktheoretiker trefflich streiten mögen. Es ist bei Schubert ein Aufbruch zu neuen Ufern. Sollen wir einen solchen auch Koželuch in bescheidenerem Rahmen zugestehen?
Mit einer weiteren, oben bereits angesprochenen Tradition bricht Koželuch am Ende der Reprise, nämlich mit der Wiederholung von Durchführung plus Reprise. Sie wäre schon deshalb nicht möglich, weil Allegro und das den Satz abschliessende Largo untrennbar miteinander verzahnt sind. Auf der in der Bärenreiter-Ausgabe wiedergegebenen Faksimileseite des Erstdrucks, also der einzigen Quelle sieht man das besonders eindrücklich: Kein Doppelstrich, nur das neue Taktzeichen 2/4 sind zu sehen. Doch auch ohne Faksimileseite ist die Verzahnung klar ersichtlich: Der Anfangsakkord des Largo bildet den Abschluss der Kadenz am Ende des Allegro. Daraus erwächst die Frage, ob Koželuch durch diese ja zwei Jahre vor der oben besprochenen A-Dur-Sonate entstandene c-Moll-Sonate angeregt worden ist, die zweite Wiederholung einer Sonatenhauptsatzform zu überdenken. Das ist ja in der Aufführungspraxis eine heiss umstrittene Frage. Mozart verzichtet, wenn auch selten, auf die zweite Wiederholung in Sonatensatzformen.
Schweifen wir kurz ab: Bei Mozarts Klaviersonaten betrifft dies nur seine zwei letzten, KV 570 in B-Dur und 576 in D-Dur. Allerdings ist bei der in B-Dur die Quellenlage ungünstig, der Fall ist aber eindeutig. Bei den Sonaten für Klavier und Violine ist es nur eine: KV 481 in Es-Dur, bei den Klaviertrios keines, bei der Streichquartetten eines: KV 575 in D-Dur. Das bedeutet: Mozart setzt sie bewusst ein. Also sind sie dort, wo sie Mozart geschrieben hat, auch wirklich zu spielen. Allerdings bekommt man sie in Klavier- und Kammermusikabenden sowie auf Tonträgern, auch von prominenten Interpreten, leider selten zu hören. Koželuch, im Gegensatz zu Mozart, bleibt ja konsequent bei diesem Entscheid bis an seinem Lebensende.
Wieder attacca beginnt der zweite Satz der nur zweisätzigen Sonate, ein Rondo im befreienden C-Dur. Der Refrain erscheint einmal in G-dur stark verändert und einmal in c-Moll als kurze Erinnerung an den ersten Satz.
Alles in allem: Die Beschäftigung mit Koželuch lohnt sich nicht nur für Pianisten, sondern auch als interessante Beispielsammlung für das Fach Formenlehre, nämlich das Fach, das alle übrigen Fächer der sogenannten Musiktheorie in sich vereinigt und geeignet ist, einen Bogen zwischen Theorie und Interpretationspraxis zu schliessen.
Könnten wir von dir zum Anfang bitte einen kurzen Abriss von der Geschichte von Intakt Records bekommen? Patrik Landolt: Man kann so anfangen: 1984 habe ich das Taktlos-Festival mitveranstaltet mit Bern zusammen. Da gab es einen Schwerpunkt, Irène Schweizer mit internationalen Gästen wie Joëlle Léandre, Maggie Nicols, George Lewis aus New York, Günter «Baby» Sommer aus Dresden. Ein freies Festival war das, und drei Tage lang hat Radio DRS alles aufgenommen. So hatten wir die Bänder von dem Festival. Wir dachten, am besten machen wir eine Platte um Irène herum. Denn Irène war sehr unterdokumentiert damals. Sie hatte bei FMP Sachen herausgegeben, aber die waren zum Teil in der Schweiz nicht einmal erhältlich. So machten wir die Platte, Irène live at Taktlos, mehr weil die Bänder sonst niemand wollte. Das war der Anfang. Die zweite Platte kam dann relativ schnell. Auch das war eine internationale Sache mit dem gesamten Londoner Jazz Composers Orchestra mit Anthony Braxton.
Warum haben solche Leute ihre Platte von einem Amateur in Zürich herausgeben lassen?
Es war immer so, dass die freie kreative Musikwelt von den grossen Multis nicht herausgegeben wurde. Ein Multi hat in den 70er-Jahren die Loftszene in New York mit einer Serie dokumentiert. Sie hiess Wild Flowers. Die dachten, das wird das grosse Geschäft, und es wurde DER Flop. Sie haben nicht mehr als ein paar hundert von den Boxen verkauft. Das war einer der historischen Momente, wo sich das Big Business vom Jazz verabschiedet hat. Sie merkten, mit dem kann man kein Geld verdienen. Heute ist es klar, die drei verbliebenen Majors haben sich weitgehend von dieser Musik verabschiedet. Was sie schon gar nicht machen, ist Aufbauarbeit von neuen Künstlern. Diese Aufgabe lag schon immer bei kleinen Independents. Vielleicht haben wir dann auch noch besonders vertrauenswürdig ausgeschaut! Es war schon erstaunlich, erstes Album Irène, zweites Album mit LJCO mit Braxton und so, war tolle Sache gewesen.
Du warst kein Rock-Fan?
Das war ich doch auch. Das hat sich nicht ausgeschlossen gegenseitig. King Crimson, da war ich ein totaler Fan. Aber schon im Gymnasium habe ich mich intensiv mit Jazz beschäftigt. Miles, Coltrane, Roland Kirk. Da war ich 15, 16 Jahre alt. Das Roland Kirk-Album mit Beatles-Covers – unglaublich!
Wenn ich mich richtig erinnere, hast du Intakt dann lange Zeit eher als Hobby betrieben, oder?
Genau, als ein Hobby, das sich immer mehr verbreitete. In den frühen Zeiten habe ich noch als freier Journalist gearbeitet, Tagi, Radio, verschiedene Zeitungen. Dann bin ich 20 Jahre Redaktor bei der WoZ gewesen, auch in der Geschäftsleitung. Das hat mir ein bisschen die Energie vom Festival-Organisieren weggenommen. Nach 10 Jahren Taktlos bin ich dort ausgestiegen.
Lang war alles bei dir zuhause. All die Platten sind in deiner Wohnung herumgestanden.
Die ersten Jahre war Intakt im Keller. Ich war jung, hatte kein Geld und darum auch kein Lager. Man musste auch selber alles zuerst lernen und entdecken. Alles war Trial-and-Error. Wir sind die Sache sehr schweizerisch angegangen – sich ja nicht verschulden, ganz kleine Schritte, ein langsamer aber sicherer Aufbau. Langsam wurde ein Back-Katalog entwickelt, und so ist eine gewisse ästhetische Richtung entstanden. Die Vielfalt und Fülle entstand durch langen Prozess, nicht durch einen Businessplan. Heute würde man an einer Hochschule das Entwerfen eines Businessplan erlernen. Bei uns ging es ganz allein von einer Riesenleidenschaft aus. Die ist bis heute geblieben. Alles andere hat man sich mit einer Schweizer Solidität erarbeiten müssen. Buchhaltungskurse absolvieren und so, an der Migros-Abendschule, damit man eine Bilanz verstehen und lesen konnte. Wir hatten von Anfang an auch eine sehr gute Buchhalterin, die hat auf höchstem Niveau gearbeitet. Das ist auch eine Stärke von uns. Das ganze Backoffice ist sehr solid. Musikerabrechnungen müssen transparent sein. Ein wichtiges Kriterium. Ist im Geschäft sehr unüblich.
Wenn du das alles selber erarbeitet hast, hast du sicherlich einiges an Lehrgeld bezahlen müssen. Kannst du dich an frühe Fehler erinnern?
Die allererste Platte steht verkehrt im Gestell. Wir haben sie falsch geleimt. Natürlich zahlt man immer Lehrgeld. Die meisten Fehler sind passiert aus einer Euphorie heraus, dass man zum Teil zu grosse Auflagen gemacht hat aus dem Gefühl heraus, «diese Platte ist so wahnsinnig gut, die wollen alle kaufen». Aber man lernt, dass man Euphorie nicht immer auf die Marktverhältnisse übertragen kann.
Kann man eine Rezeption überhaupt planen?
Vieles kann man nicht planen kann. Auch das war eine wichtige Erfahrung. Gerade im Musikbusiness gibt es viel Kontingenz und Zufälligkeiten. Was ich etwas Positives finde. Man kann Erfolg nicht planen. Auch die grossen können das nicht – fast nicht.
Wie gross waren am Anfang die Auflagen?
Von der ersten machten wir am Anfang glaub ich 2000. Das war noch Vinyl. Mit CD ist es einfacher. Da macht man meistens zwischen 1000 und 2000 Exemplare und druckt dafür mehr Drucksachen. Dann kann man in Tranchen nachpressen. Mit den Drucksachen geht es in 1000er-Schritten, mit CDs in 300er-Schritten. So kann man laufend nachpressen. In der Stadt sind Lager ja unbezahlbar.
Irène Schweizer ist das starke Rückgrat von Intakt?
Sie war von Anfang an dabei, ja. Wir haben ihre Biografie und ihr Leben begleitet über all die Jahre. Wir wohnen auch in der gleichen Stadt. Das finde ich auch noch wichtig, dass wir alle drei hier verwurzelt sind. Darum arbeiten wir auch oft mit Künstlern von hier. Pierre Favre. Lucas Niggli stiess noch früher zu uns als Pierre. Man versucht auch mit Jungen im Gespräch zu sein. Das ist etwas ganz wichtiges, eine gewaltige Herausforderung. Man ist dauernd in Bewegung. Muss sich dauernd mit neuen Sachen auseinandersetzen.
Wie stark ist diese Herausforderung mit der rasanten Entwicklung der Technologie verbunden?
Es ist auf jeden Fall so, dass einen nur schon die ganze Technologie dazu zwingt, am Ball zu bleiben. Wenn man bedenkt, was in der Musik passiert ist in den letzten 30 Jahren! Von Vinyl über CD über Downloads, dann Download in MP3-Qualität, gefolgt von CD-Qualität und jetzt sogar HiFi-Qualität. Rein schon die technologische Entwicklung zwingt einen zu einer unglaublichen Wachheit und Auseinandersetzung.
Wie gross ist der Anteil von Streaming bei den Verkäufen von Intakt? Ich könnte mir vorstellen, dass das Intaktpublikum ein klassischer Fall ist von einem Publikum, das noch etwas in der Hand haben will.
Ja, aber es läuft alles parallel. Allein in Amerika haben wir glaub ich 70 000 bis 80 000 Verkaufskontakte, und dazu gehören auch Streams. In den USA läuft unser Vertrieb über Naxos und Naxos Archive. Dieses kann man benützen, wenn man einen monatlichen Betrag zahlt. Wenn sich da jemand etwas von uns anhört, wird es auch als Kontakt registriert. Auf der anderen Seite haben wir in den letzten Jahren auch vom Katalog her einen Generationenwechsel durchgemacht. Wir verlegen heute viele viel jüngere Künstler, auch aus grenzüberschreitendenden Bereichen am Rande von Rock und Elektronik.
Ist die Verwurzelung von Intakt in Zürich auch dafür verantwortlich, dass diese stark ist?
Ja, man hat diese Musik hier vielleicht ein bisschen mehr gepflegt. Das hat auch einen Nachteil. Andere meinen, sie müssten nichts mehr machen, weil wir es machten.
Hat die Szene ihre Stammlokale?
Jahrelang hat das die Rote Fabrik gemacht. Das Unerhört Festival, an welchem Intakt beteiligt ist, findet in verschiedenen Locations statt, im Theater am Neumarkt oder im Rietberg. Auch in Altersheimen und verschiedenen Schulen organisieren wir Konzerte. Die älteren Semester sind zum Teil bestens informiert, sie haben Ansprüche, da kann man nicht einfach einen Studenten von der Jazzschule schicken! An den Gymnasien ist es dasselbe. Da bringen wir das Beste. Die merken sofort, wenn etwas nicht stimmt.
Wie viele junge Musikfans kommen an diese Veranstaltungen?
Im Stadelhofen kommen 300 bis 500. Es hängt von den Lehrern ab. Es ist ihnen freigestellt, aber zum Teil kommen ganze Klassen. Zum Beispiel hat eine Geschichtslehrerin vor dem Auftritt von Oliver Lake und William Parker zu den Schülern gesagt, der Besuch sei ihnen freigestellt, sie könne ihnen auch eine Aufgabe geben. Sie selber werde das Konzert bestimmt besuchen, denn von diesen Männern erfahre sie mehr über amerikanische Geschichte als aus allen Büchern.
Heute ist Intakt international zwischen New York und London und Deutschland extrem gut vernetzt. War es nicht wahnsinnig schwierig, von Zürich aus nützliche Beziehungen anzuknüpfen?
1988 nahm ich ein Sabbatical von der WoZ, fünf Monate New York. Da bin ich natürlich an all die Konzerte gegangen. Habe den Vertrieben einfach angeläutet. Habe mit meinem rudimentären Englisch versucht, ein Gespräch zu führen, bin sie dann auch besuchen gegangen.
Kann man sowas allein machen?
Es ist sicher eine lebenslängliche Leidenschaft, die man nur als Team machen kann. Wichtig ist an diesem Team, dass es dich quasi perspektivisch überdauert. Wenn man diese Wand anschaut mit all den CDs, da stehen ja unglaubliche künstlerische Werte. Die Urheberrechte. All die Aufnahmen. Jetzt sind wir bei 280 Titeln. Das sind 280 Werke, die es vorher nicht gegeben hat. Wir helfen mit, Musik zu schaffen und Realität zu schaffen. Und die steht dann da. Das Ziel ist natürlich, dass man als Verlag Verbreitung schafft und in die Zukunft trägt. Eine Irène Schweizer wurde letztes Jahr 75 Jahre alt und hat einen grossen Teil ihres Werkes bei Intakt veröffentlicht. Damit ist eine Riesenverantwortung verbunden. Was passiert, wenn ein Künstler gestorben ist? Wie bei Werner Lüdi, von dem wir auch eine wunderschöne CD haben, die immer noch im Katalog ist. Das ist eine grosse Verantwortung, die öfters einen einzelnen Verlag überfordert, wofür man vielleicht irgendwann die Hilfe einer Öffentlichkeit oder von Stiftungen braucht, damit die Pflege der ästhetischen Werte und die Verbreitung der Musik weiter garantiert werden kann.
Ich glaube du hast Preise gewonnen? Was für Preise?
Der erste war von der Suisse Culture, Dachverband aller Kulturschaffenden, ein sehr grosser Preis, ein ehrenvoller Preis. Denn dieser Verband zeichnet Kulturvermittler aus. Traditionell gibt es da immer Reibungen zwischen Künstlern und Vermittlern. Bei Labels erst recht, wenn man früher die Geschichten gehört hat wie die Schwarzen ausgenützt wurden. Sie haben einen Vertrag unterschrieben und damit alle Rechte abgegeben und dafür vielleicht 50 Dollar bekommen. Oder eine Flasche Whisky.
In der Schweiz ist die Förderung von Musik in der Art von Intakt ziemlich gut organisiert, oder täusche ich mich da? Ich habe den Eindruck, man wird etwa von den Engländern in dieser Hinsicht ziemlich beneidet?
Von aussen mag das wohl so aussehen. In meinen Augen ist die Infrastrukturförderung nicht gut. Im Bereich Buch hat der Bund erkannt: Wir müssen die Buchproduktion fördern, sonst geht plötzlich eine seit mehreren Jahrhunderten gewachsene Kultur zu Grunde. Im Bereich Musik-Produktion ist man noch nicht so weit. Gerade ist bekannt geworden, dass nun auch noch die Migros ihre Labels eingestellt hat. Hinter der Haltung steckt ein falsches Denken. Es reden immer alle von einer CD-Krise. Dabei gibt es diese gar nicht. Es gibt nur eine Krise vom Mengengeschäft. Es werden heute mehr CDs produziert und verkauft denn je. Aber heute hat man nicht mehr die 100 000er Auflagen. Die Vielfalt ist dafür massiv gestiegen. Kommt noch dazu, dass die CD bloss eine Form von Tonträger ist, nebst Vinyl, Downloads in verschiedener Qualität, und Streams. Die Bedeutung ist massiv vorhanden. Die Art der Verbreitung aber hat sich ausdifferenziert in ganz verschiedene Formen. Es wird heute gleich viel Musik gehört wie in den 90er-Jahren, als das CD-Geschäft boomte. Wer sagt, die CD habe heute an die Bedeutung verloren versteht nichts vom Geschäft. Und es gibt viele Förderstätten, die sagen, wir streichen die CD-Unterstützung, denn die steckt ja in einer Krise. Dahinter steckt eine vollkommene Verkennung von Musikproduktion. Musiker müssen immer noch ins Studio zum Aufnehmen, zum Schneiden und Mastern, und auch wenn man die Resultate als Download verbreitet, braucht es immer noch Marketing und Werbung.
Fast alle Alben, die Du herausgegeben hast, sind noch im Katalog. Gibt es Platten, die Du bereust und darum herausgenommen hast?
Nein, selbst wenn ich selber sie vielleicht nicht mehr anhöre. Es ist sowieso immer noch ein Zeitdokument. Oder es ist für den Künstler ein Teil der Biografie. Und das ist ja ganz wichtig, dass man das Werk und den Wert der Arbeit eines Künstlers immer im Zusammenhang des Gesamtwerks anschaut. Eine Irène Schweizer kann man nur verstehen, wenn man das Gesamtwerk anschaut. Wenn man nur ein Soloalbum nimmt, vor allem noch eines der ganz frühen, wo sie ganz frei spielt, da begreift man den künstlerischen Wert späterer Werke nicht. Man muss den Kontext anschauen und die einzelne Produktion im Werkkontext sehen. Das ist heute wichtiger denn je.
Wie ist die internationale Rezeption von Irène Schweizer heute?
Letztes Jahr in Schaffhausen ist sie anlässlich ihres 75. Geburtstages live aufgetreten, das kam in der Tagesschau. In Amerika würde sie wohl grosse Räume füllen, aber sie reist nicht gern. Und dann muss man noch Arbeitsvisa haben. Es ist für den Schweizer und europäische Künstler nicht einfach, in den USA aufzutreten. Was der Trump heute programmiert mit der Abschottung des Marktes ist schon seit eh und je so.
Wie ist das Verhältnis von Schweizer und internationalen Künstlern, die auf Intakt erscheinen?
Zwischen einem Drittel und der Hälfte sind Schweizer Künstler. Das reflektiert die Stärke der Szene. Aber wir streben eine Balance an. Auch Gender und Race sind ein Kriterium. Schwarze African-Americans wollen wir haben, denn das ist die Basis der Musik. Gerade diese neue Platte hier vom Trio 3, da hört man schon den Gesichtern die Musik an. Die Geschichte ist ihnen ins Gesicht geschrieben. Es ist uns auch wichtig, viele Musikerinnen im Programm zu führen. Das sieht man auch dem Londoner Festivalprogramm an.
Wie hat sich dein Geschmack und der Geschmack der Szene verändert über die 33 Jahre Intakt hinweg? Kann man Phasen mit anderen Auswahlkriterien unterscheiden?
Man folgt natürlich den Künstlern. Sie sind unsere Botschafter und auch unsere Verwandten. Sie sind viel unterwegs, es kommt immer mal wieder einer und sagt: Hast du das gehört? Und dann sind wir ein Team. Der Einfluss von Anja und Flo ist im Katalog hörbar. Und wir sind auch Kinder des Zeitgeistes. Wir sind zwar nicht modisch, aber es gibt schon auch Stimmungen, die wir absorbieren. Ich möchte glaube ich nicht mehr einfach so ein Free Jazz-Konzert wie in den 60er- und 70er-Jahren auf CD herausgeben. Weil das nicht mehr so zur heutigen ästhetischen und geistigen Verfassung passt.
Kannst Du das genauer erklären? Was ist anders geworden?
In den 60er- und 70er-Jahren ging in Zürich alles um elf Uhr zu. Man durfte nicht im See baden. Alles war so reglementiert und bürgerlich verklemmt. So waren in der Zeit in der Avant-Garde Faktoren wie Provokation, Tabu-Bruch, Collage, das Neue finden, ganz wichtige Elemente. Ein Lucas Niggli ist ganz anders. Einer wie er kann das auch, Provokation, Geräusche, Neues und alles. Aber im Gegensatz zu den Vorgängern muss er nicht mehr das Alte zerstören, um auf eine neue Ebene zu kommen. Dazu kommt heute hinzu, dass Gestaltungsmittel, die damals von der Ästhetik der Avant-Garde angewandt wurden, von der extremen Rechten benützt werden. Ein Trump macht ja nichts Anderes als Schock und Provokation. Köppel. Die Nationalisten, die SVP, sie leben von der Provokation, von Tabu-Bruch. Die Ästhetik hat das schon vor 15 Jahren reflektiert, dass das nicht mehr der Weg ist, das Neue zu verbreiten. Heute ist vielleicht auf der Bühne der gewaltfreie Diskurs, der freundliche Umgang miteinander mehr im Mittelpunkt als eine Provokation.
Wie viele CDs gibst du pro Jahr heraus?
18 waren es letztes Jahr, heuer 19 oder 20.
Sind alle Künstler exklusiv an Intakt gebunden?
Es gibt auch Künstler, mit denen wir eine Abmachung haben, dass wir bestimmte Projekte mit ihnen verfolgen. Künstler sind ja heute sehr produktiv, das müssen sie auch sein. Konzertkünstler brauchen vier, fünf Parallelprojekte zum Überleben. So teilen wir viele Künstler mit anderen Labels und anderen Projekten. Mit der Exklusivität ist es nicht mehr wie früher.
Welche Projekte erfüllen Dich mit besonderem Stolz?
Viele! Es wäre einfacher, über Jahrgänge zu reden. Letztes Jahr war es sicher die deutsche Saxofonistin Angelika Niescier mit ihrer New Yorker Band. Oder Barry Guy mit Blue Shroud, der Versuch, eine politische Reflexion zu machen, eine Antikriegsproduktion eigentlich, aber nicht plakativ, sondern auf höchstem ästhetischen Niveau. Und das Gesamtwerk von Irène Schweizer natürlich. Die acht oder neun Alben, die wir dem London Jazz Composers Orchestra gemacht haben. Und hier, das ist eine CD, auf die wir auch ganz stolz sind. Sie stammt vom Trio Heinz Herbert. Das sind die Jüngsten bei uns, denen ist ein ganz toller Wurf gelungen. Da merkt man, es sind wahnsinnig gute Jazz-Musiker, aber sie haben auch eine Ästhetik von Sound und Elektronik. In Willisau haben sie abgeräumt!
Nochmal zurück zu den vielen Parallelprojekten, die ein Künstler braucht – besteht da nicht die Gefahr, dass durch die pure Menge die Konturen verloren gehen?
Das hat sicher mit der Ästhetik der Zeit zu tun. Im Jazz hat’s früher einen klaren linearen Ablauf gegeben. Coltrane, dann Miles Davis, dann Fusion, dann Free Jazz. Heute herrscht eher eine Parallelität der Diversität. Wir haben in der Schweiz sechs Jazz-Schulen auf Hochschulniveau. Jedes Jahr ergibt das 150 Masters-Studentenabschlüsse, 150 Berufs-Jazz-Musiker. In zehn Jahren 1500. Das heisst, das Niveau ist wahnsinnig gestiegen. Es hat eine wahnsinnige Vielfalt von guten Musikerinnen und Musikern. Dass die produzieren wollen ist klar. Wir haben im Jahr mehr als 1000 Anfragen für Publikationen! Es gibt kaum mehr Verlage mit internationalem Netz, weil der Markt das nicht trägt. Dabei ist interessant, dass wir als Europäer auch noch die besten Amerikaner produzieren. Es gibt in den USA viel zu wenig Möglichkeiten mehr. In den USA ist alles so stark auf den Markt ausgerichtet, wenn es der Markt nicht trägt, macht es niemand.
Wie ist das Verhältnis heute von Verkäufen, CD, Vinyl, Download?
Julian Sartorius hat von seinem Album eine kleine Vinyl-Auflage von sich aus gemacht. Der digitale Verkauf ist massiv am Steigen. Ich würde sagen, in den letzten 3, 4 Jahren ist er von 3% auf 10% gewachsen. Das Problem besteht darin, dass die Verkäufe zu billig weggehen. Downloads sind zu billig. Der Zwischenhandel, das sind ja nur noch Maschinen, bekommt zu viel. Letztlich bleibt zu wenig beim Verlag und beim Künstler. Beim Streaming ist das erst recht so. Das ist legalisierter Diebstahl.
Ist es nicht unabdingbar für die Musikwelt im Allgemeinen, dass ein Weg gefunden wird, Streaming auf eine Art und Weise zu monetarisieren, die für Künstler, Produzenten und Labels fair ist?
Das ist die Hoffnung. Ich bin mir da nicht so sicher. Vielleicht wird es ähnlich laufen wie bei den Printmedien, wo wir eine wahnsinnige Ausdünnung erleben. Wo vieles eingeht und damit enorm viel Wissen verschwindet. Es findet eine Kulturzerstörung statt, die vielleicht in der Zukunft ganz neue Finanzierungsformen erzwingt. Die Gesellschaft muss sich überlegen: Wollen wir überhaupt noch Musikproduktionen? Eine Oper würde auch nicht stattfinden. Wenn sich eine Oper selber bezahlen müsste, gäbe es vielleicht noch eine Oper in Amerika und auch die würde nicht vom Markt, sondern von Sponsoren und Mäzenen finanziert. Das Marktprinzip, das immer proklamiert wird, ist eine ganz grosse Lüge und funktioniert in diesen Sachen auch überhaupt nicht. Es ist auch unsere Aufgabe als Verleger, Künstler, Lehrer, von Schulen und Förderungsinstitutionen, nachzudenken: Was wollen wir an Musikproduktionen? Wie können wir es finanzieren? Wie können wir es uns leisten? Auch Pro Helvetia hat meiner Meinung nach darüber zu wenig nachgedacht. In erster Linie wird der Künstler unterstützt. Das finde ich eigentlich auch richtig, aber es ist das aristokratische Modell. Der Fürst streichelt dem Künstler über den Kopf, sagt, du bist der Grösste, und gibt ihm Geld. Dann kommt der Künstler zu uns und sagt, ich sollte jetzt eine Platte machen. Wunderbar, aber wie bezahlt man das?
Wäre die Verwendung von Crowd-Funding eine Lösung?
Das geht für einzelne Projekte. Wir bieten ein Abonnement an, das ist auch eine Form von Crowd-Funding. Die Kunden zahlen einen bestimmten Betrag und bekommen dafür im Jahr sechs CDs im Jahr. Im Moment haben wir mehrere 100 Abonnenten. Das bildet für uns eine wichtige finanzielle Basis.
Wie hast Du die Programmauswahl fürs Vortex-Festival getätigt?
Wir haben einerseits versucht, schweizerische und englische Künstlerinnen und Künstler in Verbindung zu bringen. Andererseits ist die Dramaturgie daraufhin ausgelegt, dass jüngere Acts an der Seite von bekannteren Künstlern auftreten. So gibt es immer zwei Acts pro Abend. Der Vermittlungsaspekt war uns sehr wichtig. Dass Musiker sich kennenlernen. Dass Julian Sartorius mit Steve Beresford spielt ist wirklich ganz toll. Oder Omri Ziegele mit Louis Moholo – grossartig!
Der Klarinettist Antony Morf (1944-2016) und der Komponist Walter Furrer (1902-1978) dürften sich anlässlich der Jahresversammlung des Schweizerischen Tonkünstlervereins 1974 kennengelernt haben.
Beatrice Wolf-Furrer
- 25. Jan. 2017
Auf das Deckblatt des Manuskripts Nahtegal, guot vogellin – es handelt sich um eine kleine Komposition für Kammerchor sowie vier Instrumente (Viola, Gitarre, Blockflöte, Tamburin) nach einem mittelhochdeutschen Text des Berner Minnesängers Heinrich von Stretelingen, die am 24. Mai 1975 von Studio Radio Bern ausgestrahlt wurde – hat Walter Furrer die handschriftliche Widmung «Für Herrn Morf» gesetzt.
Darauf aufmerksam gemacht hat mich die Lautenistin Irina Döring. Sie war Teilnehmerin des vom Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Bern im Wintersemester 2016 veranstalteten Seminars Den Schweizer Komponisten Walter Furrer vor dem Vergessenwerden bewahren (Leitung: Frau Prof. Dr. Cristina Urchueguía; Schwerpunkte: Musik nach 1600 / Editionsphilologie) und befasste sich mit dem genannten Werk.
Allein schon wegen der Seltenheit des Namens war es nicht allzu schwer, herauszufinden, wer sich dahinter verbarg. Nach einer Anfrage bei dem Berner Musikerehepaar Adrian und Helene Wepfer stand fest, dass es sich um Antony Morf handeln musste, der einige Jahre Erster Klarinettist des Berner Symphonieorchesters war. Da er in dieser Funktion später u. a. auch in Basel wirkte, setzte ich die Recherche beim Sinfonieorchester Basel fort und gelangte über einige Umwege schliesslich zu Herrn Cardinaux, einem Schüler Antony Morfs, und über diesen schliesslich zu Frau Dorothee Morf, der Witwe des Künstlers.
Während eines Gesprächs, das ich am 1. Dezember 2016 in Basel mit ihr führte, erhielt ich Einblick in die Biografie von Antony Morf und erfuhr auch, dass er und Walter Furrer einander begegnet sind. Allerdings muss ich schon jetzt einschränkend festhalten, dass diese Informationen ziemlich summarisch sind und somit keine charakteristischen Einzelheiten aufweisen. Das hängt damit zusammen, dass Antony Morf, obwohl ein gefragter, weit herum bekannter Orchester- und Solomusiker, von einer prononcierten Bescheidenheit war und daher bewusst nichts für die «Nachwelt» aufbewahrte. Hinzu kommt, dass auch im Nachlass Walter Furrers, von der erwähnten Widmung abgesehen, bisher keine schriftlichen Vermerke zu Antony Morf aufgetaucht sind.
Antony Morf wurde am 16. Juni 1944 in Genf geboren, besuchte dort das Gymnasium und hatte schon früh Klarinettenunterricht: So war er von 1958 bis 1963 am Genfer Konservatorium Schüler des holländischen Klarinettisten Léon Hoogstoël. Dort erwarb er das Lehrdiplom und gewann den Ersten Virtuosenpreis, anschliessend war er eine Zeitlang Privatschüler von Ferenc Hernad (Lugano). In der Folge erspielte er sich bei internationalen Musikwettbewerben mehrere Preise, so 1967 den Dritten Preis in Genf und 1970 den Ersten Preis in Budapest.
Von 1965 bis 1970 war er Mitglied des Quintette à vent romand. Er wirkte als Erster Klarinettist in mehreren Schweizer Sinfonieorchestern mit, von 1968 bis 1972 in Bern, anschliessend in Zürich sowie in Genf. 1978 wechselte er zum Sinfonieorchester Basel, wo er bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2006 tätig war. In der Saison 1972/73 wurde er als Solist der Abonnementskonzerte in Bern und Lausanne gefeiert. Dazwischen führten ihn viele Konzertreisen – als Solist sowie als Orchestermusiker – nach Paris, Monaco, Salzburg (Festspiele), Prag und Budapest. Er arbeitete mit den führenden Dirigenten seiner Zeit – Armin Jordan, Charles Dutoit u. a. – zusammen und wurde auch durch zahlreiche Plattenaufnahmen – so zum Beispiel bei der Firma Erato – bekannt; die Platteneinspielung von Igor Strawinskys Histoire du soldat wurde mit dem Grand Prix du disque ausgezeichnet. Antony Morf starb am 26. Mai 2016 in Basel.
Das Zusammentreffen mit Walter Furrer sei, so Frau Morf, am 18. Mai 1974 anlässlich der Jahresversammlung des Schweizerischen Tonkünstlervereins, dem Walter Furrer seit 1952 angehörte, zustande gekommen. Antony Morf gewann damals den mit 5000 Franken dotierten Ersten Preis. Irgendwie müssen die beiden einander spontan sympathisch gewesen sein. Wie mir Frau Morf sagte, verfügte ihr Mann, ebenso wie Walter Furrer, über eine fundierte literarische Bildung sowie – und darin liegt eine ausgesprochene Wesensverwandtschaft – über einen angeborenen Sinn für skurrile Komik; Honoré Daumier zählte zu seinen Lieblingskünstlern.
Somit dürften sich die beiden Musiker ungeachtet des Altersunterschiedes von vornherein gut verstanden haben. Ich füge aus eigener Kenntnis hinzu, dass Walter Furrer wegen seiner zweiten Heirat mit seinem eigenen Sohn, der die neue Frau nicht akzeptierte, zerstritten war. Er litt sehr unter dieser Entfremdung, und es wäre durchaus denkbar, dass er den jungen Klarinettisten als eine Art «Wahlsohn» erlebte. So gesehen, könnte man die eingangs genannte Widmung als eine spontane Sympathiekundgebung einstufen.
Ich danke Frau Morf herzlich für das Gespräch und die dabei vermittelten wertvollen Informationen. Mein Dank geht auch an den Schweizerischen Tonkünstlerverein in Lausanne, wo ich mir am 22. Dezember 2016 mit Hilfe des Geschäftsführers Johannes Knapp zusätzliche Notizen zu Antony Morf machen konnte
Musik mitteilen: offene Kompositionen von Max E. Keller
Einige frühe Stücke von Max E. Keller eignen sich als Beispiele für offene Kompositionen für mitschaffende Musikerinnen und Musiker. Der dänische Musikwissenschaftler Carl Bergstrøm-Nielsen zeigt ihre Strukturen, Notationsweisen und Zusammensetzungen auf und weist Bezüge zu späteren Werken nach.
Carl Bergstrøm-Nielsen
- 24. Jan. 2017
Neue Musik nach dem zweiten Weltkrieg war anfänglich detailliert auskomponiert, wenigstens bei uns in Europa. Es dauerte jedoch nicht lange, bis verschiedene Formen von Offenheit in der Aufführung kamen. Die Entwicklung bei Stockhausen ist ein anschauliches Beispiel dafür und bietet einen ganzen Katalog von Verfahrensweisen: Zeitmasse von 1956 operiert mit «Unschärfegraden» im Tempo. Klavierstück XI von 1958 besteht aus vielen kleinen Abschnitten, die in nicht zuvor festgelegter Folge gespielt werden müssen, und ihre Inhalte sind auch variabel gemäss dem zuletzt gespielten Abschnitt.
In den späten Sechzigerjahren wurde die Offenheit radikal: Prozession von 1967 und eine Reihe weiterer Werke bedienten sich einer einfachen Notation, aus Plus- und Minuszeichen bestehend. Sie stand für bis vier frei gewählte, jedoch konsequent durchzuführende, gleichzeitig stattfindende Parameteränderungen. Schliesslich bestanden die beiden Sammlungen Aus den Sieben Tagen und Für kommende Zeiten (1968 und 1976 publiziert) hauptsächlich aus Texten. Verbale Mittel können Material be- oder umschreiben, traditionelle Formsequenzen oder auch individuelle, zyklische Formeln festlegen und vieles mehr.
Wer vorbringen will, dass es damals zwar eine Fülle von solchen Experimenten gegeben habe, sie seien aber eine Kuriosität der Geschichte geblieben ohne grosse praktische Bedeutung, der irrt sich. Zwar können die Sechziger- und Siebzigerjahre als «goldenes Zeitalter» dafür erscheinen, doch weitergehende Konsequenzen zeigten sich erst allmählich, jenseits von Sensation und Mode. (1 Anmerkungen siehe unten) Einige Komponisten machten daraus eine Spezialität. John Zorn etwa wurde in den Achtzigerjahren zur Kultfigur mit seinen Game Pieces, Cobra insbesondere. Sie waren vor dem Hintergrund von Christian Wolffs Kompositionen entstanden, die u. a. auf Interaktion zwischen den Spielern bauten. (2) Das Gesamtbild der Strömungen wurde komplexer. (3)
Obwohl improvisatorische Aufführungspraxis in Neuer Musik nicht überall üblich ist, sind doch Ensembles wie das Berliner Splitter Orchester (4), Zeitkratzer oder das Ensemble Modern bekannt. Die Literaturhinweise zu diesem Artikel deuten schon an, dass seitdem auch etwas geschehen ist, kompositorisch wie in der Forschung. Die Notenbeispiele von insgesamt 165 Autoren im Buch Notations 21 wurden sogar meistens im neuen Jahrtausend geschaffen. (5) Neuere Besprechungen sind Nonnenmann (2010) über Mathias Spahlingers Doppel Bejaht, und Neuner (2013).
Improvisation hat sich als eine experimentelle Praxis neben der Komposition ausgebreitet. Das gilt einerseits im Konzertleben: Eine gar stürmische Debatte trug sich zu in der Schweiz im Jahre 2010. (6) Andererseits wird Improvisation jetzt auch in den Musikhochschulen implementiert. (7) So kommt denn auch dem ganzen Zwischenbereich von Übungen, Absprachen, Konzepten ein erneuertes Interesse zu. Oder sagen wir einfacher: der offenen Komposition. Es geht ja um die Verwendung kompositorischer Verfahren in einem neuen Kontext von Aufführungspraxis. (8) Das Neue an der historischen Situation, jetzt, 60 Jahre nach Stockhausens Zeitmasse, könnte sein, dass die Integration von Improvisation und Komposition üblicher geworden ist. Der Komponist ist nicht mehr das einsame Genie. Teamwork, ein gewisses kollektives Räsonnieren und Handeln, ist selbstverständlicher geworden, wie ja auch in der Gesellschaft überall.
Neulich wurde in MusikTexte ein Artikel über die Kompositionen von Max Eugen Keller publiziert. (9) Die frühen Kompositionen für Improvisatoren wurden da indessen nicht behandelt. Den vorliegenden Artikel kann man daher als eine Ergänzung lesen oder einfach als eine Präsentation von Beispielen offener Kompositionen vornehmlich aus der Zeit um 1970. Es findet sich bei Keller eine Fülle von Strukturen, Notationsweisen und Zusammensetzungen, wie ich im Folgenden auszuführen versuche. Es werden im folgenden nur die Spielpläne wiedergegeben und einiges mehr referiert – die vollständigen Versionen mit sämtlichen Erklärungen kann man bei IIMA im Internet lesen: http://intuitivemusic.dk/iima/mk.htm
Psychogramm
Der Ausführende soll während dem Spielen frei zwischen den 22 beschriebenen Verhaltensweisen wechseln. Die 4 grossgeschriebenen Wörter geben Ausgangspunkte an, die z. B. nützlich für den Anfang sein können. Grossformal haben wir es hier also mit einem aleatorischen, kaleidoskopischen Verlauf zu tun. (10) Es gibt eine endliche Zahl von Elementen, die von allen benutzt werden, unabhängig voneinander und in unvorhersehbarer Reihenfolge. Doch ist eine oft vorkommende Wiederkehr von Elementen wahrscheinlich.
Viele Instruktionen beschreiben musikalisches Verhalten, geben dabei nichts konkret Klingendes an, sondern beschreiben Relationen. Sie sind oft anderen Musikern entgegengesetzt, viele beschreiben aber auch das Unterordnen. Einige wenige befinden sich in einem quasi neutralen Mittelbereich, so besonders «Vermittle zwischen Kontrasten».
Der ästhetische Fokus richtet sich auf Konflikte und Kontraste, deren Formen in der Musik systematisch zugelassen und erforscht werden. Das Element «Pendle zwischen Kontrasten, ohne zu vermitteln» kann emblematisch dafür stehen. Die herkömmliche Praxis von Melodie und Begleitung wird nicht abgeschafft, aber sie bekommt die Möglichkeit des Kontrastierens zur Seite gestellt. Das kann man als eine Wiederentdeckung von Polyfonie bezeichnen. Sie wurde ja historisch vom harmonischen Denken in Akkorden, Melodie und Bass verdrängt. Ein Begriff wie «Imitation» deutet doch auf Formen menschlicher Kommunikation hin. Emotionalität kommt hier auch unvermeidlich ins Spiel, vergleiche auch den Titel des Stückes. Aber nicht um das einsame, expressionistische Individuum geht es hier: Affekt wird umgedeutet ins Soziale.
Die 22 Elemente lassen sich in ein Kontinuum oder, vielmehr, in mehrere einordnen, je nach Interpretation. Das könnte ein Kontinuum sein zwischen Selbstbehauptung und Unterordnung, zwischen –Gegensatz und Angleichung oder auch anderem. Das Denken in Kontinua war historisch eine Entdeckung der Serialisten. Wie Melodien Skalentöne umstellten, so konnte man dieses Prinzip auch in anderen Dimensionen verwenden. Das gilt zum Beispiel in Gesang der Jünglinge von Stockhausen für den Klang, der sich auf einer vorgestellten Linie, einem Kontinuum, zwischen elektronischen Klängen und Knabenstimmen scheinbar ganz zwanglos und «frei» bewegt. Die Methode dient so der Differenzierung und Integration des Materials.
Eine weitere Instruktion in den Erklärungen zu Psychogramm, die auch zur Differenzierung beiträgt, schreibt vor, dass die Spieler kontinuierliche Übergänge oder auch Sprünge zwischen den Elementen machen dürfen.
Stück für Improvisatoren
Die Grossform hier ist nicht aleatorisch, sondern sequenziell und bogenartig. Nach dem freien Spiel werden zuerst weitere Sektionen mit unterschiedlichem Material definiert, insgesamt 13. Dabei erreicht der Prozess ein Maximum an detaillierter Bindung in K und endet danach in N wieder im «freien» Spiel.
Der Prozess beruht auf Heterofonie: Das heisst hier, dass alle denselben Ablauf spielen, jedoch jeder in seiner eigenen Ausformung und in seinem eigenen Tempo, so dass die Übergänge fliessend werden. Strategisch ist es, dass die Sektionen klar unterschiedlich sind. Nur durch hörbares Feedback unter den Musikern wird die Koordination möglich.
cum processio tum missa non est…
Die Grossform entwickelt sich fort aus einer anfänglich als relativ einheitlich erkennbaren Mischung, «thematische Struktur» genannt (die innerste Zone mit a), b) und c)). Die Entwicklung unterliegt zuerst Regeln, die eine Einheit im Übergang von der einen zur jeweils nächsten Zone gewährleisten, daher werden in Zone 2 und 3 neue Regeln eingeführt. Nur das letzte Stadium, Zone 4, ist ganz ad libitum. Der Prozess wird zunehmend differenziert oder auch labyrinthisch. Eine bogenartige oder zyklisch-formelhafte Rückkehr zu früher gespieltem Material ist auch möglich, gewissen Regeln und den Pfeilen folgend.
Heterofonie ist hier wieder ein strukturell tragendes Prinzip (= alle bewegen sich in ähnlicher Weise mit Variationen). Sie wird aber auch überlagert vom Labyrinthischen, das aus dem Gebrauch unterschiedlicher, aleatorischer Elemente resultiert (= alle können einander in den späteren Stadien kontrastieren). Immerhin sind die aleatorischen Elemente innerhalb ihrer drei Kategorien in den zwei ersten Zonen einander deutlich ähnlich, so dass vorab eher eine Variation des schon Dagewesenen als völliger Kontrast erzeugt wird.
Minima
Wie in Psychogramm wechseln die Spieler hier individuell zwischen Elementen, die in diesem Stück aber frei grafisch notiert sind. Doch zeigen die Nummern über den Elementen die Dauer an: 1 = möglichst kurz, 5 = möglichst lang. Der Kontinuums-Gedanke ist auch hier am Werk und verhindert, dass die Elemente eine standardisierte Länge bekommen. Für eine ähnliche Variation der Pausenlängen ist auch gesorgt: Nach jedem Element macht der Spieler eine Pause, deren Länge dem Kreis entnommen wird. Die Nummern darin werden auf der gleichen Weise wie zuvor gedeutet. «A» und «E» zielt auf Zusammenfälle mit Anfang oder Ende von Elementen anderer Spieler, sofern «einigermassen zwanglos» möglich. Ausserdem gilt generell: «Das klangliche Ergebnis soll eine sehr dünne, durchsichtige Musik sein».
Minima ist relativ einheitlich im Klang und kontrastiert dadurch die anderen Stücke. Aber Variation in der polyfonen Dichte ist strategisch sehr wichtig. Der Komponist sichert sich durch die systematisch variierte Festlegung der Längen von Elementen und Pausen, dass nicht alle zur gleichen Zeit spielen und dass Pausen so oft und so variiert vorkommen, dass die Zahl der aktiv Spielenden ständig variiert. Dabei kann man auch damit rechnen, dass selbst bei derselben Dichte verschiedene Konstellationen von Spielern auftreten, was auch zur Variation beiträgt.
Zusammenfassende und perspektivierende Bemerkungen
Kompositorische Analyse und Ausarbeitung
Diese kleine Auswahl von vier Stücken umfasst Extreme von klanglich vehementen Interaktionen in Psychogramm bis hin zu den dünnen, durchsichtigen Klängen aus dem Reduktionismus von Minima. Dagegen sind Stück für Improvisatoren sowie cum processio … eher eklektisch im Material. Menschliche Interaktionsformen, Wechsel von Stadien, die von allen Spielern «karawanenartig» durchwandert werden, labyrinthischer Prozess und sensitive Variation in der polyfonen Dichte sind ausgewählte kompositorische Aspekte. Die Stücke sind nicht auskomponiert im Sinne von Detailliertheit auf der Mikroebene – wohl aber in dem Sinne, dass sie auf Ideen beruhen, die kompositorisch ausgewertet und dann systematisch ausgearbeitet wurden. Die 22 Interaktions-Elemente in Psychogramm und die 27 grafische Elemente in Minima sind immerhin Beispiele einer Detailliertheit, die weitgehend genügt, um eine Fülle von Möglichkeiten deutlich zu suggerieren.
Notation und wie sie die Form mitdefiniert
Text spielt eine grosse Rolle in der Notation dieser Auswahl. Mit verbalen Mitteln kann man bestimmte Klänge bezeichnen, auch solche, die jenseits der zwölf Töne liegen, z. B.: «Zw. zwei Farben kontinuierlich abwechseln.» Man kann aber auch Relationen beschreiben zwischen Klängen oder zwischen Musikern, wie dies so prominent der Fall in Psychogramm war. Anders als mit Wörtern hätte man sie doch kaum definieren können. Und mit Noten wären zwar Nachahmungen von Affekten und Reaktionen möglich – aber um den Preis der Lebendigkeit.
Freie Grafik ist auch in zwei Stücken von Bedeutung (Minima und cum processio). Freie Grafik verstehe ich hier im Unterschied zu formalisierten Zeichensystemen. Man denke etwa an die Plus-Minus-Notation von Stockhausen, was das Formalisierte betrifft. (11) Doch ist es hier auch relevant zu bemerken, dass schon das Layout ein wichtiges Mittel zur Formalisierung ist. Die einfache, lineare Sequenz in Stück für … wird den gleichberechtigten, aleatorischen Elementen in Psychogramm und Minima und zugleich der konzentrischen Struktur in cum processio gegenübergestellt.
Detaillierte oder konzise Vorlage
Weil diese vier Stücke eine weitere Entfaltung durch improvisatorische Mitwirkung seitens der Musiker voraussetzen, sind sie kurz und konzis, leicht zu lesen und zu überblicken – egal, ob sie nun «Konzepte» oder «offene Kompositionen» heissen sollen. (12) Wenn eine in allen Details ausgearbeitete Version nicht mehr gefordert wird, dann kann das Werk, wie der französische Komponist Jean-Yves Bosseur formuliert, zu «einem starken Organismus, mit seinen vollen Potenzialen» werden. (13) Eine in allen Details ausgearbeitete Version würde nach diesem Gedankengang «weniger» bieten, weniger Diversität der möglichen Versionen. (14) Der österreichische Komponist Christoph Herndler (2011) ist hiermit ganz auf einer Linie: Wenn es um die schriftliche Form geht, ist es sein Ziel, «die Musik nicht nur festzuhalten, sondern auch mitzuteilen».
Materialbegriff und Aufführungspraxis historisch
Die Aufführungspraxis wandelt sich historisch auch in unserer Zeit. (15) Aus der Perspektive der grossen Linien gesehen, kann das nicht losgelöst vom Materialbegriff in der Neuen Musik betrachtet werden. Mit einer Bezeichnung, die von Levaillant (1996) stammt, gehen wir grundlegend vom «rohen Klangmaterial» aus (Le fait sonore brût), sowohl im frühen Serialismus als auch in freier Improvisation. Nicht nur die klanglichen Begrenzungen der Notenschrift, auch das Wünschenswerte darin, die Entitäten, womit man komponiert, in allen Hinsichten frei definieren zu dürfen, fordern dazu auf, nach Lösungen jenseits der Kompromisse des traditionellen Notenschreibens zu suchen. Und schon gar nicht zu sprechen von gewissen interessanten menschlichen Erfahrungen. (16)
Allmählich verblasst die Autorität alter Theoretiker wie Dahlhaus und Adorno, für die ein Delegieren seitens des Komponisten nichts anderes als ein Mangel an Verantwortung bedeutete. Kopp (2010) berührt die historische Dimension, indem er noch gegen die beiden genannten Autoren argumentiert. Jahn (2006) ist hingegen für die traditionelle Schrift. Er führt eine eigenständige These aus, indem er gegen zu grosse «Freiräume» in Kompositionen auf psychologischer Grundlage argumentiert. Dabei illustriert er seine Ansicht mittels der Metapher einer Leitplanke an der Autobahn – die Leitplanke repräsentiert, was notiert ist, die Musik selber ist alles, was nicht notiert ist. Wieso nun das sehr geregelte Fahren auf der Autobahn ein so hohes Ideal für das ästhetische Streben werden kann, habe ich nie ganz verstanden, doch jedem das Seine!
Die Bedeutung von Interaktion und die Folgen für die Formbegriffe Psychogramm zeigt eine originelle Verwendung von Interaktion als kompositorisches Material. Das Stück ist ein frühes Beispiel für eine systematische Ausarbeitung differenzierter interaktiver Rollen – interessanterweise noch vor der Publikation des Artikels von Vinko Globokar über Das Reagieren(17), der ganz ähnliche Rollen beschreibt. Siehe hierzu auch noch den Artikel von Keller selbst (1973) über die Bedeutung sozialer Prozesse und Erlebnisse von Gemeinschaft, auch seitens der Hörer.
Generell ist, wie oben bei der Besprechung dieses Stücks angedeutet wurde, Polyfonie, und zwar eine direktere, wiederentdeckte, bei improvisatorischer Aufführungspraxis von Relevanz. Es leuchtet ein, dass das strikt Homofone abhängig von einer äusseren Koordinierung ist. Heterofonische Techniken liegen auf der Hand – in Stück für Improvisatoren erzeugt dieses Prinzip wegen der karawanenartigen Anlage sowohl vertikale wie horizontale Diversität bei den Übergängen zu neuen Sektionen und ebenso Stellen, die von Konsens geprägt sind. Der Komponist kann lineare Verläufe in gröberem oder feinerem Umriss festlegen, doch weil der interaktive Prozess leicht zu unvorhergesehenen Entwicklungen tendiert, kann Aleatorik einen neuen Stellenwert bekommen, und zwar für die Form. Sie sorgt in Psychogramm und Minima dafür, dass der Musiker ständig freie Wahlmöglichkeiten hat. Hier sind wir weit entfernt von den feingeschnittenen, herumwirbelnden Strukturen bei Penderecki und anderen polnischen Komponisten, die sich ja auf einer Detailebene abspielen. Es gibt noch viel zu erforschen, wie Musiker durch ihre Wahl im Spiel den Formverlauf beeinflussen oder bestimmen können.
Schlussfolgerung
Die vier Stücke von Keller machen Gebrauch von einer beträchtlichen Reihe kompositorischer Methoden und Griffe: eingehende Analysen des Materials, Aleatorik auf Form bezogen, Polyfonie, Heterofonie, sequenzielle Form, Labyrinthform, Relationen als musikalisches Material, nichtetablierte Notationsformen. Sie tragen dazu bei, herkömmliche Komposition mit einer noch relativ neuen Form von Aufführungspraxis zu verbinden. Interaktion beeinflusst die Form der Zusammenarbeit. Es werden konzise Notationen verwendet, welche die Idee des Komponisten unmittelbar mitteilen und somit ein Minimum an analytischer Entzifferung braucht – sowohl für Musiker als für interessierte Hörer.
Appendix: Spätere offene Werke Kellers
Musik wird innerhalb verschiedener Traditionen unterschiedlich hervorgebracht. Die weitaus am meisten gespielte klassische Musik wird heutzutage aufgeführt, ohne dass improvisatorische Fähigkeiten dazu nötig wären. Doch sie verlangt weitgetriebene technische Fertigkeit und eine effektive Produktionsweise. Blattlesen ist dabei wichtig, so dass die Probezeit auf ein Minimum gekürzt werden kann. Viele Komponisten ziehen die Konsequenz, auch für Neue Musik eine hauptsächlich traditionelle Schrift zu verwenden, um sich den Zugang zum Publikum nicht zu versperren. Für Keller waren darüber hinaus auch Texte und Botschaften mit politischen Inhalten wichtig. (18)
In der Pädagogik geht es weniger um effektive Kulturproduktion als darum, sich in Inhalte zu vertiefen und sie kennenzulernen. Das können wir eine andere Methode nennen und sie als «workshopähnlich» bezeichnen. Die Musiker entdecken oder entwickeln gar allmählich das Feld und bestimmen das Resultat mit. In 5 Improvisationsmodelle für Jugendliche (1995) (19) und im gleichnamigen 5 Improvisationsmodelle für Jugendliche (2008) treten Strukturen auf, die den frühen Kompositionen ähnlich, jedoch einfacher sind. Es gibt auch herkömmliche, lineare und einfache Partituren. Es folgt nun indessen ein Beispiel, Zündschnur aus der späteren Sammlung, das heterofone und formelhafte Strukturen exemplifiziert. Diesmal ist die Notation ausschliesslich verbal:
Die workshopähnliche Methode ist unter Ensembles verbreitet, welche die Freiheit haben, sich ihre eigene Arbeit selbst zurechtzulegen. Die oben analysierten frühen Stücken entstanden denn auch im Umfeld der von Keller gegründeten Gruppe für Musik. Damals arbeitete er auch improvisatorisch mit Gerhard Stäbler und Wah Schulz.
Von 2003 stammen einige Improvisationskonzepte, geschrieben für eine Gruppe mit Stefan Wyler (trp), Alfred Zimmerlin (vcl) und Dani Schaffner (perc). Keller selbst spielte auf Klavier und Synthesizer. Elektronische Klangumwandlung konnte bei allen eingesetzt werden. Die Kompositionen gehören in eine «Grauzone». Sie sind nur für die betreffenden Musiker formuliert und haben die vollständigen Erklärungen nicht, die für die oben analysierten Stücke charakteristisch waren. Sie können aber Beispiele dafür sein, wie man unter sich Kompositionen schnell realisieren kann, mit Stichwörtern und wenig Aufwand. Ausser Spielanweisungen sind in diesen Konzepten eine Menge technische Angaben zur Einstellung der Apparatur. Diese zu verallgemeinern wäre sicher eine besondere Aufgabe gewesen, eine andere, velleicht etwas weniger schwierige wäre es, von den spezifischen Instrumenten zu abstrahieren. Könnte z. B. «Cello» durch einen anderen Streicher ersetzt werden oder durch irgendein anderes Instrument? In ihrem spezifischen Kontext müssen solche Fragen indessen gar nicht beantwortet werden.
Aus Im Metall hier eine Spielregel, die auf der Interaktion der Musiker beruht und Erfahrungen der Neunzigerjahre mit «dirigierter Improvisation» integriert:
Aus Ohn End ein Partiturausschnitt – für Aussenseiter würden die Stichwörter wohl ziemlich abstrakt erscheinen. Denkbar auch, dass «free» ein gewisses Einverständnis unter den Musikern einschliesst, besonders wenn die Stücke zuvor erprobt waren. Zumindest ist zu vermuten, dass sie mit den Spielweisen der anderen etwas vertraut waren.
Improvisation und experimentelle Aufführungspraxis tauchen auf in einem Werk mit politisch orientierten Texten aus letzer Zeit, nämlich Mobile für 1–5 Instrumente ad libitum von 2013.
Die Elemente in den Kästen können frei kombiniert werden. Doch das «Floskel-Feld» soll zum Beginn stehen und mindestens zweimal im Laufe des Stückes aufgegriffen werden. Texte können verschiedenartig vorgeführt werden gemäss Anweisungen. Zusammen mit den instrumentalen Elementen haben wir also hier wahrhaftig eine Collage: Sätze können sich chaotisch übereinander lagern. In ihnen geht es um ernste Probleme, die keineswegs zueinander in Beziehung stehen, sondern schroff einander gegenüberstellt werden. Ebenso schroff steht das hochdifferenzierte Spielen den prominenten «Floskeln» gegenüber. Das Stück kommt aber dem Blattlesen entgegen dadurch, dass Tonhöhen und Rhythmen detailliert auskomponiert sind. Dabei bedeutet [G], dass der Ton geräuschhaft sein kann. Wiederum diplomatisch für die klassisch ausgebildeten Musiker kann dies aber ausgelassen werden.
Kellers offene Kompositionen seit 1970/71 bauen auf Entdeckungen, die eingehend in frühen Stücken untersucht wurden: erweitertes Material, anschauliche Notation, Interaktion als wesentliche Dimension, schaffende Zusammenarbeit. Sichtbar werden aber auch originelle pädagogische Arbeiten sowie eine informelle kompositorische Arbeitsweise. Und ein Beispiel für einen Brückenschlag zwischen den sonst getrennten Arbeitsmethoden von Blattlesen oder Workshop.
Carl Bergstrøm-Nielsen ist ein dänischer Komponist, Improvisator und Musikforscher.
1
Zu Konsequenzen ausserhalb des Konzertlebens sei hier nur kurz angedeutet, dass die Musikpädagogik neu gestaltet wurde und dass die neuere Musiktherapie als Fachdisziplin ins Leben gerufen wurde.
2
Siehe Bergstrøm-Nielsen (2002ff), Sonderkategorien über Wolff und Zorn G2.5 und G2.3 (sowohl alte als neue Abteilung), auch Gronemeyer et al (1998). Vitkova (2005) attestiert, dass Wolff nicht nur in den Sechzigerjahren so komponierte, sondern auch später, z. B.in For John (2007).
3
Polaschegg (2007) und (2013) enthalten ausführliche Signalemente davon.
4
Reimann (2013)
5
Sauer (2009)
6
Zündsatz dieser Explosion schien der Artikel Meyer (2010) zu sein. Die Diskussion setzte sich fort in Dissonance (2010) und Kunkel (2010) mit mehr als 35 Teilnehmern. Nachher wurde Nanz (2011) veröffentlicht. – Schon Meyer (2007) berichtete vorher von regen Diskussionen über Improvisationsfragen.
7
In Luzern kann man einen Bachelor of Arts in Music mit Schwerpunkt Improvisation erwerben. Mäder et al (2013) enthält eine Dokumentation und didaktisch-inhaltliche Reflexionen. Jeremy Cox, Leiter der Association Européenne des Conservatoires schätzte ein, dass 90% der zirka 200 Mitglieder Improvisationsunterricht eingeführt haben. Siehe Cox (2012). Andere wichtige Orte, wo freie Improvisation gelehrt wird, sind beispielsweise Gent, Belgien; Den Haag, Holland; Oslo, Norwegen.
8
Siehe die Diskussion bei Mäder et al (2013) p.38f.
9
Amzoll (2015)
10 Aleatorisch, nach latein alea=Würfel, bedeutet zufallsbezogen, doch innerhalb eines definierten Rahmens.
11
Siehe Müller (1997)
12
Eine Diskussion dieser Begriffe findet sich am Ende des Artikels Bergstrøm-Nielsen (2002).
13
Bosseur (1997), Übersetzung des Verfassers
14 Als Komponist kann ich darüber hinaus persönlich bestätigen, dass es ein grosses Vergnügen sein kann, ganz unterschiedliche Versionen desselben Werkes zu hören zu bekommen. Die Interpretationsweisen können sich sogar über die Jahrzehnte wandeln.
15
Müller (1994) vertritt die These, dass für die Analyse indeterminierter Musik (das umfasst nach seiner Auffassung auch Stockhausens Prozession) die alleinige Betrachtung von Methode seitens des Komponisten und von Rezeption nicht ausreicht. Wenn der Komponist die gestalterische Arbeit mit einem Interpreten teilt, dann muss die Aufführungspraxis als solche untersucht werden. Kopp (2010) führt einen ähnlichen Gedankengang aus.
16
Ochs (2000) deutet auf die Vorteile der kreativen Zusammenarbeit hin: «… the decision to use (structured) improvisation … to create the possibility of even more … than the composer imagined possible … Or, at the very least, to allow for the possibility of different or fresh realizations … with each performance» (p.326).
17
Globokar (1970)
18
Siehe Amzoll (2015) für eine allgemeinere Orientierung über Kellers Schaffen
19
Eine Auswahl davon ist im Nimczik/Rüdiger (1997) publiziert.
Literaturhinweise
Amzoll, Stefan (2015):
Farbenfahrten. Der Schweizer Komponist und Improvisator Max E. Keller. MusikTexte 147, November.
Bergstrøm-Nielsen (2002): Offene Komposition und andere Künste. ringgespräch über gruppenimprovisation, Juni. Online: www.intuitivemusic.dk/iima/ – siehe Bergstroem-Nielsen.
Bergstrøm-Nielsen, Carl (2002ff):
Experimental improvisation practise and notation.
An annotated bibliography. With addenda. Online: www.intuitivemusic.dk/iima/ – siehe Bergstroem-Nielsen.
Bosseur, Jean-Yves (1997): Le Temps de le Prendre. Paris (Editions Kimé).
Cox, Jeremy (2012):
Mündliche Kommunikation anlässlich des Vortrags QUO IMUS?: a «premeditated improvisation» on ideas stimulated by the Symposium and their implications for European music academies. Symposium Quo vadis, Teufelsgeiger?, Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, 28.Januar 2012.
Globokar, Vinko (1970):
«Réagir», musique en jeu 1, 1970. Deutsche Version in Melos 1971,2 (ohne Musikbeispiele). Online: http://intuitivemusic.dk/iima/ – siehe Globokar.
Gronemeyer, Gisela; Oehlschlägel, Reinhard (1998): Christian Wolff. Cues. Writings and Conversations / Hinweise. Schriften und Gespräche, in: Edition MusikTexte 005.
Herndler, Christoph (2011):
Wegmarken beim notieren unvorhersehbarer Ereignisse, in: «31» – Das Magazin des Instituts für Theorie, Nr. 16/17, S. 126 ff. ISSN 1660-2609 (Schweiz).
Jahn, Hans-Peter (2006): Zur Qualität des Gedächtnisverlusts. Fesseln der Notation, MusikTexte 109, Mai.
Keller, Max E (1973):
Improvisation und Engagement, Melos 4.
Kopp, Jan (2010):
Vom Handlungssinn der Schrift. Die Erfahrung des Musikers als Gegenstand von Komposition. MusikTexte 125, Mai, S. 32-43.
Kunkel, Michael (ed.) et al (2010):
Diskussion…. Dissonance, Schweizer Musikzeitschrift für Forschung und Kreation 111, Dezember, S. 64-77. Online: http://www.dissonance.ch/de/hauptartikel/82
Levaillant, Denis (1996): L’Improvisation Musicale. (Biarritz, Editions Jean-Claude Lattès 1981). Teil einer Serie: Musiques et Musiciens. New edition: Arles 1996
Mäder, Urban; Baumann, Christoph; Meyer, Thomas (2013): Freie Improvisation – Möglichkeiten und Grenzen der Vermittlung. Serie: Forschungsbericht der Hochschule Luzern – Musik 5. Elektronisches Dokument. Online: https://zenodo.org/record/31339/files/2013_5_Maeder-Baumann-Meyer.pdf
Müller, Hermann-Christoph (1994): Zur Theorie und Praxis indeterminierter Musik. Aufführungspraxis zwischen Experiment und Improvisation. Regensburg (Gustav Bosse Verlag). Kölner Beiträge zur Musikforschung (Niemöller, Klaus Wolfgang ed.) Band 179.
Müller, Hermann-Christoph (1997):
plus minus gleich. Karlheinz Stockhausens «Prozession», MusikTexte 67/68, Januar.
Nanz, Dieter A. (Hrsg.) (2011):
Aspekte der freien Improvisation in der Musik. Hofheim (Wolke Verlag).
Nanz, Dieter A. (2007): Improvisieren und Forschen. Gedanken am Rande der Basler Improvisationsmatineen. MusikTexte 114, August, S.83-84.
Neuner, Florian (2013): Auf der Spitze des Eisbergs. Die Berliner Komponistin und Verlegerin Juliane Klein. MusikTexte 139, p.5-13, November.
Nimczik, Ortwin/Rüdiger, Wolfgang (1997): Einstimmige vielstimmigkeit. Drei Improvisationsmodelle von Max E. Keller (1995), Musik und Bildung 1, Januar/Februar.
Nonnenmann, Rainer /(2010):
Wider den Utopieverlust. Mathias Spahlingers «doppelt bejaht» beschreitet neue Bahnen. MusikTexte 124, Februar.
Vitková, Lucie (2015): Learning to Change with the Music of Christian Wolff, in: Rothenberg, David (ed.): vs. Interpretation. An Anthology on Improvisation, Vol.1. Prague (Agosto Foundation), p.51-62.
Ochs, Larry (2000):
Devices and Strategies for structured improvisation, in: Zorn, John (ed.): Musicians on music. New York (Granary Books/Hips Road). P. 325-335.
Polaschegg, Nina (2007):
Verflechtungen. Zur Neubestimmung des Verhältnisses von Komposition und Improvisation, MusikTexte 114, August.
Polaschegg, Nina (2013):
Gegenseitiges Befruchten und Durchdringen. Zum Spannungsfeld von Komposition und Improvisation. MusikTexte 139, November 2013.
Reimann, Christoph (2013): Kollektives Individuum. Das Berliner Splitter Orchester. MusikTexte, August, 29-35.
Glaubt man dem ersten deutschsprachigen «Musicalischen Lexicon» von Johann Gottfried Walther (1728), so war der Barockkomponist Albicastro (1662?–1730) «ein Schweitzer». Ein Nachweis oder Gegenbeweis war allerdings Jahrhunderte lang nicht zu finden.
SMZ/Otmar Tönz
- 20. Okt. 2016
Dokumente, die erst in diesem Jahr aufgetaucht sind, verweisen nun mit grösster Wahrscheinlichkeit auf Klosterneuburg bei Wien als Herkunftsort. Gefunden hat sie der niederländische Philosoph und Genealoge Marcel Wissenburg, der im Interview in der Musikzeitung von Oktober/November 2016 (S. 10 ff) darüber berichtet. Wo der Komponist seine musikalische Ausbildung erhielt – er war offenbar ein virtuoser Geiger –, wie er in die Niederlande kam, das Land, in dem er den grössten Teil seines Lebens verbrachte, warum er ausgerechnet in der umtriebigsten Zeit seiner Militärkarriere die meisten seiner Werke schrieb und warum er dann plötzlich zu komponieren aufhörte, ist aber immer noch unklar.
Otmar Tönz, emeritierter Professor und ehemaliger Chefarzt der Kinderklinik Luzern sowie passionierter Musikforscher, begann 2006, nach dem Herkunftsort Albicastros zu suchen. 2010 berichtete er zusammen mit dem Musikwissenschaftler Rudolf Rasch in einem Artikel der Schweizer Musikzeitung über die Forschungen (SMZ 4/2010, S. 19 ff.)
Die ausführlichen Forschungsergebnisse der bis dahin letztlich ergebnislosen Suche haben Rudolf Rasch und Otmar Tönz auch in einer 65-seitigen Publikation zusammengefasst: Otmar Tönz, Rudolf Rasch, Henrici Albicastro, 2., überarb. und erw. Auflage. [Fachhochschule für Musik], Luzern 2011.
Albicastro hat 51 Sonaten für Solovioline (mit B.c.), 2 für Viola da Gamba, 60 Triosonaten und 12 Concerti (Quartette) komponiert; zudem die Soprankantate Coelestes angelici chori. Von den 11 Sonatensammlungen sind 2 gänzlich und 2 teilweise verschollen, Opus II vermutlich erst seit dem zweiten Weltkrieg.
Kurzbiografie Albicastros und kleine Werkschau
Autor: Otmar Tönz (1926-2016)
Wissenstand 2015
Kurz nach der Mitte des 17. Jahrhunderts wurde im europäischen Kulturraum ein Knabe namens Joh. Heinrich Weissenburg geboren; zwar ohne offiziellen Eintrag in einem Taufregister, d.h. die Nachwelt kannte weder den Namen der Mutter, noch den Beruf des Vaters, weder das Taufdatum des Knaben, noch der Ort seiner Herkunft. Nicht aus Akten, sondern aus dem weiteren Verlauf seiner retrospektiv erfassten Lebensgeschichte erfahren wir, dass dieser Knabe ein ausserordentliches Talent besass: Er beherrschte früh das Geigenspiel auf hohem Niveau und auch Musiktheorie und Kompositionslehre erlernte er mühelos.
Das erste und einzige Dokument, das wir besitzen stammt vom bereits erwachsenen, jungen Weyssenburg, der die Stelle eines Musicus Academiae der Universität Leyden in den Niederlanden erhielt. Wie es ihn in die Niederlande verschlug, ist nicht bekannt. Auf dem genannten Dokument der Universität ist ausser der Anstellung ein sehr wichtiges Faktum wiedergegeben: Er bezeichnet sich bezüglich Herkunft als Viennensis (aus Wien). Wahrscheinlich haben ungezählte Albicastro-Fans seither die kirchlichen und weltlichen Akten in Wien durchforscht, aber – wie wir – ohne Erfolg.
Verwirrung schaffte dann das später erschienen Lemma «Albicastro» im ersten Deutschsprachigen Musiklexikon von J.G. Walther (1728): «Albicastro (Henrici) ein Schweitzer, Weissenburg eigentlich genannt … » nun fokussierte sich das Interesse auf die Schweiz, bis heute. Seine Werke wurden in der Reihe «Schweizerische Musikdenkmäler» ediert und vom Bund finanziert. Die ersten wissenschaftlichen Arbeiten wurden auch hierzulande gemacht. Der Schweizer Violinist und Bayerische Kammermusiker Walter Probst hat das gesamte, damals noch nicht gedruckte Werk in sehr schöner Handschrift kopiert und gleichzeitig den Bass ausgeschrieben. Schliesslich entdeckte Prof. Kurt Fischer in den 1970er-Jahren die Solokantate Coelestis angelici chori im Brüsseler Konservatorium.
Von der Kindheit und Jugend Albicastros wissen wir also nur, dass er ein frühreifes musikalisches Genie bezüglich des Violinspiels und der Komposition von ein- und mehrstimmigen Sonaten, vorwiegend im italienischen Stil (Vorbild: Arcangelo Corelli), war. Leider wissen wir nichts über seine schulische und musikalische Ausbildung. Die Lateinschule (und den Italienischunterricht) besuchte er wahrscheinlich nur auf einer untersten Stufe; zu häufig sind seine orthografischen und grammatikalischen Fehler, z. B. der Gebrauch des Genitivs für seinen Vornamen.
Militärische und musikalische Laufbahn
In den Niederlanden trat Weissenburg auch in die Armee ein, wo er in einer langen und erfolgreichen Karriere zehn Ränge aufsteigt, vom Unteroffiziert bis zum Rittmeister. Er diente in Niederländischen Regimentern, die im Spanischen Erbfolgekrieg eingesetzt waren. Ab 1706 signiert er seine musikalischen Werke ausschliesslich mit Henrici Albicastro, seine dienstlichen und privaten Papiere seit 1686 mit (Johan) Hendrick van Weyssenburgh.
Mit etwa 40 Jahren erfolgte ein tiefgreifender Bruch in seiner Lebenslinie: Er legte seine Violine beiseite und konzentrierte sich ausschliesslich auf seine militärische Laufbahn bei den berittenen Truppen. Der Berufswechsel ist wohl als Ausdruck seines Ehrgeizes zu verstehen. Eine Gruppe von Schweizer Grafologen sieht seinen persönlichen Traumplatz auf dem «Feldherrenhügel».
Familiäre Verhältnisse
1705 heiratete er Cornelia Maria Coeberg, eine Kaufmannstochter aus Grave, einer Festungs- und Garnisonstadt an der Maas. Nach der Geburt seines ersten Kindes gründeten sie einen eigenen Hausstand an der gleichen Strasse (Klinkerstraat), schräg vis à vis ihrer Eltern. Das erste Kind hiess Gerhardus Alexander, der in den Fussstapfen seines Vaters ebenfalls eine militärische Laufbahn einschlug, aber leider schon mit 22 Jahren verstarb. Dann folgt die Tochter Johanna Allegundis, tüchtig, arbeitsam und intelligent, die den Gutsverwalter des Fürstenhauses Hohenzoller-Sigmaringen – Petrus Johannes Hengst – heiratet und eine kinderreiche Familie hinterliess, deren letzte Nachkommen bis heute leben.
Dann folgte wieder ein Knabe, Johannes Michaelis, der ebenfalls, wie Gerhard die Lateinschule bei den Karmelitern in Boxmeer absolviert hatte. Diesem gelang dann die militärische Karriere endgültig. Aber trotz seiner zehn Kindern versiegt der Stamm der von Weissenburgs bei seinen Grosskindern, sodass dieses Geschlecht in den Niederlanden ausgestorben oder ausgewandert ist. Schliesslich folgt als viertes noch die Tochter Everdina Alexandrina. Nur bei ihr besitzen wir den Taufbucheintrag. Sie wurde 1713 in Grave geboren und ist 1734 als Krankenschwester dem Karmeliterorden beigetreten.
Zu einem Hinscheiden seiner Frau fehlt jeder Hinweis. Jedenfalls heiratete der 61-jährige Witwer am 15. Februar 1722 ein zweites Mal. Die Erkürte war Petronella Baronessa Rhoe d’ Oppsinnigh, eine Baronin, die vielleicht seinem Traum vom Feldherrenhügel zu entsprechen vermochte, aber deren Lebensstil die finanziellen Möglichkeiten des Rittmeisters bei Weitem überstieg. Zunächst mussten zwei Pferde plus Kutsche und eine entsprechende Stallung angeschafft werden. Das luxuriöse gesellschaftliche Leben und weitere Kosten führten nicht nur in die Armut, sondern zu einem grossen Schuldenberg, den die Kinder aus erster Ehe und die Witwe der zweiten Heirat abzutragen hatten.
Kompositorisches Werk
Wenn Albicastro beim Eintritt in die militärischen Schulen seine Geige abgelegt hat, so gilt das nicht für sein Kompositionsheft. Paradoxerweise begann da seine musikalisch produktivste Phase seines Lebens. Es ist fast unglaublich, dass er in den Jahren seiner militärischen Ausbildung und ersten Karriereschritte genau 100 Sonaten komponiert hat, meist 4-sätzige, in allen Dur- und Moll-Tonarten, technisch zum Teil sehr anspruchsvoll: voller Doppelgriffe und ausgedehnter fugierter Sätze. Das Schreiben allein ist eine Riesenarbeit. 100 Sonaten sind für andere ein Lebenswerk. Rechnen wir die früheren und späteren und verschollenen Werke dazu, so kommen wir auf etwa 130 Kompositionen, vor allem Sonaten.
Eine Sonderform sei hervorgehoben, die Folia, ein Thema mit «ausgelassenen» Variationen. Auch Corelli hat eine Folia geschrieben; op. V / Nr. 6. In Ehrerbietung zu seinem geistigen Lehrer reiht Albicastro die seine ebenfalls als op. V / Nr. 6 ein. Ein Vergleich ergibt: Der Römer schreibt nach den Regeln der Kunst, hält die historisch vorgeschriebenen Takt- und Satzzahlen ein, lebhaft, aber nicht ausgelassen, künstlerisch sehr sauber. Bei Albicastro ist es eher wild, die Sätze unterschiedlich lang, zum Teil sehr hohe Tempi, emotional stärkere Ausbrüche und ein rauschende Finale in den Schlusstakten.
Die einzige vokale Komposition Albicastro ist Coelestes angelici chori, eine geistliche Solokantate für hohe Stimme, Streicher und Basso continuo. Vielleicht das letzte Musikstück von Albicastro? Ein wunderschönes Gesangswerk, das mit einem brillanten, reich kolorierten Hauptsatz eröffnet wird. Dann folgt ein unglaublich schönes Rezitativ (wie man es fast nur von Bach kennt), gefolgt von einem zart fliessenden Adagio, in welchem weiche Solo-Violinen den Gesang umweben. Dann schliesst ein festliches Halleluja die Kantate ab.
Am 18. Juni 2016 hat Pierre-Alain Monot sein Abschiedskonzert als Leiter des Nouvel Ensemble Contemporain in La Chaux-de-Fonds gegeben. Im Gespräch mit Gianluigi Bocelli spricht er über diesen wichtigen Moment des Aufhörens, seinen Werdegang und seine Pläne.
Über zwanzig Jahre hat Pierre-Alain Monot mit seinen musikalischen Grenzgängen die Geschicke des Nouvel Ensemble Contemporain (NEC) geprägt. In dieser Zeit ist das Ensemble zu einer der wichtigsten Formationen im Bereich der zeitgenössischen Musik in der Schweiz und im Ausland herangewachsen.
Pierre-Alain Monot, erzählen Sie uns etwas über diesen Abschied?
Ein Kreis schliesst sich. Was irgendwann anfängt, muss auch irgendwann wieder enden. Und in der Kunst ist es am besten, wenn das auf dem Höhepunkt geschieht, mitten im kreativen Fieber. Die Bedingungen für eine Stabübergabe sind günstig: Im vergangenen Jahr hat das NEC sein zwanzigjähriges Jubiläum gefeiert, das wollte ich nicht verpassen. In der Saison 2015/2016 konnten wir diesen Übergang dann reifen lassen. Die Farbgebung der Programme wird sich ändern, das ist normal. Aber es sind alle Elemente vorhanden, damit sich das NEC natürlich und kontinuierlich weiterentwickeln kann. Antoine Françoise, einer der Pianisten des Ensembles, wird neuer künstlerischer Leiter. Einen Chefdirigenten wird es nicht mehr geben.
Mit welchen Gefühlen machen Sie diesen Schritt?
Natürlich kommt Wehmut auf, Melancholie, denn ich habe hier langjährige Freunde. Ich wohne im Kanton Zürich, die örtliche Distanz wird sich also bemerkbar machen. Aber ich bin nicht traurig. Ich wäre es, wenn ich das Ensemble in einer schlechten Phase oder mit Problemen verlassen würden, aber es geht alles so gut!
Und was haben Sie nun für musikalische Pläne?
Oft wird man nur als Dirigent gesehen, ich bin aber Musiker. Ich werde weiterhin als Solo-Trompeter beim Musikkollegium Winterthur tätig sein und dort auch ab und zu zeitgenössische Stücke – mein Spezialgebiet — auswählen und dirigieren können. Ebenfalls in Winterthur bin ich künstlerischer Leiter einer Konzertreihe mit einer multimedialen, fesselnden Ausrichtung. Ich werde weiterhin als Gastdirigent auftreten, etwa beim Nouvel Ensemble Moderne in Montreal. Und ich werde mich wieder ans Komponieren machen, wozu mir bislang keine Zeit blieb.
Würden Sie Ihren breitgefächerten künstlerischen Werdegang kurz umreissen?
Mit zwölf habe ich mein erstes Stück geschrieben. Und seither habe ich immer wieder komponiert, gänzlich autodidaktisch. Ich bedaure das, denn die Methode fehlt mir ein bisschen, aber vielleicht war es doch richtig, Interpret zu werden. Als Trompeter habe ich lange in einem Blechbläserquartett gespielt, dem Quatuor Novus, mit dem ich Aufnahmen zwischen Alt und Modern gemacht habe. Wir waren anachronistisch in unserer Suche nach schwierigem Repertoire, aber wir haben einen Stil und einen Klang gefunden, der historisierend war und die Musik zum Leuchten brachte.
Zum Dirigieren bin ich zufällig gekommen. Schon als Kind hätte mir das gefallen, aber ich hatte keine Gelegenheit dazu – bis zur Gründung des Nouvel Ensemble Contemporain. Das Ensemble wollte eines meiner Werke aufführen, und plötzlich haben sie mich gefragt, ob ich nicht die Leitung übernehmen wolle. Ich habe einfach mal angefangen, ohne mir allzu viele Fragen zu stellen, und es wurde, was ich am liebsten mache. Mir gefällt vor allem, eine Idee ins Auge zu fassen und sie mit anderen gemeinsam weiterzuentwickeln. Das finde ich toll.
Und warum widmen Sie sich so sehr der zeitgenössischen Musik?
Die Nischen, das Alte und das Moderne, haben mich seit jeher besonders interessiert. Dann habe ich mich auf das Zeitgenössische konzentriert und daraus ging die Zusammenarbeit mit den NEC hervor. Leider trägt man immer schnell eine Etikette und wird dann auch nur noch in diesem Bereich angefragt. An der zeitgenössischen Musik liebe ich das Abenteuer. Man kann dort noch den Fuss auf unbekanntes Terrain setzen. Das ist in der heutigen Welt ein seltenes Privileg.
Gibt es Momente oder Werke, die Ihnen auf diesem abenteuerlichen Weg besonders nahegegangen sind?
Das Gefühl, wenn man die Partitur von Boulez’ Marteau sans maître auf das Pult legt, bevor man sich in diese Dreiviertelstunde mit unglaublicher Musik begibt, die mit der grössten Präzision ausgeführt werden muss. Und Maître Zacharius ou l’horloger qui avait perdu son âme von Leo Dick, ein Musiktheaterstück. Da hatten wir eine ausserordentliche Inszenierung des Komponisten über die Beziehung von Mensch und Maschine. Ein seltenes Glück ist auch, wenn ein zeitgenössisches Stück zum Repertoire wird, etwa bei Gérard Griseys Quatre chants pour franchir le seuil, das zum Monument geworden ist, oder die Turm-Musik von Heinz Holliger.
Allgemeiner gehört es zu den schönsten Momenten, wenn der Komponist eines Werks im Konzert sitzt und den Interpreten am Schluss für ihre Texttreue dankt. Das bedeutet dann, dass der Austausch, der die Grundlage unseres Berufes ist, zustande gekommen ist, dass Musiker, Komponist und ich selbst an einem Stang gezogen haben.
Nochmals zu Ihrem Abschiedskonzert mit dem NEC. Hatten Sie etwas Spezielles vorgesehen, ein besonderes Programm?
Die Vorbereitung war dieselbe wir für alle Konzerte: Man muss das Programm perfekt beherrschen, das ist alles. Wir hatten nichts Besonderes gewählt, schon gar nichts Sentimentales. Es war ein ganz normales Konzert für unser ausserordentliches Publikum in La Chaux-de-Fonds. Parts von Hanspeter Kiburz, ein grosses Werk, das man kennen muss, das dem Publikum im Gedächtnis bleibt und das jedes Ensemble einmal gespielt haben sollte. Und mit Garden of earthly desire von Liza Lim haben wir die Linie von Romitelli fortgesetzt, der im Januar auf dem Programm stand. Sie gehören zur gleichen Generation. Ich wollte schon länger etwas von Liza Lim spielen.
Ich bin sehr zufrieden, denn beide Werke sind überaus orchestral und so geschrieben, dass sie das Können des Ensembles ins beste Licht rücken.
Furrers Wirken beim Radio und seine Haltung zur Avantgarde
Auf ihrer Suche nach Persönlichkeiten, die ihren Vater, den Schweizer Komponisten Walter Furrer (1902–1978), gekannt haben, hat sich Beatrice Wolf-Furrer im ersten Trimester 2016 mit Klaus Cornell und Walter Kläy getroffen.
Beatrice Wolf-Furrer
- 25. Mai. 2016
Nach dem inhaltsreichen Gespräch, das ich am 5. Dezember 2015 in Thun mit dem Organisten Heinz-Roland Schneeberger führte, habe ich meine Suche nach Personen, die meinen Vater, den Schweizer Komponisten Walter Furrer (1902–1978), noch gekannt haben, fortgesetzt. Dabei bin ich im Verlaufe der letzten Monate zweimal fündig geworden.
Klaus Cornell
Während meiner Recherchen in der Burgerbibliothek Bern, die seit Juni 2012 den gesamten musikalischen Nachlass Walter Furrers betreut, bin ich in Abständen immer wieder auf den Namen Klaus Cornell gestossen und habe mich dabei erinnert, dass auch mein Vater ihn gesprächsweise gelegentlich genannte hatte.
Ich brauchte nicht lange zu suchen: Via Homepage erfuhr ich nicht nur, dass Klaus Cornell eine stringente Karriere als Dirigent sowie als Komponist aufzuweisen hat und mit einer Reihe von Preisen ausgezeichnet worden ist, sondern auch, dass er heute in Konstanz lebt. Was gar nicht so selbstverständlich ist, denn von 1989 bis 2000 war er als erfolgreicher Musiker im Bundesstaat Oregon (USA) tätig, wo man ihn nur zu gerne behalten hätte. Doch zog es schliesslich den gebürtigen Berner, wenn auch nicht geradezu in die Schweiz, so doch ins benachbarte Ausland zurück. Als Alterswohnsitz wählte er Konstanz, eine Stadt, die ihm die Nähe zur Heimat, dabei aber doch, wie er betont, «etwas mehr Weite» verschaffte. Dort hatte ich am 27. Februar 2016 Gelegenheit, mich etwa eine Stunde lang mit ihm zu unterhalten.
In den sechziger Jahren arbeiteten Walter Furrer und Klaus Cornell Seite an Seite im gleichen Betrieb. Walter Furrer hatte 1957 nach einer fünfundzwanzigjährigen Tätigkeit als Chorleiter und Kapellmeister am Stadttheater Bern zum Sender Studio Radio Bern gewechselt, wo er noch gut zehn Jahre als Kapellmeister, Leiter des von ihm im Auftrag des Senders gegründeten Kammerchors und Komponist wirkte.
1961 stiess der junge, aber bereits mit einschlägiger in der Schweiz sowie in Deutschland erworbener Berufserfahrung versehene Klaus Cornell zum Team des Senders, wo er bis 1983 eine leitende Stellung innehatte.
Schon in den sechziger Jahren war auch er als Komponist unterwegs, das bekannteste Werk dieser Ära ist die 1965 entstandene Radio-Oper Peter Schlemihl, Bilderbuch für Musik, deren Textbuch Kurt Weibel nach Adelbert von Chamissos Novelle Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte verfasste.
Bei der Aufnahme des Schlemihl wirkte auch der von Walter Furrer geleitete Kammerchor (s. o.) mit. Er erinnere sich gerne, so Klaus Cornell, an die Zusammenarbeit mit dem älteren Komponisten-Kollegen, die auch im umgekehrten Sinne funktioniert habe. So habe er zum Beispiel 1965 als Produktionsleiter die gesamte Aufnahme der furrerschen Auftragskomposition Quatembernacht. Eine Radioballade nach einer Walliser Sage für Kammerorchester, Orgel, Soli, Chor, Kinderchor und Sprechstimmen gesteuert. Auch in diesem Fall wirkte Kurt Weibel als Librettist.
Den damals beim Radio besonders wichtigen Sektor «Hörspielmusiken» haben beide Komponisten bedient.
Von der unmittelbaren beruflichen Zusammenarbeit abgesehen, kam es auch zu fachlichen Gesprächen grundsätzlicher Art, so zum Beispiel über die für den Erfolg einer Oper entscheidende kongeniale Zusammenarbeit von Librettist und Komponist. Auch die Theatersparte Operette – schon damals erfuhr die so genannte «leichte Muse» schwere Anfeindungen, die bekanntlich mit der Verbannung dieser Gattung von den subventionierten Theatern endeten – war Gegenstand grundsätzlicher Diskussionen, wobei Walter Furrer, mit Blick auf den ungebrochenen Erfolg der Operette, sich gegen deren radikalen Abbau geäussert habe.
Zudem wurde viel über die damals aktuelle Musikproduktion gesprochen. Zur zeitgenössischen Musik der 60er- und 70er-Jahre – man denke an die prominenten Internationalen Ferienkurse für Neue Musik, die vom Internationalen Musikinstitut Darmstadt (IMD) organisiert wurden – habe Walter Furrer, so Cornell, «ein kritisches Verhältnis» gehabt. Das verwundert auf den ersten Blick, denn Walter Furrer war ja während seiner Studienzeit in Paris im Lager der in den 20er-Jahren heftig bekämpften Avantgardisten und setzte sich insbesondere für Arnold Schönbergs damals noch keineswegs generell anerkannte Musik ein. Er selbst griff immer wieder auf serielle Techniken zurück; da er aber gleichzeitig in hohem Mass auf das Klangliche bedacht war, fiel seine eigene Modernität meines Erachtens wahrscheinlich weniger ostentativ auf.
Walter Kläy
Die Auflösung dieses scheinbaren Widerspruchs brachte mir das Gespräch mit dem Berner Musiker, Musiktheoretiker und Musikkritiker Walter Kläy, dessen Bekanntschaft mir Klaus Cornell vermittelt hatte und das am 4. April 2016 in Bern stattfand. Aber der Reihe nach.
Walter Kläy absolvierte zunächst eine praktische Musikausbildung (Geige, Fagott, Klavier) und dann, von 1973 bis 1976, eine theoretische, die er mit dem Theorielehrer-Diplom am Konservatorium Bern abschloss. Zuvor war er (bis 1973) bei der Radiozeitung sowie als Redaktor in der Auslandredaktion der Schweizerischen Depeschenagentur tätig. 1976 kam er zu Studio Radio Bern, wo er als Musikredaktor wirkte und ausserdem die viel beachteten Spätkonzerte im Studio Bern, die jeweils am Montag ausgestrahlt wurden, organisierte und moderierte.
Zufällig arbeitete er im gleichen Büro, das sich zuvor Walter Furrer und der Dirigent und Pianist Luc Balmer, der damals als vielseitiger Mitarbeiter am Studio Bern wirkte, geteilt hatten. Walter Kläy ist Co-Autor der Festschrift für Theo Hirsbrunner, die 2011 unter dem Titel Dialoge und Resonanzen/Musikgeschichte zwischen den Kulturen vom Münchner Verlag edition text + kritik erschienen ist.
Am 7. September 1970 führte Walter Kläy ein Interview mit Walter Furrer, das in dessen Heim in der Halensiedlung stattfand, in der Nr. 40/1970 der Zeitschrift radio + fernsehen erschien und nun zum zentralen Thema unseres Gesprächs wurde. Walter Furrer hatte um eine schriftliche Beantwortung der Fragen gebeten, was auch zugestanden wurde. So enthält der Interview-Text lauter sehr präzise Formulierungen, die wichtige Einblicke in die Entwicklung des furrerschen Œuvres vermitteln.
Die drei Schaffensperioden Furrers
Walter Furrer liebte es nicht, sich analytisch über seine Werke zu äussern, aber hier machte er eine Ausnahme. Wie aus dem Text hervorgeht, teilte er selbst sein kompositorisches Schaffen in drei Perioden ein. Die erste habe im Paris der zwanziger Jahre begonnen, als er in der Klasse Nadia Boulanger Kontrapunkt studierte und sich intensiv mit den damaligen Avantgardisten Schönberg, Strawinsky, Roussel und Bartók auseinandergesetzt habe.
Die zweite sei durch seine Theatertätigkeit als Chorleiter und Kapellmeister ausgelöst worden, und zwar in dem Sinne, dass ihn nun «die dramatische Seite der Musik» nachhaltig beschäftigt habe, wovon die damals entstandenen Opern Der Faun und Zwerg Nase sowie das Ballett Weg ins Leben zeugen.
Die dritte Periode sei durch seine Verpflichtung bei Studio Radio Bern (ab 1957) eingeleitet worden und stelle eine Rückkopplung zur ersten dar, «indem ich mir die Erkenntnisse der seriellen Technik und der Erweiterung des Linearen und Melodischen dienstbar machte, was simultan auch zu einer Erweiterung des Harmonischen führte». Als Beispiele nenne er das fünfte Lied des Zyklus Fünf Totentanzlieder für Alt und Klavier nach Texten von Christian Morgenstern (1927), das mit einer Zwölftonreihe beginne – «unbewusst natürlich, aber doch als Niederschlag meines Schönberg-Studiums» –, sowie den 40 Jahre später entstandenen Psalm 142 für Sopran und Orgel, der «bewusst in Zwölftontechnik gearbeitet» sei. Dies merke man aber «nicht sofort, weil alle übrigen Elemente des Tonsatzes darin assimiliert sind».
Dennoch wäre es meines Erachtens verfehlt, in Walter Furrer einen eingeschworenen intellektuellen Zwölftöner zu sehen. Der «mit der Dodekaphonie zusammenhängende Intellektualismus hat mit meiner Musik nichts zu tun», betont er am Ende des Interviews. Sein wichtigstes Anliegen habe darin bestanden, «immer für die Instrumente, für die Stimmen, ja sogar für den Dirigenten zu schreiben. Es ist mir wichtig, dass meine Ausführenden Freude an der Musik haben … Damit kann ich auch zum Hörer vordringen.»
In diesem Zusammenhang kommt auch zur Sprache, wie schwer es die kompositorische
Avantgarde in den 20er-Jahren hatte – handfeste Skandale bei Aufführungen avantgardistischer Musik zumal in Paris waren keine Seltenheit – und wie leicht sie es bereits 1970 hatte (und heute noch hat). «Die heutige Avantgarde kann man nicht mehr mit der früheren vergleichen», äussert Walter Furrer im Interview. «Heute legt man ihnen die Hände unter die Füsse, damals gab es nichts zu lachen.»
Walter Furrer habe, so Walter Kläy, während des Interviews sehr ernst, konzentriert und, das sei ihm besonders aufgefallen, bedrückt gewirkt. Dies erklärt sich aus der in der Tat deprimierenden Situation, in der sich der alternde Komponist damals befand. Mit seinen Werken hatte er zwar viel Aufmerksamkeit und oft warmen Beifall, aber nicht das erreicht, was man als eigentlichen Durchbruch bezeichnet. Zudem vermisste er die Arbeit beim Radiosender, für den er nur noch freiberuflich als Leiter des Kammerchors tätig war. Hinzu kam noch, dass ebendieser künstlerisch hochstehende Kammerchor – beim Festival international de chant choral am 10./11. Oktober 1962 in Lille hatte er sich unter 59 Teilnehmern den dritten Preis ersungen – bereits 1970 von der Auflösung bedroht war. Alle Versuche, diese Entwicklung aufzuhalten, waren vergeblich, Ende 1972 verschwand er definitiv von der Bildfläche.
Ich danke Klaus Cornell und Walter Kläy sehr herzlich, dass sie mir diese Gespräche ermöglicht haben.
Jean Nyder: Pianist, Komponist und Poet
Der Neuenburger hat ein beachtliches Werk an Klavier- und Kammermusik hinterlassen, ebenso Gedichte.
Iniga und Walter Amadeus Ammann, Yann Richter
- 24. Mrz. 2016
Seine drei gedruckten Gedichtbände sind erhältlich im Réseau Romand des bibliothèques de Suisse occidentale (RERO) und in der Schweizerischen Nationalbibliothek. Seine Kompositionen warten darauf, wieder aufgeführt zu werden. Für Informationen kann die Bibliothek des Conservatoire de musique neuchâtelois kontaktiert werden. Nyder schrieb auch für besondere Besetzungen mit Orgel, Cembalo, Oboe, Klarinette, Flöte, Gitarre, Stimme usw.
Charakterisierung
«De la mort l’amour est prélude» ist ein charakterisierender Ausspruch des im Februar 1982 von uns geschiedenen Neuenburgers Jean Nyder.
Für den rastlosen Klavierinterpreten, Komponisten, Dichter und Pädagogen war das Leben Liebe suchen und leiden. 1923 in Neuenburg geboren, zeigte Jean Nyder (ursprünglich Ernest Jean Niederhauser) schon früh erstaunliche pianistische Fähigkeiten. Nach dem Gymnasium errang er in Genf das Diplôme de capacité und in Paris den Prix de virtuosité.
Über seine Ausbildung im Interview des welschen Fernsehens sagte er1968: «Ich hatte das Glück, von zwei deutlich gegensätzlichen Lehrern unterrichtet worden zu sein. Johnny Aubert war streng klassisch, aufbauend, extrem objektiv; und Alfred Cortot überprüfte diese ganz klassische Arbeit mit seinem aussergewöhnlich transzendenten Überblick – er war ein unersetzbarer Poet.» Über seine Meinung zur heutigen Interpretationsweise romantischer Musik befragt, meinte er: «Das menschliche Wesen ist in einem aussergewöhnlichen Dilemma. Es hat von Natur aus unbegrenzte Möglichkeiten, aber nicht sofort und in jedem Moment. Man verlangt von einem Interpreten eine derartig perfekte Präzision, ein grosses Repertoire und eine ungeheure Verfügbarkeit, dass fatalerweise manchmal keine innere Entwicklung, Entfaltung der Musik und des Musikers stattfinden kann; denn es gibt keine Wesen, die alle Gaben im Extrem besitzen. Ich spreche damit nicht von der Musikalität, sondern vom Gedanken, der sich hinter der Musik verbirgt, von der Stille, die der Musik vorausgeht.»
Jean Nyder konnte tausend Farben aus dem Klavier zaubern und den Zuhörer durch das Bewusstmachen des Hintergründigen beglücken. Er konzertierte in der Schweiz, in Frankreich, Portugal und Brasilien.
Zurück von diesen Reisen, wandte er sich einem grossen Schülerkreis zu. Er gab Hausunterricht in Bern, Biel, Neuenburg, Lausanne, Yverdon und Genf und nutzte zum Reisen die Eisenbahn wie in Paris die Metro. Mit freundschaftlicher Liebe und Einfühlungsvermögen verstand er, auch bescheidensten Talenten zu künstlerischem Ausdruck zu verhelfen. Ein ehemaliger Schüler schreibt: «Jeder Mensch gab Jean Nyder ein Rätsel auf, dem er auf den Grund gehen wollte. Der ebenso mathematisch wie psychologisch Begabte versuchte, die menschlichen Gleichungen zu lösen. Er strahle grosse Güte aus, und hatte eine geballte Kraft in sich, die fast jeden anzog. Jean Nyder weigerte sich, Menschen nach äusseren gesellschaftlichen Kriterien einzuteilen; für ihn bildeten alle zusammen einen Organismus, dem er schlichterweise auch angehörte. Er sah im Menschen einen Teil des Kosmos, den er als Künstler interpretierte. Er war ein Magier, der uns die Kunst vorlebte und uns damit entzückte.»
In der Eisenbahn und nach Mitternacht komponierte er. 1968 führte er aus: «Seit vier Jahren habe ich mir angewöhnt, nur drei Stunden zu schlafen. Ich liebe das Komponieren. 128 Klavierstücke sind bis jetzt entstanden. Ich hatte, um alles zu untermauern, zu klären und klassisch zu bleiben den ausgezeichneten Lehrer Charles Chaix, der sehr streng war. Das hat mir erlaubt, herauszusieben, was zu spontan war.»
1964 schrieb Jean Nyder Musik für einen Expo-Film, 1966 für einen Film über den Zirkus Knie, wobei ihn sowohl die Sekundenpräzision, mit der die Musik mit den Filmsequenzen übereinstimmen musste, als auch die Zirkusatmosphäre faszinierten. Zu letzterer sagte er: «Sie ist eine ausserordentliche Lektion moralischen und physischen Gleichgewichts.»
Seine Kammermusikwerke haben eigenwillige Besetzungen, z. B. das 1977 entstandene Quintett mit dem Namen Sphère cubique ist für Flöte, Oboe , Geige, Cello und Cembalo. Farbig und dicht ist die Harmonik, mit der er das im Grunde tonal gehaltene Melodiegewebe aussetzt.
Nach langen Stunden des Komponierens und Unterrichtens regte sich im Nimmermüden auch der Dichter. In den Sechzigerjahren erschienen von ihm drei Bände Gedichte und Prosa: Silence et carrousel, Clavier de couleur und Kaleidoscope. In letzterem steht: «Ich suchte vergeblich eine Gedichtsammlung nach meinem Herzen, so beschloss ich, sie zu schreiben. Silence et carrousel fiel auf mich wie ein vielfarbiger Regenschauer.» Im Interview führt er weiter aus: «Ich sagte mir schon sehr jung, das Glück auf Erden müsste darin bestehen, so stark sich selbst zu sein, um etwas Unersetzliches schaffen zu können. Diese Möglichkeit läge in der Reichweite jedes Menschen, wenn er sich dessen nur bewusst wäre. Ich glaube nämlich nicht, dass Musiker oder Dichter ausserordentliche Menschen sind.»
Jean Nyder fühlte sich vielseitigen Zeitgenossen wie Picasso, Cocteau, Strawinsky und leidenden Vorgängern wie van Gogh, Rimbaud, Baudelaire stark verbunden und kannte ihre Werke sehr gut. In seiner Poesie ist denn auch in starken Farben vom Leiden, von Zirkus und Clowns, vom tragischen Lebenskarussell die Rede; vom Tanz der aufgesetzten Masken und vom tapferen Lächeln, das sich trotz allem hie und da dahinter zeigt.
Das Journal de Bord für Klavier und Violine, entstanden 1977–79, enthält autobiografische Züge. In seiner Widmung an Walter Amadeus Ammann schreibt er: «Ich offeriere dir dieses ‹Stürmische Tagebuch›. Unnötig, es ins Feuer zu werfen! Es würde geradewegs wieder und wieder heraustreten. Erst vor zwei Jahren entschloss ich mich, es ganz heiss auszugraben, daran meine Pfeife anzuzünden, meine Freundschaften, schwarzen Ängste und weissen Freuden wieder aufleben zu lassen. Übrigens – du weisst es gut – ist mein Werk ein indirektes Bekenntnis, ein ‹maskierter Schrei›, der sich trotzdem aus nächster Nähe ausstossen lässt. Die fünf Karten oder Standarten, die du unter den Augen hast, habe ich gemeisselt, graviert indem ich an dein subtiles Ohr und an deinen diabolisch-magischen Bogenstrich dachte … mögen unsere Blindheiten von Geburt an uns erlauben, noch ein kleines Stück der Ewigkeit an der warmen Sonne der freien Heiterkeiten und aller möglichen Geheimnisse entlang zu gehen.
verfasst am 6. Juni 1982 von Amadé und Iniga Ammann
Notice biographique
Ernest Jean NIEDERHAUSER, fils de Alfred Ernest Niederhauser et de Marie Suzanne, née Richter, est né le 18 octobre 1923.
Originaire de Neuchâtel, il a vécu toute sa vie dans cette ville, dans le même immeuble, chez ses parents, à la rue de la Côte 107. Originaire de Neuchâtel et Wyssachen BE.
Etudes primaires à Neuchâtel (Collège des Parcs) et secondaires (Collège latin).
A commencé ses études de piano à l’âge de 4 ans. Son premier professeur fut à Neuchâtel M. Pierre Jacot. Poursuivit sa formation au Conservatoire de Genève avec le pianiste Johny Aubert et Charles Chaix pour la composition.
Il se rendit ensuite à l’Ecole normale de musique à Paris, où il fut entre autres, l’élève du grand pianiste Alfred Cortot.
Revenant en Suisse, Jean NYDER (son nom «de guerre») commença une carrière de professeur et par la suite de compositeur. Il aimait la musique de chambre et donna plus de 300 concerts en duo avec le violoniste Paul Druey de Genève.
Deux poêmes, extrait de
JEAN NYDER, LE CLAVIER DE COULEUR
Un cœur sous la neige
La cathédrale en sucre où l’orgue fraîche joue
Ses gammes de glace, ses violets accords ;
Un cœur très étonné dans la gorge s’enroue,
Se cogne à l’infini dans un chaud corps à corps.
Cosmos bien déguisé; j’aime son nouveau masque,
Son bruit de silence… plus loin que tout lointain;
Un théâtre d’amour se neige dans le risque,
Me dit son verbe rouge au plus glacé matin.
Je savoure mon luxe et mon costume mauve.
Ma guitare est cassée et pourtant chante mieux!
Je recolle mon cœur qui par le toit se sauve…
… Son soleil est en fête et flambe à qui mieux mieux.
Neige ! Sous toi tressaille un lourd « Jadis » en miette…
… Me hurle l’oiseau mort un presque bleu-futur.
Dans le port un navire attend; il fait la sieste;
Et si le banjo dort… Il rêve. J’en suis sûr.
Il me reste ma peau pour sculpter une danse…
Et mon cœur qui d’amour se conjugue au présent.
Ma maison rit sous neige et j’ai bien de la chance
D’être enterré tout vif et pourtant… si vivant!!
Tout compte fait…
Clavier de couleur est la nature
Et virtuose l’homme apprenti;
Mais chef-d’œuvre sera la rature
Qui donne vie au décor abruti.
Clavier de sons: Musique du vide
Et virtuose l’homme ignorant
Qui tisse un arpège et le dévide
En jouant sa gamme à contre-courant.
Clavier d’Aujourd’hui: nos ris, nos larmes
Et virtuose l’homme inconnu
Qui sur la scène croise les armes
Pour mieux rertanspercer le décor nu.
Clavier de Toujours: la mort, la vie
Et virtuose l’homme hasardeux
Qui pressent qu’au festin le convie
Son court poème qui danse entre deux.
Clavier aux mille feux: Toi ! folle poésie…
Et lentes à tes yeux nos virtuosités ;
Mais sans fin, sans repos: Ton règne de magie
Qui redonne à l’instant couleur d’Eternité.
«Le chiese di Assisi» von Walter Furrer
Heinz-Roland Schneeberger führte die Komposition «Le chiese di Assisi, nove visioni musicali per organo» am 13. Juli 1973 erstmals vollständig auf. Eine Begegnung.
Beatrice Wolf-Furrer
- 08. Jan. 2016
1973 hielt Walter Furrer (1902–1978) den tiefen Eindruck, den die neun Kirchen der umbrischen Stadt Assisi in ihm ausgelöst hatten, in der Komposition Le chiese di Assisi, nove visioni musicali per organo fest. Obwohl die Orgel nicht sein hauptsächliches Medium war, griff er, sobald es um die musikalische Umsetzung ausgeprägt spiritualistischer Erlebnisse ging, unweigerlich zu diesem Instrument.
Da ich mich seit 2014 intensiv um die Wiederbelebung des – von der Burgerbibliothek Bern verwalteten – Furrerschen Oeuvres bemühe, sind mir auch Kontakte mit Musikern wichtig, die meinen Vater noch gekannt haben. Von dem Organisten Heinz-Roland Schneeberger wusste ich, dass er noch lebte, doch gelang es mir zunächst nicht, ihn ausfindig zu machen, auch im Internet war er nicht präsent. Schliesslich erfuhr ich aus Fachkreisen, dass er sich in der Altersresidenz Bellevue-Park in Thun aufhalte.
Und so kam es am Samstagnachmittag, dem 5. Dezember 2015, in der eleganten Lounge des Bellevue-Parks zu einer persönlichen Unterhaltung. Unterstützt wurde ich dabei von Beat Sieber, dem Geschäftsführer des Berner Kammerorchesters und Sekretär des im Juli 2015 gegründeten Fördervereins Komponist Walter Furrer, der das Gespräch fotografisch und filmisch festhielt und sich auch mit einigen Fragen daran beteiligte.
Während des knapp einstündigen Gesprächs erfuhr ich einige wichtige Details. Der Organist, 1928 geboren, liess sich am Seminar Muristalden zum Primarlehrer ausbilden und war bis zu seiner Pensionierung 1993 an verschiedenen Schulen in der Schweiz tätig, die wichtigsten Stationen waren St. Moritz und Herisau.
Als Fünfzehnjähriger kam er erstmals mit dem Instrument in Kontakt, dem er ein Leben lang treu bleiben sollte. Am Seminar, in dem, wie damals üblich, auch Gottesdienste mit musikalischer Umrahmung stattfanden, erhielt er seinen ersten Unterricht. Später setzte er am Konservatorium Zürich seine Orgelstudien fort, wo der damalige Fraumünster-Organist Heinrich Funk sein Lehrer war, und bei Heinrich Gurtner, dem langjährigen Organisten des Berner Münsters, erwarb er schliesslich das Konzertdiplom. In der Folge entfaltete er, neben dem pädagogischen Brotberuf, eine rege Konzerttätigkeit als Organist in der ganzen Schweiz und teilweise auch im Ausland.
Zurück zu Walter Furrer: In den sechziger Jahren lernte er durch seine zweite Ehefrau, die Sopranistin Margreth Furrer-Vogt, Heinz-Roland Schneeberger kennen, der zum Hauptinterpreten seiner Orgelkompositionen wurde. Sie hatte schon längere Zeit mit Schneeberger zusammengearbeitet und sich dabei insbesondere mit Kompositionen von Hans Studer profiliert. Walter Furrer war vom Orgelspiel Schneebergers begeistert und machte ihn mit seinem eingangs erwähnten Werk Le chiese di Assisi, nove visioni musicali per organo bekannt.
Am 13. Juli 1973 hob Heinz-Roland Schneeberger in der Lausanner Kathedrale den gesamten Chiese-Zyklus aus der Taufe. Am 2. August des gleichen Jahres brachte er ihn in der St. Baafskathedraal in Gent (Belgien) im Rahmen eines grossen Orgelkonzerts, bei dem, wie sich der Organist noch genau erinnert, auch das Ehepaar Furrer-Vogt anwesend war. 1974 und 1975 folgten Aufführngen im Berner Münster sowie in der Kathedrale Chur, wobei nur Teile der Chiese-Komposition dargeboten wurden. Nach dem gleichen Prinzip verfuhr Schneeberger auch in den USA, wo er im Oktober 1980, also gut zweieinhalb Jahre nach Walter Furrers Tod, an vier Aufführungsorten jeweils die auf die Kirchen Santa Chiara und San Rufino bezogenen visioni spielte.
Dieser Kontakt war, wie der Organist berichtet, im Engadin durch einen guten Bekannten, den nach Amerika ausgewanderten Schweizer Organisten Frank Herand, zustande gekommen. Dieser organisierte die vier Konzerte, und zwar unter folgenden zwei Bedingungen: Es sollte «kein Bach» gespielt und ein zeitgenössischer Schweizer Komponist vorgestellt werden. So kam es, dass die beiden genannten visioni auch in überseeischem Gebiet erklangen.
Es sei noch erwähnt, dass Heinz-Roland Schneeberger auch den 142. Psalm für Sopran und Orgel, den Walter Furrer 1967 unter dem Eindruck des Sechs-Tage-Krieges schrieb, zusammen mit Margreth Furrer-Vogt gestaltete. Er erinnere sich noch genau an das Konzert, das am 28. August 1970 in der Schlosskirche Interlaken stattfand und dem Komponisten wie den Interpreten viel Anerkennung einbrachte.
Wie Walter Furrer als Mensch auf ihn gewirkt habe, fragte ich abschliessend den Organisten. Impulsiv und ungeduldig sei er gewesen, antwortete Herr Schneeberger, und beim Orgelspiel habe er ihn durch hörbare Reaktionen bisweilen etwas gestört. Aber im grossen Ganzen habe er ihn gemocht.
Vielen Dank, lieber Herr Schneeberger, dass Sie dieses Gespräch ermöglicht haben.
Walter Furrer
Furrer wurde am 28. Juli 1902 in Plauen im Vogtland geboren. Seine Eltern waren der Schweizer Ingenieur Adolf Furrer und Martha Furrer-Riedel, die älteste Tochter des Lehrers und vogtländischen Mundartdichters Louis Riedel.
«Ausgezeichnet, aber er übt zuviel» (SMZ 11/2014, S. 5 f., PDF)
Beatrice Wolf-Furrers Zusammenfassung von Walter Furrers autobiografischen Aufzeichnungen «Meine Studienjahre in Paris»
Ein zu Unrecht vergessener Komponist (SMZ Januar/Februar 2016, Print, PDF)
Notiz zu Leben und Werk Walter Furrers (1902-1978), eines zu Unrecht vergessenen Schweizer Komponisten von Beatrice Wolf-Furrer