Mahler-Lieder neu erlebt

Lisa Batiashvili und Ronald Kornfeil haben fünf bekannte Lieder für Violine und Klavier gesetzt.

Ging heut morgen übers Feld … Foto: Tanguy Sauvin / Unsplash (s. unten)

Wenn wir Mahler-Lieder, die wir so gut vom Hören kennen, dank der Bearbeitung von Ronald Kornfeil und Lisa Batiashvili selber spielen können, dringt der Reichtum der harmonischen und ausdrucksmässigen Mittel dieser Kompositionsweise richtig ins Bewusstsein und lässt uns tief eintauchen in die Gefühlswelt der Lieder. Die Gesangspartien sind geschickt auf die beiden Instrumente verteilt, die Orchesterpartien durchsichtig reduziert auf das Wesentliche, so dass sich eine runde Darstellung ergibt. Schade, dass im Heft die Texte nicht abgedruckt sind. Es wäre sogar wünschenswert, wenn die Worte in der Partitur bei den entsprechenden Noten stünden. Wer sich das mühsam mit Hilfe der Originalfassungen zusammenstellt, vermag die Lieder farbiger zu gestalten.

Enthalten sind: Erinnerung, Frühlingsmorgen, Ging heut morgen übers Feld, Das irdische Leben, Urlicht.
 

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Gustav Mahler: Ging heut morgen übers Feld, Fünf ausgewählte Lieder für Violine und Klavier arrangiert von Lisa Batiashvili, UE 36432, € 21.95, Universal Edition, Wien

 

 

In Luzern folgt auf Gaffigan Sanderling

Michael Sanderling wird ab der Saison 2021/22 Chefdirigent des Luzerner Sinfonieorchesters. Er tritt damit die Nachfolge des derzeitigen Chefdirigenten James Gaffigan an.

Michael Sanderling (Foto: Vera Hartmann)

Als langjähriger Chefdirigent der Dresdner Philharmonie hat sich Michael Sanderling international einen Namen erarbeitet. Als Gast-Dirigent von Klangkörpern wie der Berliner Philharmoniker konnte Sanderling in den letzten Jahren ebenfalls Erfolge feiern. Der gebürtige Berliner mit Jahrgang 1967 wurde vom Trägerverein Luzerner Sinfonieorchester einstimmig gewählt.

Erstmals dirigierte Sanderling das Luzerner Sinfonieorchester 2010 in einem Programm mit Werken von Schubert und Brahms; 2014 ein weiteres Projekt mit Partituren von Weill und Schostakowitsch. Im März 2019 leitete er zwei Programme in Luzern sowie die «Residenz» des Luzerner Sinfonieorchesters am Tongyeong Festival (Südkorea), Im Mai 2019 übernahm Sanderling in Luzern kurzfristig die Leitung von Abonnementskonzerten mit der 5. Sinfonie von Schostakowitsch.

Der zukünftige Chefdirigent des Luzerner Sinfonieorchesters deckt nicht nur das bestehende Kernrepertoire des Luzerner Sinfonieorchesters ab, er steht laut der Medienmitteilung auch für eine weitere Entwicklung des Klangkörpers in Richtung des spätromantischen Repertoires wie Bruckner, Mahler und Strauss.

Chamber Music Competition zeichnet Ensembles aus

Die Swiss Chamber Music Competition hat drei Ensembles ausgezeichnet. Sie erhalten Geldpreise und das Recht, einen Kompositionsauftrag zu erteilen. Es sind dies das Nerida Quartett (Streichquartett), das Duo Sikrona (Violine, Klavier) und das Atreus Trio (Violine, Violoncello, Klavier).

Nerida Quartett (Bild: Facebook)

Die drei Erstplatzierten gewinnen Preise von 5000, 3000 und 2000 Franken. Ausserdem können sie je einen von der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia finanzierten Kompositionsauftrag an einen Nachwuchskomponisten ihrer Wahl erteilen. Die drei Werke werden anlässlich des Festivals in Adelboden (11. bis 20. September 2020) uraufgeführt.

Der Orpheus Wettbewerb wird an allen schweizerischen Musikhochschulen mit dem Zweck durchgeführt, Nachwuchsensembles am Start ihrer kammermusikalischen Berufslaufbahn zu fördern. Das Vorspiel aller angemeldeten zwanzig Ensembles fand dieses Jahr an der Zürcher Hochschule der Künste statt.

Die fünfköpfige Jury unter der Leitung des Cellisten und Komponisten Thomas Demenga wählte die Ensembles aus, die am 10. Swiss Chamber Music Festival Adelboden und am Festival Musikdorf Ernen 2020 auftreten können. Weitere für das Swiss Chamber Music Festival in Adelboden nominierte Ensembles sind das Berchtold Piano Trio und das Trio Ernest.

Ensemble Proton hat einen Geschäftsführer

Das Ensemble Proton Bern hat einen Geschäftsführer bestimmt. Ab Januar 2020 übernimmt der Berner Kulturmanager Peter Erismann die neugeschaffene Stelle. Er wird unter anderem für das Budget und das Fundraising verantwortlich sein.

Peter Erismann (Bild: zVg)

Erismann wird er das achtköpfige Ensemble auch bei der künstlerischen Weiterentwicklung und besonders in spartenübergreifenden Projekten begleiten und unterstützen. Proton ist seit zehn Jahren für Uraufführungen (unter anderem als Ensemble in Residence in der Dampfzentrale Bern) im Bereich der zeitgenössischen klassischen Musik bekannt geworden und hat dieses Jahr den Musikpreis des Kantons Bern erhalten.

Der 58-jährige Peter Erismann stammt aus einer Musikerfamilie und war viele Jahre als Ausstellungsleiter, Kurator und Herausgeber an der Schweizerischen Nationalbibliothek/Schweizerisches Literaturarchiv tätig. Er ist in Bern gut vernetzt und engagiert sich unter anderem im Vorstand des Vereins Cinéville/Kino Rex, für dessen Umbau er verantwortlich war. Zuletzt wirkte er über vier Jahre als Geschäftsführer des Aargauer Kuratoriums in Aarau.

ISCM erstmals in Frauenhand

An der Generalversammlung der International Society for Contemporary Music (ISCM) ist erstmals in der 97-jährigen Geschichte eine Frau zur Präsidentin gewählt worden, die Neuseeländerin Glenda Keam.

v.l.: Hasnas, Smetanová, Oteri, Keam, Fukui, Kentros (Bild: zVg)

Keam (ISCM New Zealand) folgt auf den scheidenden Peter Swinnen (ISCM Flanders). Neuer Vizepräsident ist der US-Amerikaner Frank J. Oteri (New Music USA). Neu in den Vorstand gewählt wurde Irina Hasnaş (ISCM Romania). Die weiteren Vorstandsmitglieder sind Tomoko Fukui (ISCM Japan), George Kentros (ISCM Sweden) und Olga Smetanova (Generalsekretärin, ISCM Slovakia).

Glenda Keam wird für die Austragung der ISCM World Music Days 2020 in Neuseeland verantwortlich sein. Die erste ISCM-Präsidentin stammt aus dem Land, das in der Neuzeit als erstes das Frauenstimmrecht eingeführt hat, und durch ihre Wahl 2019 wird die ISCM bei ihrem 100-Jahre-Jubiläum 2022 weiblich präsidiert sein.

Die International Society for Contemporary Music ISCM geht auf eine Initiative der Zweiten Wiener Schule während der Salzburger Festspiele 1922 zurück. Zu ihren Gründungsmitgliedern gehörten unter anderen die Komponisten Bartok, Hindemith, Honegger, Milhaud, Ravel, Berg, Schönberg, Strawinsky und Webern. Sie organisiert die alljährlich in einem anderen Land stattfindenden Weltmusiktage (World Music Days WMD).

Bühnenverband unter neuer Leitung

Der Schweizerische Bühnenverband hat Dieter Kaegi zu seinem neuen Präsidenten gewählt. Er tritt die Nachfolge von Stephan Märki an, der die Intendanz beim Staatstheater Cottbus übernehmen wird und damit die Schweiz verlässt.

Dieter Kaegi (Bild: Marshall Light Studio)

Dieter Kaegi ist seit 2012 Intendant von TOBS Theater Orchester Biel Solothurn und seit 2016 Mitglied im Ausschuss des Schweizerischen Bühnenverbandes (SBV).  Er ist in Zürich geboren und studierte Anglistik und Musikwissenschaft in Zürich, Paris und London. Seine Theaterlaufbahn begann er am Opernhaus Zürich, darauf folgten Stationen an der English National Opera, der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf, der Opéra de Monte-Carlo, den Salzburger Festspielen und am Festival in Aix-en-Provençe.

Er war 12 Jahre Direktor der Opera Ireland in Dublin und ist seit 2012 Intendant von Theater Orchester Biel Solothurn. Als Regisseur war Dieter Kaegi in weit über 100 Inszenierungen an den bedeutendsten Opernhäusern und Festivals in Europa, Amerika und Asien tätig.

Der SBV ist die Dachorganisation der bedeutendsten Berufstheater in der Schweiz. Er vereinigt 74 Theater in der Deutschschweiz, der Romandie und dem Tessin. 17 Betriebe befinden sich in der deutschen Schweiz, 1 Theater befindet sich im Tessin und 56 Bühnen liegen im französischen Landesteil und bilden in der Fédération Romande des Arts de la Scène (FRAS) einen eigenen Verband. Die FRAS ist ihrerseits Mitglied des SBV.

 

Kontroverse um Basler Musikförderung

Eine Interessensgemeinschaft Basler Musikschaffender fordert die Gleichbehandlung aller Musikgenres in der Förderung der Stadt. Geplant ist dazu auch eine Volksinitiative.

Foto: tadicc1989/stock.adobe.com

Laut einem Bericht der bz – Zeitung für die Region Basel stellt sich die IG auf den Standpunkt, dass in der Musikförderug der Stadt ein systemisches Ungleichgewicht herrscht, das Pop, Rock, Jazz und Artverwandtes benachteilige. Mit einem Brief an das Basler Präsidialdepartement reagiert die IG damit auch auf das vorgesehene Kulturleitbild 2020-2025 der Stadt.

Die IG, die in Basel im Vergleich zu andern Kantonen Nachholbedarf in der Aufstellung der Musikförderung sieht, plant eine kantonale Volksinitiative, welche die Musikförderung der Stadt von unten verbindlich anstossen soll.

Originalartikel:
https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/grundlegende-veraenderung-in-der-basler-musikfoerderung-ig-will-gleichbehandlung-aller-musikgenres-135956025
 

Blaskapellen im Tessin

Das Zentrum für Dialektologie und Ethnographie (CDE) in Bellinzona stellt eine neue Publikation vor, die sich mit der Geschichte der Bandella befasst.

© Centro di dialettologia e di etnografia, Foto M. Aroldi (Bildlegende siehe unten),SMPV

Bei Festen und Patrozinien der italienischsprachigen Schweiz ist sie auch heute noch zuweilen zu hören: die Bandella. In der Vergangenheit waren diese kleinen Blaskapellen praktisch überall anzutreffen und im Alltag der Menschen fest verankert. Beim Karneval oder bei Dorffesten, bei politischen Versammlungen und Sportanläs-sen waren sie allgegenwärtig, bei Hochzeiten sogar unverzichtbar. Zudem unterhielten sie die Menschen auf manchen Ausflügen. Überall, wo die Bandella in Erscheinung trat, trug sie zur allgemeinen Heiterkeit bei und wurde zu einem wichtigen Teil des gemeinsamen kulturellen Erbes der italienischsprachigen Schweiz.

Doch war bisher kaum etwas über die Ursprünge dieser Musiktradition bekannt. Wie viele Bandelle gab es in früheren Zeiten, wer waren die wichtigsten Protagonisten und welches Repertoire spielten diese? Auch wusste man bisher kaum, welche vergleichbaren musikalischen Ensembles es in früheren Zeiten im Alpenraum und im nördlichen Italien gegeben hat.

Eine neue Publikation des Zentrums für Dialektologie und Ethnographie (CDE) in Bellinzona bringt nun Licht in dieses wenig erforschte kulturelle Phänomen des Tessins und des italienischsprachigen Graubündens. Sie be-handelt das Thema aus drei Perspektiven: historisch, kulturanthropologisch und musikalisch. Das Projekt wurde in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Musik realisiert und förderte überraschende Ergebnisse über die Geschichte aber auch die heutige Realität der Bandella zutage. Die Tradition der kleinen Blasmusikformation ist in der italienischsprachigen Schweiz noch immer lebendig und hat durchaus das Potenzial zur Erneuerung.

So fanden die Forschenden heraus, dass die Bandella in ihrer langen Geschichte von vielfachen Impulsen ge-prägt worden ist. Am Anfang stand und steht auch heute eine solide Ausbildung der musizierenden Protagonis-ten. Diese erfolgte einst durch das Militär, heute vor allem in Kursen im Bereich der Blasmusik. Der Tourismus hat die Bandella als identitätsstiftende musikalische Praxis sehr gefördert und so zu ihrem Überleben beigetra-gen. Zudem konnte sich die Bandella damit behaupten, dass sie das Repertoire immer wieder den Bedürfnissen der Gegenwart angepasst hat, mit der Absicht, dem Publikum eine zeitgemässe und gute Unterhaltung zu bie-ten. Die Bandella ist auch heute noch so lebendig, weil sie trotz vielfältiger Modeströmungen das Prinzip des spontanen Musizierens in fröhlicher Atmosphäre nie aufgegeben hat.
 

Buchpräsentation in Bellinzona

Die Publikation wird vorgestellt am Samstag, 23. November 2019, 16:30 Uhr
im Palazzo Civico, Piazza Nosetto 5, Bellinzona

Grussworte von:
· Carlo Piccardi, Musikwissenschaftler
· Paolo Ostinelli, Direktor des Centro di dialettologia e di etnografia
· den Autoren des Buches: Aldo Sandmeier, Emanuele Delucchi und Johannes Rühl (Hoch-schule Luzern – Musik)

Den im Anschluss stattfindenden Apéro begleiten die legendäre Bandella di Tremona und spontan mitspielende Musikerinnen und Musikern.
 

Bildlegende

Foto der «Maggiolata» in Caslano, 1986, mit der Kostümgruppe Malcantonesi und der Bandella di Banco

Angaben zum Buch

Note di bandella. Percorsi nel patrimonio musicale della Svizzera italiana
Centro di dialettologia e di etnografia, Bellinzona 2019, 225 S., 18 x 25 cm, CHF 30.-.
ISBN 978-88-944285-2-0

mit Beiträgen von Aldo Sandmeier, Emanuele Delucchi und Johannes Rühl

In deutscher Sprache werden Auszüge des Buches ab April 2020 elektronisch verfügbar sein auf der Projektwebseite der Hochschule Luzern (https://www.hslu.ch/de-ch/hochschule-luzern/forschung/projekte/detail/?pid=4076).
 

Zurückgebeamt in den Sozialismus

Mit Konzert, Film und Diskussion blickt das Collegium Novum Zürich auf die Musikszene der DDR zurück.

So geht Zeitreise: Am Freitag bin ich noch tief im deutschen Osten, in der alten Residenzstadt Dresden bei den leutseligen und traditionsbewussten Sachsen, die sich partout nicht dem «Wessisprech» anpassen wollen und das Verdikt der fernen Westmedien, sie seien für den Faschismus anfällig, freundlich lächelnd wegstecken. Am Samstag dann der Flug mit der Swiss aus dem ehemaligen Tal der Ahnungslosen (kein Westfernsehen) direkt auf die heutige Insel der Glückseligen (präzedenzloser Wohlstand). Doch hier werde ich gleich wieder um dreissig Jahre in eben jenes Tal und die angrenzenden Gebiete zurückgebeamt, die damals noch keine blühenden Landschaften waren. Da finde sich einer noch zurecht.

Ziel der Zeitreise war das Radiostudio Zürich mit der sechsstündigen Veranstaltungsreihe des Collegium Novum Zürich (CNZ) «… und der Zukunft zugewandt …» (eine Zeile aus der DDR-Nationalhymne). Thema war das, was bis 1989 «DDR-Musik» oder allgemein «DDR-Kultur» hiess und heute nur noch Gegenstand von Erinnerung ist – verbunden je nach Gesichtspunkt mit Erleichterung oder mit nostalgischen Gefühlen. Beides schwang im umfangreichen Programm mit zwei Konzertblöcken, zwei Filmen und einer Podiumsdiskussion mit. Der Abend trug die Handschrift des noch in der DDR geborenen Jens Schubbe, der nun nach neun Jahren die Leitung des CNZ an Johannes Knapp abgibt und nach Deutschland zurückkehrt, um bei der Dresdner Philharmonie als Dramaturg zu arbeiten. In Dresden wurde das Konzert in der Zürcher Besetzung inzwischen wiederholt – am symbolbeladenen Datum des 9. November.

Wenn eine ganze Kultur unter die Räder kommt

Er möchte mit diesem Projekt ein Bewusstsein für Historizität schaffen, sagt Schubbe. Seine Idee: Eine über Jahrzehnte gewachsene Kulturlandschaft sollte trotz ihren eklatanten Problemen und Widersprüchen nicht einfach im Orkus der Geschichte verschwinden. Tatsächlich ist die zeitgenössische Musik der DDR nach der Wende 1989 auf ähnliche Weise abgewickelt worden wie die Wirtschaft; der kapitalstarke westdeutsche Kulturbetrieb hat einiges davon integriert, das meiste aber beiseitegeschoben und damit dem Vergessen überantwortet.

Vieles, was in diesem deutschen Sozialismus produziert wurde, ist zu Recht untergegangen. Von Staatskunst mit populistischen Maximen und stupiden, wenn auch fortschrittlich verkleideten Erziehungsparolen wie einst bei Hitler und Stalin hatten viele DDR-Bürger die Nase voll. Die etwas Wacheren unter den Komponisten fühlten sich ohnehin andauernd gegängelt. Daran änderte sich grundsätzlich auch nichts, wenn eine parteioffizielle Autorität wie Paul Dessau sein Prestige in die Waagschale legte, um den unzufriedenen Nachwuchs hin und wieder gegen sture Kulturfunktionäre zu verteidigen.

Als dann in den Siebzigerjahren die Sozialistische Einheitspartei (SED) die Vorgaben für die Künstler ein wenig lockerte, entstand das, was als «DDR-Avantgarde» auch im Westen Aufmerksamkeit erregte: Werke, in denen die knappen Freiräume zur Entfaltung der individuellen Kreativität genutzt und sogar erweitert wurden. In ihnen manifestiert sich die für die Kunst in einer Diktatur charakteristische Dialektik von erzwungener Anpassung und verschlüsselt formuliertem Widerstand. Zu den Protagonisten dieser Entwicklung zählten etwa die aufmüpfigen, mit dem Leipziger Ensemble «Neue Musik Hanns Eisler» verbundenen Komponisten Friedrich Goldmann und Friedrich Schenker, die Berliner Georg Katzer, Paul-Heinz Dittrich und Reiner Bredemeyer und, mit stärker konservativem Einschlag, auch Udo Zimmermann in Dresden.

Widerstand und Abgesang

Stellvertretend für das Schaffen dieser Generation brachte das Collegium Novum unter Jonathan Stockhammer nun drei bedeutende Werke zur Aufführung. Die Kammermusik II von Paul-Heinz Dittrich von 1973, ein energiegeladener, streitbarer Dialog zwischen Tonband und kleinem Ensemble, enthält mit denaturierten Klängen, Mikrotönen und bedingungslos subjektivem Tonfall alles, was in der DDR damals noch als westliche Dekadenz galt. La fabbrica abbandonata III von Georg Katzer von 2010 ist eine postmoderne Antwort auf Luigi Nonos revolutionäre Komposition La fabbrica illuminata und zugleich ein symbolstarker Abgesang auf ein bankrottes Gesellschaftssystem. Das Stück basiert auf einem Text von Wolfgang Hilbig aus den Siebzigerjahren, der den industriellen Zerfall in der DDR in eine gespenstische Untergangsvision packt. Der lange erste Teil ist ein beschreibendes Monodram (Sprecher: Peter Schweiger), der Schluss mit seiner exponierten Sopranpartie ein Stück surreale Poesie (mit akrobatischer Präzision: Catriona Bühler).

Als drittes Werk erklang die Sonata a quattro, komponiert 1989 von Friedrich Goldmann. Das Stück für viermal vier Instrumente exponiert die Instrumentenfamilien Holz- und Blechbläser, Streicher und Schlagzeug in ihrer spezifischen Klanglichkeit und mischt sie schrittweise zu immer neuen Konstellationen. Der latente Formalismus dieser Anordnung wird konterkariert durch eine Vielzahl an Farben und einen orgiastischen Tuttimoment. Mit seinem raumgreifenden Gestus nimmt das Werk deutlich hörbar Abschied von der Enge der Vergangenheit.

Desertiert in Boswil

Einer, dem das bisschen Freiraum in der DDR nicht reichte, war Wilfried Jentzsch. Er nutzte 1973 einen Aufenthalt im Künstlerhaus Boswil, damals einer der wenigen von den SED-Kulturoberen akzeptierten Auftrittsorte für DDR-Avantgardisten im Westen, um sich aus dem Arbeiter- und Bauernparadies zu verabschieden. Nun war er in Zürich zu Gast und schilderte im Gespräch mit Jens Schubbe und Johannes Knapp anschaulich die damalige Situation und die Beweggründe der Flucht.

Jentzsch verzichtete auf die existenzsichernde Zusammenarbeit mit sogenannten Kulturbrigaden aus den Betrieben – die Partei hatte das unter der Bezeichnung «Bitterfelder Weg» zur kulturpolitischen Richtlinie gemacht – und schlug sich lieber auf dem freien Markt im Westen durch. In Paris kam er in Kontakt mit Xenakis und begann elektronische Musik zu komponieren. Dann, nach der Wende, die Heimkehr in ein fremdes Land, das doch irgendwie gleich geblieben war: Die Musikhochschule Dresden berief ihn zum Leiter des Elektronischen Studios. Von Jentzsch wurde in Zürich die Komposition Tamblingan für elektronische Klänge und Videoprojektion vorgestellt, in der digitale Klangsignale und abstrakte Pixelbilder korrelieren.

Surreale Bilder aus einer freudlosen Gesellschaft

Zwei Filme des 2017 verstorbenen DDR-Filmemachers Frank Schleinstein ergänzten das Programm. Erdspiel (1990) ist ein beklemmender Rückblick auf eine freudlose Gesellschaft. Nachkriegselend, marode Industrielandschaften, eine sterile Öffentlichkeit und die Suche des Ichs nach einem lebenswerten sozialen Ort werden zu surrealen Bildfolgen verdichtet. Ein Porträtfilm über Friedrich Goldmann gibt trotz mancher Mängel – oft wurden einfach Tonbandinterviews mit Bildern unterlegt – einen guten Einblick in die damalige Kulturszene. Auch Prominenzen kommen zu Wort. Die Regisseurin Ruth Berghaus erzählt etwa, dass bei Goldmann oft Musiker verkehrten, die sich in ihrem Land «nicht wohl fühlten». Sie nennt Henze und Nono, unterschlägt aber, ganz Nomenklaturakünstlerin, die Komponisten im eigenen Land. «Wir da oben, ihr da unten»: Das war eben auch im Sozialismus nicht unbekannt.

Neuronale Grundlagen der Schallwahrnehmung

Forschende vom Departement Biomedizin an der Universität Basel haben die neuronalen Grundlagen der Schallwahrnehmung und Klangunterscheidung untersucht, und zwar unter komplexen akustischen Bedingungen.

Pyramiden-Neuron der Maus. Quelle s. unten,SMPV

Trotz der Bedeutung des Gehörs für unsere Wahrnehmung ist relativ wenig darüber bekannt, wie unser Gehirn akustische Signale verarbeitet und ihnen Sinn verleiht. Klar ist: Je präziser wir Geräuschmuster unterscheiden können, desto besser ist unser Gehör. Doch wie gelingt es dem Gehirn, zwischen relevanten und weniger relevanten Informationen zu unterscheiden – besonders in einer Umgebung mit vielen Nebengeräuschen?

Forschende unter Leitung von Tania Rinaldi Barkat vom Departement Biomedizin an der Universität Basel haben die neuronalen Grundlagen der Schallwahrnehmung und Klangunterscheidung unter komplexen akustischen Bedingungen untersucht. Im Zentrum stand dabei die Erforschung des auditiven Cortex – des «Hörgehirns» Gemessen wurden die jeweiligen Aktivitätsmuster im Gehirn einer Maus.

Die Unterscheidung von Tönen wird bekanntlich schwieriger, je näher sie im Frequenzspektrum beieinanderliegen. Zunächst nahmen die Forschenden an, dass ein zusätzliches Rauschen eine solche Höraufgabe noch erschweren könnte. Tatsächlich ist es aber umgekehrt, wie sich herausstellte: Das Team konnte nachweisen, dass die Fähigkeit des Gehörs zur Unterscheidung von subtilen Tonunterschieden besser wurde, wenn noch ein weisses Rauschen im Hintergrund dazukam. Im Vergleich zu einer stillen Umgebung erleichterte das Rauschen somit die auditive Wahrnehmung.

Die Messdaten der Forschungsgruppe zeigten, dass das Rauschen die Aktivität der Nervenzellen in den Versuchstieren deutlich hemmt. Paradoxerweise führte diese Unterdrückung des neuronalen Erregungsmusters zu einer präziseren Wahrnehmung der reinen Töne.

Um zu bestätigen, dass bei den Versuchen allein der auditive Cortex und nicht noch weitere Hirnareale für die neuronale Aktivität und Tonwahrnehmung zuständig waren, nutzen die Forschenden die lichtgesteuerte Technik der Optogenetik. Ihre Erkenntnisse könnten möglicherweise genutzt werden, um die auditive Wahrnehmung in Situationen zu verbessern, in denen Geräusche nur schwer zu unterscheiden sind.

Originalartikel:
Rasmus Kordt Christensen, Henrik Lindén, Mari Nakamura, Tania Rinaldi Barkat: «White noise background improves tone discrimination by suppressing cortical tuning curves», Cell Reports (2019), doi: 10.1016/j.celrep.2019.10.049
 

Bildautoren: Wei-Chung Allen Lee, Hayden Huang, Guoping Feng, Joshua R. Sanes, Emery N. Brown, Peter T. So, Elly Nedivi. Quelle: wikimedia commons CC BY 2.5

Verspiegelt, verschachtelt, verstellt

Es ist schwierig zu umreissen, wovon das neue Musiktheater von Martin Derungs eigentlich handelt. So fern ist es und rätselhaft. Uraufgeführt wurde es am 6. und 7. November im Theater Rigiblick in Zürich.

Ein seltsamer Text, eine seltsame Musik, eine seltsame Inszenierung, insgesamt ein seltsames Konstrukt voller Brüche. Das könnte interessant sein! Dieses Musiktheater mit dem Titel Lebewohl, Gute Reise.

Erst einmal ist man jedoch ratlos, was da auf einen zukommt. Da ist zunächst dieses dramatische Poem von Gertrud Leutenegger aus dem Jahr 1980. Von einem Ich ist darin die Rede, das in einem Sarg erwacht und offenbar in mehreren Doppelgängerinnen existiert, als untote Frau (Leila Pfister), Mutter und Hure (Meret Roth), Faunäffin und Grosse Königin (Eveline Inès Bill). Daneben erscheint eine Trias von Ältesten (Madeleine Merz, Florian Glaus, Arion Rudari), die nacheinander umkommen, und schliesslich das Freundespaar aus dem sumerischen Epos, Gilgamesch (Flurin Caduff) und Enkidu (Daniel Camille Bentz) aus der Stadt Uruk. Aber so völlig klar sind die Rollen nicht immer den Darstellerinnen und Darstellern zugeordnet. Insgesamt ist es ein ziemlich roher und archaischer Stoff, aber die uralte mesopotamische Geschichte wird mit Anachronismen durchsetzt. Gilgamesch überlebt zum Beispiel einen Autounfall. Eine komplexe, verschichtete Story also. Wie vertont man das?

Opera povera

Die Komposition von Martin Derungs gibt sich nicht so verspiegelt, sondern karg und im Fluss aufgebrochen. Oft wechseln die Stimmen nach einer kurzen Phrase wieder ins Sprechen, das wiederum zwischen Ruf, Sprechgesang und Rezitation farblich abgestuft bleibt. Spürbar wird eine starke Emphase durchaus, sie kann aber ständig abbrechen. Manchmal sind die Stimmen völlig allein unterwegs, dann werden sie nur von ausgedünnten einstimmigen Tonfolgen verfolgt: Ein paar Flötentöne, ein Mandolinentremolo, etwas Bratsche, Akkordeon oder Glasharmonika, je nachdem. Es sind ausgewählte Klänge, die sich da aneinanderfügen. Dadurch bleibt der Text ziemlich gut verständlich. Hingegen ist es für das elfköpfige Ensemble unter der Leitung von Marc Kissóczy nicht immer einfach, zwischen den langen Pausen jeweils sofort den Ton zu treffen und stabile Linien entstehen zu lassen.

Dabei gibt es wenige heftige Temposchwankungen, alles geht einen ähnlich ruhigen Gang. Derungs war noch nie ein Komponist der zu vielen Töne, und schon mehrmals hat er sich mit dem Wenigsten begnügt. Charakteristisches scheint kaum auf, diese Musik ist nicht gemacht, nicht theaterwirksam. Nur zwei, drei Mal schwingt sie sich zu einem parodistisch anmutenden Tänzchen auf, knappstens auch da. Sonst müssen Andeutungen genügen: Die im Text erwähnte Grosse Trommel erscheint im Ensemble mit einem Schlägchen auf der kleinen. Insofern ist das in seiner Kargheit konsequent und stilvoll. Eine Opera povera geradezu. Was für eine Inszenierung passt dazu?

Schräge Zusammenstellung

Die Bühne sowie die Regie (beides von Giulio Bernardi) geben sich trotz notgedrungen begrenzter Mittel nicht schlicht, vielmehr verschachtelt und verstellt: da ein Hochsitz für das Ich, daneben ein breites Sofa. Wie in Text und Musik kommt auch in dieser Darstellung nur passagenweise Kontinuität auf. Die Erzählung wirkt wie der Text verspiegelt, etwas verfahren, ständig aufgebrochen in mehrere Ebenen. Ist das nun Epos oder Bühnenrealität? Es ist ein Spiel mit mehreren Gesichtern. Die Ältesten treten hinter grossen Stabpuppen auf, die Sängerinnen und Sänger ziehen Masken an, tragen Schminke auf, ja passagenweise wird quasi konzertant aus der Partitur gesungen und gesprochen. Dazu kommt eine Mimin, die deren Handlungsweise stumm kommentiert und zuweilen leitet. So wechseln sich die Personen und die Konstellationen, ohne erkennbares Muster. Auch da wird man etwas allein gelassen. Es war eine glückliche Idee, dass die Sprecherin Dorothee Roth die einzelnen Szenen zuvor kurz einleitet.

Warum das alles in dieser schrägen und rätselhaften Zusammenstellung? Wie haben die drei Künstler miteinander kommuniziert? Fühlen sie sich wohl verstanden? Oder ist es vielleicht diese Heterogenität, die sich «unvermitteln» will. Recht warm wurde ich nicht damit, eher ungeduldig, aber ich blieb doch dran, weil da jemand etwas anderes wagt. Aber was?

Es gehe auch um Liebe: «Wer die Liebe nicht fürchtet, ist unsterblich», heisst es einmal. Und dann gibt es schliesslich noch diese Einblendungen, die dem Stück seinen Titel gaben: Lebewohl, Gute Reise, ein Lied, eines der letzten der Comedian Harmonists, die sich kurz darauf 1935 im Dritten Reich auflösten. «Denk an mich zurück», heisst es dort weiter. Das Lied ist so, wie das Programmheftchen ankündigt, der Auftakt zu einer Reise in die Unterwelt. Die Geschichte im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus zu lesen, scheint freilich wenig schlüssig. Aber ein Grundgeschmack ist vielleicht doch wahrnehmbar, irgendwie gruftig …

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Die Besetzung der Uraufführung am 6. und 7. November im Theater Rigiblick in Zürich.
Foto: zVg

Esther Flückiger vertritt die Schweiz

Esther Flückiger vertritt mit dem Werk «Guarda i lumi – 5 migrierende, Klangbilder für Violine und Klavier» an den ISCM World Music Days 2020 in Neuseeland die Schweiz.

Esther Flückiger. Foto: zVg

Die Eingaben der Schweizer Gesellschaft für Neue Musik (ISCM Switzerland) koordinierte Egidius Streiff. In diesem Jahr wurden Werke von Heidi Baader-Nobs, Regina Irman, Karl Alfons Zwicker, Blaise Ubaldini, Carlo Ciceri und eben von Esther Flückiger eingereicht. Flückiger ist nach Helena Winkelman (2015), Iris Szeghy (2016) und Junghae Lee (2019) die vierte Schweizer Komponistin, die mit einer Komposition an den ISCM World Music Days präsent ist.

Esther Flückiger, 1959 in Bern geboren, wirkt als Pianistin, Improvisatorin und Komponistin. Auch im multimedialen Bereich schöpft sie aus einem reichen Fundament, das ihre Vertrautheit sowohl mit dem klassischen Repertoire wie auch mit den Jazz-Idiomen zeigt. Ihre Werke wurden in Europa, den USA, Russland, Asien, Südamerika gespielt und sind auf zahlreichen CD-, TV- und Radioaufnahmen dokumentiert.

Die ISCM World Music Days ist das jährlich stattfindende Festival der 1922 gegründeten Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (International Society for Contemporary Music ISCM) und findet 2020 vom 22. bis 30. April in Auckland und Christchurch auf Neuseeland statt. Gastgeber sind die Composers Association of New Zealand (CANZ) zusammen mit der Asian Composers League.

 

Digitales Notenmaterial in Echtzeit

Die Digitalisierung macht auch vor dem Muskverlagswesen nicht halt. Konsequenzen zieht nun die Universal Edition, mit einem interaktiven neuen Digitalangebot

Bild: Newzik/UE/zvg

Der österreichische Musikverlag startet unter dem Namen UE now mit Echtzeit-Verfügbarkeit seines weltweit vertriebenen Notenmaterials für Hobbymusiker bis hin zum professionellen Spielbetrieb. Der Kauf der UE-now-Noten funktioniert via Universal Edition, es folgt eine Verbindung zur App des Technologie-Partners Newzik. In dieser App findet man die erworbenen Noten.

Die Vorteile digitaler Noten sind unter anderem das Umblättern der Noten via Fussschalter oder per Fingertippen, das digitale Eintragen von Markierungen und Notizen – kollaborativ und in Echtzeit sichtbar – sowie das Importieren von Musikdateien in jedem Format mittels offener Schnittstellen auch zu eigenem Notenmaterial. Eigene und erworbene Noten sind so mittels stabiler und sicherer Technik in einer Bibliothek am Endgerät vereint.

Helmut Lachenmann in Zürich

«Das Mädchen mit den Schwefelhölzern» wurde als Ballett am Opernhaus ein Grosserfolg. Am 8. September bot ein Symposium an der Zürcher Hochschule der Künste die Gelegenheit, sich der Persönlichkeit des Komponisten zu nähern.

Aussergewöhnliches hat sich in Zürich ereignet. Mit Helmut Lachenmanns Musiktheater Das Mädchen mit den Schwefelhölzern brachte das Opernhaus ein Werk avancierterster Gegenwartsmusik als Ballett auf die Bühne – und alle neun Aufführungen waren ausverkauft! Ein einzigartiger Erfolg, der umso erstaunlicher erscheint, wenn man sich die Person und insbesondere das Lebenswerk des Komponisten vor Augen führt. Der am 27. November seinen 84. Geburtstag feiernde Lachenmann wurde jahrzehntelang als Verweigerer wahrgenommen, als einer, der sich jeglicher bürgerlichen Konvention verschloss und dementsprechend auch angefeindet wurde. Und nun feiert seine Musik ausgerechnet im Tempel der bürgerlichen Hochkultur einen derartigen Triumph.

Zu diesem Erfolg beigetragen hat sicher das sorgfältig choreografierte Rahmenprogramm. Es gab Porträtkonzerte, ein Gesprächskonzert und ein Symposium an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), mit und zu Helmut Lachenmann. Wobei das Symposium weniger als Einführung zur Oper diente, sondern als Vertiefung des «Ereignisses Lachenmann», wie der an der ZHdK lehrende Philosoph Dieter Mersch seinen Vortrag überschrieben hatte. Ausgehend vom Mädchen mit den Schwefelhölzern näherte man sich unter der Leitung des Musikwissenschaftlers Jörn Peter Hiekel grundsätzlichen Fragen zum Lebenswerk des Komponisten. Dabei war man froh über Hiekels Fähigkeit, die diversen Vorträge treffsicher zu resümieren und in einen grösseren Kontext einzugliedern.

Denn die Themenvielfalt der Vorträge war gross. So nahm sich der in Genf lehrende Musikwissenschaftler Ulrich Mosch der Frage an, inwiefern sich Lachenmanns Musiktheater-Ansätze von jenen seines Lehrers Luigi Nono unterscheiden. Zentral war dabei das Problem, wie (politisch) engagiertes Musizieren möglich sei, denn dass Musik engagiert zu sein hat, darin waren sich Lehrer und Schüler einig. Doch während der Kommunist Nono seine (vor allem die früheren) Musiktheaterwerke als Beitrag zum Klassenkampf sah und die Menschen unmittelbar bewegen wollte, steht Lachenmann solchem Tun skeptisch gegenüber, nannte es einmal «Heuchelei oder – sympathischer – Donquichotterie». Er versuche eher, so Mosch, den Menschen mit Kunst zu lehren, «seine denkenden Sinne zu gebrauchen».

Und genau darauf zielt Lachenmanns Musik der Schab-, Anblas- und Kratzgeräusche ab. Die physische Hervorbringung der Töne wird nicht mehr versteckt, sondern nach aussen gekehrt und soll so eine Erweiterung unserer Wahrnehmungsmuster bewirken. Dadurch würden wir bewegt, auch politisch. Oder, wie Mersch es ausdrückte, dadurch ereigne sich das Politische bei Lachenmann quasi «im Rücken der Musik».

Staunende Persönlichkeit

Bei aller Vielfalt der Beiträge, etwa Christian Utz’ Vergleich von Schuberts Winterreise mit dem Mädchen oder Stephanie Schroedters Tour d’Horizon durch unterschiedliche Ansätze, Lachenmanns Musik zu choreografieren, schälte sich doch eines heraus. Das Bild dieses Komponisten ist im Wandel begriffen. Früher in erster Linie von der Negation her betrachtet, als Verweigerer, rückt er heute immer stärker der Aspekt Wahrnehmung in den Vordergrund. Lachenmann setzt sich mit dem Phänomen des Erfassens von Musik an sich auseinander und erreicht gerade dadurch einen Grad an Sinnlichkeit, der in der Neuen Musik selten anzutreffen ist.

Vielleicht lässt sich der Zürcher Erfolg des Mädchens mit den Schwefelhölzern, allgemein der Zuspruch, den Lachenmanns Musik in letzter Zeit erfährt, durch eben diese Sinnlichkeit erklären. Am Symposium fiel einem aber noch etwas ganz anderes auf. Es war die Person des Komponisten selbst, die zu faszinieren vermochte. Etwa wie er die diversen Beiträge zu seiner kompositorischen Persönlichkeit ernst nahm, sie offenbar so verstand, dass er daraus etwas über sich selbst lernen könne. Wie er sich Mühe gab, auf jeden Beitrag zu antworten.

Aber vor allem auch, wenn seine Leidenschaft für die Musik aus ihm hervorbrach und ihn zu Aussagen unglaublicher Plastizität verführte. So, wenn er sein Interesse an Schubert damit begründete, dass dieser ein «Daumenlutscher» gewesen sei, der sich in der von Beethoven hinterlassenen musikalischen Landschaft wie ein verzweifeltes, einsames Kind an gewisse Elemente, etwa einen bestimmten Akkord, geklammert hätte. Oder wenn er die Gründerväter der Seriellen Musik als Goldgräber bezeichnete, die mit Ausnahme des ewigen Desperados Nono zu Juwelieren mutiert seien.

Am deutlichsten aber trat einem die Persönlichkeit Lachenmanns in der von Claus Spahn, dem Chefdramaturgen des Zürcher Opernhauses, moderierten Abschlussdiskussion vor Augen. Während der Choreograf Christian Spuck interessante Einblicke in den Entstehungsprozess der Zürcher Inszenierung bot und die Komponistin Isabel Mundry diese gewohnt geistvoll kommentierte, wirkte Lachenmann wie ein Kind am Rande des Geschehens. Ein Kind, das sich ehrlich über eine, seiner Meinung nach, gelungene Inszenierung freute und dabei noch immer darüber staunte, wie es die Tänzer schafften, sich derart synchron zu bewegen.

Bodensee-Konferenz fördert Neue Musik

Die Internationale Bodensee-Konferenz (IBK) hat ihre Förderpreise im Jahr 2019 in der Sparte Interpretation zeitgenössischer Musik vergeben.

Die Preisträger (Bild: Raffael Soppelsa)

Die Preisträgerinnen und Preisträger wurden von einer internationalen Fachjury aus insgesamt 18 Nominationen ausgewählt. Die sieben jeweils mit 10’000 Franken dotierten Förderpreise wurden in der Kartause Ittingen in Warth überreicht an: Brigitte Helbig, Klavier, nominiert vom Freistaat Bayern, Simone Keller, Klavier, nominiert vom Kanton Thurgau, Moritz Müllenbach, Violoncello, nominiert vom Kanton Zürich, Céline Monique Jeanne Papion, Violoncello, nominiert vom Land Baden-Württemberg, Lukas Stamm, Klavier, nominiert vom Kanton Schaffhausen, Mateusz Szczepkowski, Klavier, nominiert vom Kanton Schaffhausen sowie Irina Ungureanu, Gesang, nominiert vom Kanton Thurgau.

Die Projektgruppe Jugendengagement der IBK hat es sich zur Aufgabe gemacht, junge Erwachsene stärker zu beteiligen. Dazu setzte sie 2019 erstmals eine parallele Jugendjury für die IBK-Förderpreise ein. Diese konnte unter allen 18 Nominationen einen zusätzlichen Preis in Höhe von 5000 Schweizer Franken vergeben. Die Jugendjury hat sich für Simone Keller, nominiert vom Kanton Thurgau, entschieden.

Die Förderpreise der IBK werden seit 1991 jährlich in wechselnden Sparten verliehen. Es können maximal sieben Preise in der Höhe von jeweils 10’000 Schweizer Franken vergeben werden. Ausgezeichnet werden Personen im Alter bis zu 40 Jahren mit einem herausragenden Potential im jeweiligen Kulturbereich.
 

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