Änderung des Covid-19-Gesetzes

Mit Beginn der Wintersession 2020 fordert die Taskforce Culture vom Parlament, bei den Beratungen des Covid-19-Gesetzes die Kleinunternehmen und Arbeitnehmenden mit geringen Einkommen nicht zu vergessen – es soll nicht bei den Einkommensschwächsten an Unterstützung gespart werden.

Foto: Jan Antonin Kolar / unsplash.com

Dass der Nationalrat am ersten Tag der Wintersession 2020 den breitabgestützten Geschäftsmiete-Kompromiss versenkt hat und damit der Corona-Mietzinsrabatt vor dem Scheitern steht, war noch nicht bekannt, als die Taskforce Culture die folgende Medienmitteilung verfasste. Das Schreiben mit Datum 30. November 2020 wird hier in voller Länge zitiert.

1. Härtefall: Unterstützung nur für die Grossen?

Die Schweizer Kulturbranche ist enttäuscht vom Vorschlag des Bundesrates, die Umsatzschwelle für Härtefallgesuche auf CHF 100’000 festsetzen zu wollen. Im Kultursektor wie in der gesamten Schweizer Wirtschaft gibt es zahlreiche Kleinstbetriebe und Einzelunternehmen, die keinen Umsatz von CHF 100’000 generieren, aber dennoch seit vielen Jahren solide wirtschaften. Da erstaunt die bundesrätliche Erklärung: «Mit der Erhöhung soll verhindert werden, dass die knappen administrativen Ressourcen der Kantone für die Abwicklung von Anträgen von Kleinstunternehmen beansprucht werden» (https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-81342.html). Es darf nicht sein, dass der administrative Aufwand der Kantone über die Existenz von Kleinunternehmen gestellt wird. Wenn schon, müsste die Umsetzung der Massnahmen so ausgestaltet werden, dass der administrative Aufwand tragbar ist.

Erfreulicherweise hält die WAK-N dagegen und beantragt eine Umsatzschwelle für Härtefallgesuche von CHF 50’000 (https://www.parlament.ch/press-releases/Pages/mm-wak- n-2020-11-27.aspx).

Neben der Umsatzschwelle stellt aber auch die Umsatzeinbusse von 40% eine grosse Hürde dar. Denn bereits eine Umsatzeinbusse von 10–20% kann zu gravierenden Problemen führen, gerade bei kleineren Unternehmen, die kaum über finanzielle Reserven verfügen und in den neun Pandemie-Monaten bereits erhebliche Einbussen hinnehmen mussten. Wir begrüssen daher den Minderheitenantrag, der die Umsatzeinbusse auf 30% festlegen möchte.

Sehr wichtig ist zudem der Antrag der WAK-N, bei der Berechnung der Umsatzeinbusse auch einen Anteil der nicht gedeckten Fixkosten zu berücksichtigen.
 

2. Ausfall oder Härtefall? Oft ist es beides.

Gemäss Vorlage sollen Kulturunternehmen, die Anspruch auf Ausfallentschädigung haben, von der Härtefallentschädigung ausgeschlossen werden. Dies wäre für die Kulturbranche eine Katastrophe, denn die Ausfallentschädigung kann aufgrund einer «Deckelung» oder anderer kantonaler Spezialregeln oft nur einen (kleinen) Teil der Schäden decken. Der Zugang zur Härtefallentschädigung ist für Kulturunternehmen existentiell. Bereits erhaltene Unterstützungen sollen angerechnet werden, damit kein Schaden doppelt entschädigt wird, dürfen jedoch nicht automatisch ausschliessend wirken.

3. Kurzarbeitsentschädigung auch für befristet Angestellte

Befristete Arbeitsverhältnisse sind im Kultursektor typisch: von Regie über Lichttechnik und Schauspiel bis hin zur Komposition. Daher begrüssen wir den Vorschlag des Bundesrates, dass Kurzarbeitsentschädigung auch für Arbeitnehmende in befristeten Arbeitsverhältnissen wieder möglich sein muss. Unverständlich ist dagegen, warum diese nicht rückwirkend per 1. September 2020 gewährt werden soll. Schliesslich endete die KAE für befristete Arbeitsverträge Ende August nicht, weil man sie nicht mehr gebraucht hätte, sondern weil man die schwächsten Arbeitnehmenden über die Klinge springen liess. Der Covid- Kreditrahmen wurde bisher bei weitem nicht ausgeschöpft, und auch die bisherigen Ausgaben für die KAE sind offenbar deutlich niedriger als geplant. Daher ist eine Ablehnung der rückwirkenden Einführung der KAE für befristete Arbeitsverhältnisse nicht nachvollziehbar.

Aus Sicht der Kulturbranche ist es ausserdem nötig, Nettolöhne, die unter CHF 4000 liegen zu 100% statt nur zu 80% auszugleichen.
 

4. Erwerbsersatz, aber nicht für alle

Selbstständigerwerbende können seit dem 17. September 2020 nur noch Corona-Erwerbersersatz erhalten, wenn sie eine Umsatzeinbusse von 55% nachweisen können. Das ist für viele selbstständig erwerbende Kulturschaffende eine Katastrophe. Bei einem Medianlohn von CHF 40’000 im Jahr kann niemand mit 45% der Einnahmen überleben. So erhalten viele selbstständige Kulturschaffende weder Erwerbsersatz noch Ausfallentschädigung (indirekt über die Kulturunternehmen). Sie fallen durch die Maschen und müssen ihr Erspartes aufbrauchen, bis sie Nothilfe beantragen können. Die fixe Grenze von 55% Umsatzeinbusse ist zu streichen, es braucht flexiblere Lösungen auf Verordnungsebene. Das Budget für Corona-Erwerbsersatz wurde bis heute nicht ausgeschöpft; schon jetzt mit finanziellen Angst- Szenarien zu argumentieren, ist angesichts der existenziellen Not im Kulturbereich nicht fair.

Bereits jetzt ist absehbar, dass die aktuelle Beschränkung des Corona-Erwerbsersatzes auf Ende Juni 2021 nicht sinnvoll ist. Zur Zeit werden keine Veranstaltungen geplant, keine Kulturschaffenden gebucht. Die Covid-Pandemie wird die Rückkehr zum Normalbetrieb im Kultursektor weit länger beeinträchtigen als z.B. in der Gastronomie oder anderen Branchen.
 

5. ALV: Rahmenfrist verlängern

Freischaffende können oftmals nicht innerhalb der Rahmenfrist von zwei Jahren die nötige Arbeitsdauer für den Bezug von ALV erreichen, da sie nur kürzeste Arbeitsverträge erhalten (z.B. für einen Auftritt oder einen Einsatz als Sprecherin). Dies gilt seit Covid-19 noch viel mehr. Daher muss die Rahmenfrist für Angestellte in befristeten Arbeitsverhältnissen und mit häufig wechselnden Arbeitgebenden dringend von zwei auf vier Jahre erweitert werden.

FAZIT

Die SNB hat Bund und Kantonen einen Gewinn von CHF 4 Mrd. in Aussicht gestellt. Selbst hohe Verluste im letzten Quartal dieses Jahres würden diese Ausschüttung nicht gefährden (Ausschüttungsreserve beträgt derzeit rund 100 Mrd, erforderlich sind 40 Mrd). Bund und Kantone dürfen also mit diesem Geld rechnen. Vor diesem Hintergrund und angesichts der grossen Auswirkungen für zahlreiche Kleinunternehmer*innen und Arbeitnehmende darf nicht ausgerechnet bei den Einkommensschwächsten an Unterstützung gespart werden.»

Die Mitglieder der Taskforce Culture

Olivier Babel (LIVRESUISSE), Stefan Breitenmoser (SMPA – Swiss Music Promoters Association), David Burger (MMFS – MusicManagersForum Suisse), Regine Helbling (Visarte – Berufsverband visuelle Kunst Schweiz), Liliana Heldner (DANSE SUISSE – Berufsverband der Schweizer Tanzschaffenden), Christian Jelk (Visarte – Berufsverband visuelle Kunst Schweiz), Sandra Künzi (t. Theaterschaffende Schweiz), Alex Meszmer (Suisseculture), Marlon Mc Neill (IndieSuisse – Verband unabhängiger Musiklabels und – produzent*innen, SMECA – Swiss Media Composers Association), Jonatan Niedrig (PETZI – Verband Schweizer Musikclubs und Festivals), Nicole Pfister Fetz (A*dS – Autorinnen und Autoren der Schweiz, Suisseculture Sociale), Rosmarie Quadranti (Cultura), Nina Rindlisbacher (SMR – Schweizer Musikrat), Beat Santschi (SMV – Schweizerischer Musikerverband, die Schweizer Musiker*innengewerkschaft), Christoph Trummer (SONART – Musikschaffende Schweiz)


Wirkung von Vermittlungsarbeit

Wen erreichen professionelle Orchester mit ihren Vermittlungsangeboten? Dieser Frage widmet sich eine Studie des Instituts für Kulturmanagement der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg.

Württembergisches Kammerorchester Heilbronn. Foto: © Nikolaj Lund / Hans Georg Fischer

Untersucht wurden Aktivitäten der Württembergischen Philharmonie Reutlingen, des Philharmonischen Orchesters Heidelberg sowie des Württembergischen Kammerorchesters Heilbronn.

Anhand der Ergebnisse lässt sich über alle drei Orchester hinweg feststellen, dass mehr als zwei Drittel der Befragten bereits Vermittlungsangebote der beteiligten Orchester genutzt haben und mit den bereits genutzten Vermittlungsangeboten mehrheitlich zufrieden oder sehr zufrieden waren. In Bezug auf Gestaltung künftiger Angebote wünschen sich die Beteiligten unter anderem mehr Einblick in die Organisation des Orchesters sowie mehr digitale Angebote wie zum Beispiel das Programmheft als App.

Vermittlungsangebote sollen durch ihren Einsatz ein möglichst heterogenes Publikum ansprechen, an Orchester herangeführen und für eine lebenslange Nutzung klassischer Musikangebote begeistern. Deshalb wurden neben der Nutzung von Vermittlungsangeboten auch demografische Daten abgefragt.

 

Link zur Studie:
https://orchesterstiftung.de/aktuelles/details/article/5/studie-belegt-erstmals-wirkung-von-vermittlungsarbeit-bei-professionellen-orchestern-in-baden-wuerttemberg/

 

Harding wird beim OSR Chef en Résidence

Das Orchestre de la Suisse Romande (OSR) hat den britischen Dirigenten Danel Harding zum Chef en Résidence gewählt. Damit ermöglicht das Ensemble eine projektbasierte Zusammenarbeit über längere Zeit.

Daniel Harding (Bild: Niels Ackermann)

Dies ist eine in dieser Form neugeschaffene Position. Die Zusammenarbeit umfasst die Spielzeiten 2021-22 und 2022-23. Daniel Harding wird in jeder Saison für mindestens zwei Konzertreihen anwesend sein.

Zur Zeit nimmt das OSR mit Daniel Harding zwei CD auf, darunter mit dem Geiger Renaud Capuçon die Violinkonzerte von Sibelius und Barber. Im Rahmen der weiteren Zusammenarbeit sollen parallel zu den Konzerten audiovisuelle Produktionen realisiert werden.

 

Musikalische Adventskalender

Die Idee ist nicht neu, scheint aber dieses Jahr besonders attraktiv zu sein: klingende Adventskalender: Hinter jedem Törchen spielt Musik, live oder gestreamt.

Foto: Markus Spiske / unsplash.com,SMPV

Wer Süssigkeiten liebt, nostalgische Bildchen oder sonstige kleine Überraschungen, muss recht diszipliniert sein, nicht schon am ersten Tag alle Türchen, Schublädlein oder Säcklein zu öffnen. Diese Versuchung bleibt einem bei musikalischen Adventskalendern weitgehend erspart, denn meistens stehen die Türchen erst am entsprechenden Tag offen. Mindestens einen Adventskalender kann man bereits im Voraus zumindest teilweise durchstöbern: In welchen Hotels Maja Weber mit dem Stradivari-Quartett und befreundeten Musikerinnen und Musikern ab dem 1. bis und mit 24. Dezember live gastieren wird, ist bereits bekannt. Bei diesen Auftritten werden die Hotels und ihre Direktionen sowie die Musikerinnen und Musiker vorgestellt. Anschliessend gibt es ein 20 bis 30 Minuten dauerndes Konzert. Die Veranstaltungen können live oder virtuell über http://majaweber.com besucht werden.

Eine kurze Internetrecherche hat gezeigt, dass viele andere Institutionen ebenfalls musikalische Adventskalender anbieten, zum Beispiel:

– die Johanneskirche Zürich mit 20-minütigen Konzerten über Mittag: https://www.kirche-industrie.ch/www.zh.ref.ch/gemeinden/industrie/content/e1665/e2454/2021_12_advent_online_neu.pdf

– die Stadtkirche Aarau mit halbstündigen Konzerten, die auch gestreamt und übers Radio verbreitet werden: https://weloveaarau.ch/agenda/klingender-adventskalender

– das Opernhaus Zürich mit kleinen Konzerten um 17.30: https://www.opernhaus.ch/home/extra/musikalischer-adventskalender

– Andrew Bond mit kurzen Mitmach-Mitsing-Filmen: https://andrewbond.ch/adventskalender

– die Hochschule der Künste Bern, die mit der L’heure bleu vom 1. bis am 31. Dezember künstlerische Beiträge zeigt, die dem «Kulturverbot ein Gesicht» geben sollen: https://www.hkb.bfh.ch/de/aktuell/heureblue

– das Tonhalle-Orchester Zürich, das 24 musikalische Überraschungen verschenkt: https://www.tonhalle.ch/news/adventskalender

– das Sinfonierorchester Basel, das ab 1. Dezember hinter jedem Türchen seines digitalen Adventskalenders eine Frage versteckt, die beantwortet werden will: https://www.sinfonieorchesterbasel.ch

– oder das Orchestra della Svizzera italiana und die Barocchisti, in Koproduktion mit RSI Rete due: https://www.osi.swiss/avvento

Musikschulen / Schulmusik

Meeres Stille und Glückliche Fahrt

Jeden Freitag gibts Beethoven: Zu seinem 250. Geburtstag blicken wir wöchentlich auf eines seiner Werke. Heute auf die Kantate «Meeres Stille und Glückliche Fahrt» für Chor und Orchester.

Ausschnitt aus dem Beethoven-Porträt von Joseph Karl Stieler, ca. 1820

Weder in Wien noch in Weimar, sondern im böhmischen Teplitz sind sie sich ein einziges Mal begegnet: Beethoven und Johann Wolfgang von Goethe. Abseits der hohen künstlerischen Achtung hegte jeder allerdings seine Vorbehalte gegenüber der Person des anderen. So notierte Goethe am 21. Juli 1812 in sein Tagebuch: «Abends bey Beethoven. Er spielte köstlich», führte dann aber einige Wochen später in einem Brief an Carl Friedrich Zelter aus: «Sein Talent hat mich in Erstaunen gesetzt; allein er ist leider eine ganz ungebändigte Persönlichkeit, die zwar gar nicht Unrecht hat wenn sie die Welt detestabel findet, aber sie freylich dadurch weder für sich noch für andere genußreicher macht. Sehr zu entschuldigen ist er hingegen und sehr zu bedauern, da ihn sein Gehör verläßt, das vielleicht dem musikalischen Theil seines Wesens weniger als dem geselligen schadet. Er der ohnehin lakonischer Natur ist, wird es nun doppelt durch diesen Mangel.» Auch Beethoven, der 1811 Goethe über dessen Trauerspiel Egmont begeistert geschrieben hatte, machte nach der Begegnung in einem Brief an den Verlag Breitkopf & Härtel seiner Enttäuschung Luft: «Göthe behagt die Hofluft zu sehr mehr als es einem Dichter ziemt, Es ist nicht vielmehr über die Lächerlichkeiten der Virtuosen hier zu reden, wenn Dichter, die als die ersten Lehrer der Nation angesehen seyn sollten, über diesem schimmer alles andere vergessen können –»

So blieb das Aufeinandertreffen folgenlos. Der junge Mendelssohn berichtete noch 1830 von Goethes gänzlicher Zurückhaltung: «An Beethoven wollte er nicht heran.» Zuvor war bereits Beethovens Ersuchen (vom 8. Februar 1823), der Weimarer Hof möge doch eine Abschrift seiner Missa solemnis subskribieren, erfolglos geblieben. Auch reagierte Goethe offenbar nicht auf die Widmung von Meeres Stille und Glückliche Fahrt. Dabei hatte Beethoven im selben Schreiben noch angefügt: «Beyde Gedichte schienen mir ihres Kontrastes wegen sehr geeignet auch diesen durch Musick mittheilen zu können, wie lieb würde es mir seyn zu wissen, ob ich passend meine Harmonie mit der Ihrigen verbunden, auch Belehrung welche gleichsam als wahrheit zu betrachten, würde mir äußerst willkommen seyn, denn leztere liebe ich über alles – Dass die Partitur bereits acht Jahre zuvor abgeschlossen und am 25. Dezember 1815 erstmals öffentlich aufgeführt worden war, liess er unerwähnt.

Wie gut, dass sich solch persönliche Unverträglichkeiten nicht zwingend in den Künsten spiegeln müssen. Beethovens knappe, zweiteilige Vertonung erschien den Zeitgenossen jedenfalls kongenial: «Es ist eine hohe Lust, zwey so erhabene Gemüther so innig vereint zu erblicken …» (Allgemeiner Musikalischer Anzeiger, 1830)


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Nach wie vor Geschlechterungleichheit

Die Gläserne Decke ist an Kunst- und Musikhochschulen etwas durchlässiger als an Universitäten und Fachhochschulen. Dennoch bestehen Diskriminierungen fort, wie eine Studie eines deutschen Kompetenzzentrums Frauen in Wissenschaft und Forschung zeigt.

Foto: Tim Mossholder/unsplash.com (s. unten)

Mit fast 60 Prozent ist der Frauenanteil an Studierenden und Abschlüssen an deutschen Kunst- und Musikhochschulen höher als an Universitäten, allerdings mit deutlichen Unterschieden zwischen einzelnen Fächern. So führen Stereotype und kulturelle Codes zu einer geschlechterspezifischen Wahl der Instrumente oder die Zuschreibung von Kreativität und Meisterschaft zu einer unterschiedlichen Geschlechterverteilung in den einzelnen Fächern (zum Beispiel Jazz / Populärmusik, Komposition, Schlagwerk oder Harfe).

Diese fächerbezogenen Unterschiede setzen sich beim wissenschaftlich-künstlerischen Personal fort. Insgesamt liegt hier der Anteil an Professorinnen bei 32 Prozent (2018), jedoch an deutschen Musikhochschulen nur bei 25 Prozent. Auch die Gläserne Decke, gemessen am Verhältnis von Studentinnen zu Professorinnen, ist an Musikhochschulen undurchlässiger als an Hochschulen für Bildende Künste.

Link zur Studie: https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/70674

Corona-Abstände im Orchester

Aus einer Studie des LMU Klinikums München, des Universitätsklinikums Erlangen und des Bayerischen Rundfunks zu Corona-Ansteckungsrisiken liegen weitere Ergebnisse zu Abständen im Orchester vor.

Flötistin während der Versuchsreihe im BR-Studio (Bild: Bayerischer Rundfunk),SMPV

Bei der Auswertung der Daten ging es um die Aerosolausbreitung beim Spielen von Blasinstrumenten, die mit Mitgliedern des Symphonieorchesters des BR untersucht wurde. Den Ergebnissen zufolge könnten die Abstände im Orchester zumindest zur Seite geringer ausfallen, als derzeit empfohlen wird. Gefördert wurden die Untersuchungen vom Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst.

Die Auswertung der Messungen über die abgestrahlten Aerosol-Wolken ergab: Zu ihren Kollegen nach vorne sollten die Musikerinnen und Musiker einen grösseren Abstand einhalten als zur Seite. Immer vorausgesetzt, dass der Raum permanent gelüftet wird und damit die Aerosole regelmässig durch Frischluft entfernt werden.

Für die Trompete und die Klarinette wurden im Mittel Abstände der Wolke vom Mund von 0,9 Meter gemessen. Vereinzelte Musiker erreichten jedoch auch Weiten von 1,5 Meter, so dass Sicherheitsabstände von 2 Meter nach vorne sinnhaft erscheinen. Bei der Querflöte erreichte die gemessene Impulsabstrahlung nach vorne über das Mundstück jedoch sogar Weiten von bis zu 2 Meter. Daher sind Sicherheitsabstände von 2 Meter hier als zu gering und 3 Meter als angemessen zu bewerten. Die Abstrahlung zur Seite blieb bei allen Musikern unter einem Meter. Ein Sicherheitsabstand von 1,5 Meter erscheint daher, im Gegensatz zu den bisher empfohlenen 2 Metern, hinreichend.

Originalartikel:
https://www.lmu-klinikum.de/aktuelles/pressemitteilungen/ergebnisse-aus-aerosol-studie-mit-dem-symphonieorchester-des-br/99facfa2b6c72864

33 Veränderungen und 50 Variationen

Ein Walzerthema legte Anton Diabelli seinen komponierenden Kollegen vor. Was sie daraus machten, ist in dieser Neuausgabe abgedruckt – zusammen mit Beethovens berühmtem Zyklus.

Beethon von Klaus Kammerichs (1986), Bonn. Foto: Hans Weingartz/wikimedia commons (s. unten)

Die Geschichte ist bekannt: Verleger Diabelli sandte einen selbst komponierten Walzer an die angesehensten Komponisten und Virtuosen des österreichischen Kaiserreichs mit der Einladung, einen Beitrag zu einem gemeinschaftlichen Variationenwerk zu verfassen. Beethoven schuf – nach anfänglichem Zögern – natürlich den gewichtigsten Beitrag. Seine 33 Veränderungen über einen Walzer und die anderen 50 Variationen seiner Berufskollegen sind nun bei Bärenreiter gemeinsam in einem Band erschienen. (So schlecht, wie überall zu lesen ist, kann also Diabellis Walzer-Thema gar nicht sein …)

Für einmal sei es erlaubt, den grossen Meister zu übergehen, um sich den anderen, mehr oder weniger bekannten Verfassern zu widmen. Da gibt es zahlreiche, die sich ganz sklavisch an das vorgegebene Thema halten und kaum eigene Ansätze verraten. Dass es auch anders geht, beweist in der siebten Variation Joseph Drechsler. Seine Quasi Ouverture mit langsamer Einleitung und anschliessendem Allegro hat durchaus sinfonisches Potenzial. Noch ausführlicher wird Emanuel Aloys Förster. In seinem Capriccio taucht nach einer kecken Modulation plötzlich eine umfangreichere Fuge auf. Eine solche schreibt auch Erzherzog Rudolph, Beethovens prominenter Schüler. Dass Simon Sechter aus dem Walzer eine Imitatio quasi Canon macht, der blutjunge Liszt dagegen ein kleines Bravourstück, überrascht wohl nicht. Einige Virtuosen legen es offensichtlich darauf an, mit waghalsigen Sprüngen und anspruchsvollen Passagen zu beeindrucken. Conradin Kreutzer, Heinrich von Lannoy, Hieronymus Payer und vor allem Friedrich Dionys Weber gehören zweifellos dazu. Dass auch intimere und ausdrucksvollere Wege möglich sind, beweisen die Beiträge von Johann Nepomuk Hummel, Joseph Kerzkowsky und – wen wundert es? – Franz Schubert. Seine Variation in c-Moll ist wohl überhaupt die schönste Komposition im ganzen Band.

Nicht nur Schubert weicht der Tonart des C-Dur-Themas aus. Johann Evangelist Horzalka, Joseph Huglmann und Franz de Paula Roser überraschen beispielsweise durchwegs in As-Dur. Ob da wohl Absprache im Spiel war? Geplant war auf jeden Fall die umfangreiche Coda aus der Feder von Carl Czerny, die auf labyrinthischen Wegen schliesslich in strahlendes C-Dur mündet.
Die vorliegende Ausgabe bringt diese zum Teil ganz unbekannten Variationen zum ersten Mal als Urtext. Wie gewohnt, gibt es ein lesenswertes Vorwort über die Enstehungsgeschichte und einen umfangreichen Kritischen Bericht. Anstelle der «Hinweise zur Aufführungspraxis» wären in diesem Fall vielleicht einige biografische Angaben zu den zahlreichen vergessenen Komponisten wünschenswerter gewesen.

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Beethoven: 33 Veränderungen über einen Walzer op. 120 / 50 Veränderungen über einen Walzer komponiert von den vorzüglichsten Tonsetzern und Virtuosen Wiens für Klavier «Diabelli-Variationen», hg. von Mario Aschauer, BA 9656, € 27.95, Bärenreiter, Kassel

 

Foto oben: Hans Weingartz / wikimedia commons CC BY-SA 2.0 DE

Mizmorim Festival 2021

Unter dem Motto «Bohemian Rhapsody» findet in Basel im nächsten Januar das siebte Mizmorim-Festival statt.

Eindruck vom Festival 2018. Foto: Mizmorim,SMPV

Bereits zum siebten Mal ermöglicht das Mizmorim Festival in Basel vom 21. bis 24. Januar 2021 unter künstlerischer Leitung der israelischen Klarinettistin Michal Lewkowicz vielfältige Begegnungen von klassischer jüdischer und westlicher Musik.

Insgesamt sieben Konzerte und zwei Familienvorstellungen an fünf Veranstaltungsorten (Gare du Nord, Zunftsaal im Schmiedenhof, Stadtcasino Basel, Unternehmen Mitte und Bird’s Eye Jazz Club) stehen an den vier Festivaltagen auf dem Programm. Aufgrund der aktuell geltenden Corona-Massnahmen werden die Konzerte (u.a. mit dem Gringolts Quartett und dem VEIN Trio) wohl in einem besonders exklusiven Rahmen zu erleben sein.

Aus Böhmen kommt die Musik. Die historische Landschaft mit der Hauptstadt Prag im Westen der Tschechischen Republik war stets eine europäische Region, in der religiöse und ethnische Gegensätze aufeinandertrafen. Die böhmische Kultur ist in ihrer Vielfalt denn auch geprägt vom Zusammenwirken von tschechischen, deutschen und jüdischen Einflüssen.

Das siebte Mizmorim Festival präsentiert unter dem Motto «Bohemian Rhapsody» eine faszinierende Auswahl von Klassikern und Raritäten der böhmisch-tschechischen Musik. «In der Musik liegt das Leben der Tschechen», so einer ihrer bedeutendsten Komponisten, Bedřich Smetana. Seine «Moldau», deren Hauptthema in der israelischen Nationalhymne anklingt, wie auch Kompositionen von Antonín Dvořák, Leoš Janáček oder Bohuslav Martinů ziehen mit ihren unsterblichen Melodien bis heute Menschen auf der ganzen Welt in ihren Bann.

Infolge der nationalsozialistischen Besetzung ab 1939 waren namhafte tschechische Komponisten des 20. Jahrhunderts wie Viktor Ullmann, Erwin Schulhoff, Pavel Haas oder Gideon Klein Repression und Verfolgung ausgesetzt. Dadurch geriet in Vergessenheit, dass sie wesentlich zur Entwicklung der Musik des 20. Jahrhunderts beigetragen hatten, indem sie Tendenzen der Moderne aufnahmen und mit Elementen des Jazz, der mährischen und jüdischen Volksmusik wie auch mit synagogalen Melodien verbanden.

Diese vielfältige und weltoffene Musiktradition zum Klingen zu bringen und in einen lebendigen Dialog mit ausgewählten Werken zeitgenössischer Musik (u.a. von Eleni Ralli, der Preisträgerin des Mizmorim Kompositionswettbewerbs 2021) treten zu lassen, ist das Anliegen des Mizmorim Festivals 2021 – frei assoziiert in überraschenden Konzertprogrammen, präsentiert von renommierten internationalen Künstlerinnen und Künstlern, den «Bohémiens» unserer Zeit.
 

Weitere Informationen und Vorverkauf

www.mizmorimfestival.com

Thurgauer Recherche-Stipendien

Der Thurgauer Regierungsrat hat der Kulturstiftung des Kantons für die Vergabe von 40 Recherche-Stipendien an Thurgauer Kulturschaffende im Jahr 2021 einen Beitrag von 250’000 Franken aus dem Lotteriefonds gewährt.

Regierungsgebäude in Frauenfeld. Foto: Lokolia/wikimedia commons (s. unten)

Das Recherche-Stipendium ist explizit nicht mit einer Ausstellung oder mit Auftritten verbunden und umfasst die von der Kulturstiftung geförderten Bereiche.

Kulturschaffende hatten gestützt auf die nationale Covid-Verordnung Kultur vom 20. März 2020 bis am 20. September 2020 die Möglichkeit, bei den Kantonen eine Ausfallentschädigung für abgesagte oder verschobene Veranstaltungen zu beantragen. Mit dem Covid-19-Gesetz und der neuen Covid-19-Kulturverordnung entfällt für Kulturschaffende diese Möglichkeit. Sie können nur noch Nothilfe via Suisseculture Sociale beantragen, wenn sie ihren Lebensunterhalt nicht mehr finanzieren können.

Die Kulturstiftung des Kantons Thurgau plant daher die Ausschreibung von 40 Recherche-Stipendien für Kulturschaffende im Kanton Thurgau als Ergänzung zu den bundesweiten Massnahmen. Für professionell arbeitende Kulturschaffende mit Bezug zum Kanton Thurgau wird die Möglichkeit geschaffen, an ihrer künstlerischen Arbeit zu recherchieren und neue Ideen zu entwickeln. Das Recherche-Stipendium umfasst die Bezahlung eines einmaligen Honorars von 6 000 Franken.

Mehr Infos:
https://www.tg.ch/news/news-detailseite.html/485/news/49133/l/de

Foto: Lokolia / wikimedia commons CC BY-SA 4.0 International

Gesammeltes Wissen – gedruckt und digital

Der Verlag G. Henle hat die Beethoven-Sinfonien neu herausgegeben, greifbar als Studienpartituren im Schuber oder über die Henle-Library-App.

Beethoven-Skulptur von Markus Lüpertz (2014/15), Leipzig. Foto: SMZ/ks

Hier ist eine neue Urtextausgabe der neun Sinfonien von Ludwig van Beethoven anzuzeigen, die es in sich hat und zum neuen Standard werden sollte. Denn wer in seinem Regal keinen Platz mehr findet für den kompakten Schuber mit den neun Studienpartituren, kann sich auch für die digitale Version ventscheiden mit dem Vorteil, dass die Sinfonien auch einzeln gekauft werden können und einen auf dem Tablet überallhin bequem begleiten.

Als Vergleich habe ich die Bärenreiter-Urtextausgabe herangezogen, die vor 20 Jahren von Jonathan Del Mar vollendet und ebenfalls in Form von Studienpartituren veröffentlicht wurde. Ähnlich sind sich die beiden Editionen bezüglich musikwissenschaftlicher Aufarbeitung und Absicherung, jeweils kurzer, aber präziser Beschreibung der Quellenlage sowie des Abdrucks aller beethovenschen Metronomangaben von 1817. In allen übrigen Belangen hat Henle die Nase vorn. Dies beginnt bei einem leicht grösseren Format, was das Notenbild gleich etwas aufgelockerter erscheinen lässt.

Der entscheidende Unterschied liegt aber in der Wissensvermittlung. Die Grundlagen beider Ausgaben sind ja jeweils mehrere Quellen, die gelegentlich editorische Entscheidungen nötig machen. Darüber gibt bei Bärenreiter der «Critical Commentary» Auskunft, bei Henle sind es die «Einzelbemerkungen». Während man bei Henle in einigen Fussnoten auf die entsprechende Bemerkung verwiesen wird und diese im Anhang lesen kann, wurde bei Bärenreiter der Kritische Bericht separat gedruckt und ist deshalb in der Studienpartiturausgabe nicht vorhanden. Da kann es schon einigermassen frustrierend sein, wenn man in einer Fussnote auf einen Kommentar verwiesen wird, aber diesen weder in der Edition noch auf der Website des Verlages zum Download findet. So ist ein Gang in eine gut bestückte Musikbibliothek angesagt, in welcher die separaten Bände der Kritischen Berichte vorhanden sein sollten, denn ein Kauf kommt beim Preis von ca. 45 € pro Sinfonie wohl für die wenigsten Benutzerinnen und Benutzer infrage.

Nicht ganz einsichtig bleibt, weshalb bei Henle nicht auf jede Einzelbemerkung mit einer Fussnote an der entsprechenden Partiturstelle hingewiesen wird. Optimal gelöst ist dies in der digitalen Version: Mittels der Darstellungsoption «Kommentare im Notentext» werden alle Stellen, zu denen eine Bemerkung vorhanden ist, in dezentem Hellblau markiert. Durch Antippen erscheint das entsprechende Textfeld, und man kann die teilweise äusserst detaillierten Bemerkungen studieren. Eine rundum gelungene Ausgabe, die «in zwei Gestalten» daherkommt und zu überzeugen vermag!

Einige Worte noch zur Henle-Library. Es handelt sich dabei um eine App, die sowohl auf dem iPad als auch dem Android-Tablet verfügbar ist und für die seit 2016 bereits ein riesiges Repertoire von Henle-Urtextausgaben existiert. Dabei erhält man kein PDF (wie dies beispielsweise der Schott-Verlag beim elektronischen Notenkauf praktiziert), sondern die Noten werden in die App eingebettet mit all ihren Zusatzfunktionen wie zum Beispiel individuelle Eintragungsmöglichkeiten, verschiedene Darstellungsoptionen, integriertes Metronom, Aufnahmemöglichkeit und vieles mehr. Der Preis für digitale Notenausgaben liegt nur geringfügig unter demjenigen einer gedruckten Partitur (im Fall der 7. Sinfonie beispielsweise 10 anstatt 12 Euro für die Studienpartitur), was aber angesichts der vielen Features und sogar der Möglichkeit gelegentlicher Updates zu rechtfertigen ist.

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Ludwig van Beethoven: Die Symphonien – 9 Bände im Schuber, Studien-Edition, hg. von Ernst Herttrich, Armin Raab u. a., HN 9800, € 89.00, G. Henle, München

 

 

 

 

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Dirigierpartituren und Orchestermaterial zu den Henle-Studienpartituren sind bei Breitkopf & Härtel erhältlich. Zum Beispiel:

Ludwig van Beethoven: Symphonie Nr. 5 c-Moll op 67, Urtext nach der neuen Gesamtausgabe (G. Henle), hg. von Jens Dufner, Partitur PB 14615, € 48.50, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden

Beethoven

Der Geburtstag Ludwig van Beethovens jährt sich Mitte Dezember zum 250. Mal. Mit dieser Ausgabe runden wir unser Jahresprojekt «52 x Beethoven» ab.

Titelbild: neidhart-grafik.ch
Beethoven

Der Geburtstag Ludwig van Beethovens jährt sich Mitte Dezember zum 250. Mal.
Mit dieser Ausgabe runden wir unser Jahresprojekt «52 x Beethoven» ab.

Alle blau markierten Artikel können durch Anklicken direkt auf der Website gelesen werden. Alle andern Inhalte finden sich ausschliesslich in der gedruckten Ausgabe oder im e-Paper.

Focus

52 x Beethoven
Wir feiern die Taufe Beethovens am 17. Dezember 1770 mit einigen der
freitags online erscheinenden Werkannäherungen von Michael Kube:

Schottische Lieder
5. Sinfonie
«Appassionata»
Duett «mit zwei obligaten Augengläsern»
Drei Equale
«Eroica»
Grosse Fuge für Klavier zu vier Händen
«Wut über den verlorenen Groschen»
Streichquartett Nr. 14
Trauerkantate

Mais ce qui demeure, c’est ce que fondent les poètes
La musique de Beethoven n’a de compte à rendre à personne. Affranchie de toute contrainte, elle devient autonome et vise l’universalité.

Was bleibet aber, stiften die Dichter
Beethovens Musik ist niemandem Rechenschaft schuldig; und jeder Verpflichtung ledig wird sie autonom, strebt nach Allgemeingültigkeit.

… und ausserdem

Campus

Une légitime prise sur le monde (partie 1) — La démocratie culturelle

Arbeiten «ohne Netz» — Zweitmaster mit Forschungsvertiefung

 

FINALE


Rätsel
—Walter Labhart sucht


Reihe 9

Seit Januar 2017 setzt sich Michael Kube für uns immer am 9. des Monats in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb.

Link zur Reihe 9


52 x Beethoven


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Für Abonnentinnen und Abonnenten ist der Download kostenlos.

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Vom Einbruch des Unkontrollierbaren

Bettina Skrzypczak über ihre Komposition «Oracula Sibyllina», über künstlerisches Engagement und die Frage, wie das Leben nach Corona weitergehen könnte.

Bettina Skrzypczak. Foto: Priska Ketterer
Vom Einbruch des Unkontrollierbaren

Bettina Skrzypczak über ihre Komposition «Oracula Sibyllina», über künstlerisches Engagement und die Frage, wie das Leben nach Corona weitergehen könnte.

Bettina Skrzypczak lebt in Riehen und unterrichtet Komposition, Theorie und Musikgeschichte an der Hochschule Luzern/Musik. Im Februar wurde sie mit dem Heidelberger Künstlerinnenpreis 2020 ausgezeichnet, und im Mai erhielt sie den Kompositionswerkbeitrag des Kantons Aargau für das Jahr 2020. Als das Musikkollegium Winterthur, geleitet von Pierre-Alain Monot vor über fünf Jahren ihre Oracula Sibyllina für Mezzosopran (Mareike Schellenberger) und Orchester uraufführte, war dies das Resultat einer jahrelangen Beschäftigung mit antiken Orakeln und Prophetinnen. Heute ist das Werk aktuell wie nie zuvor.

Bettina, deine Komposition beginnt mit den Worten: «Ich bin Sibylle.» Deshalb zuerst die Frage: Wer ist diese Sibylle?
Das ist eine Kunstfigur.

Interessant! Und wie ist sie zusammengesetzt?
Dazu muss ich etwas ausholen. Die Sibyllen waren weise Frauen, die prophezeiten – weibliche Propheten. In der Antike werden sie von Heraklit erstmals erwähnt. Der römische Autor Varro nennt zehn Sibyllen mit je eigenen Prophezeiungen. Ihre Weissagungen beziehen sich nicht auf historisch lokalisierbare Menschen oder Fakten, sondern auf die menschliche Existenz ganz allgemein, meist in Form von Warnungen. Die Texte sind zeitlos aktuell, und das hat mich beeindruckt. Zwei dieser Sibyllen haben mich besonders interessiert, die Sibylle aus Erythrai und die berühmte Sibylle von Cumae aus der Nähe von Neapel. Auf ihren Aussagen beruht mein Text.

Das klingt nach einem langen Entstehungsprozess.
Ich habe mich monatelang mit der Thematik beschäftigt und mir viele Gedanken gemacht. Die Textkompilation war die erste Stufe der Komposition, und die Musik wuchs gemeinsam mit dem Text, wenn auch zuerst nur in meinem Kopf. So entstand das Porträt einer Sibylle als Ergebnis meiner Fantasie. Sie verkörpert all das, was ich beim Studium der Texte entdeckt und empfunden habe.

Wie charakterisierst du diese Sibylle?
Die Charakterisierung folgt einer genauen Dramaturgie. Es gibt drei Phasen, und jede endet mit dem warnenden Appell: «Höret!» Im ersten Teil stellt sie sich vor: «Ich bin Sibylle, des Phoibos weissagende Dienerin. Ich bin Tochter der Nymphe Naias.» Das ist der springende Punkt: Sie ist Tochter eines irdischen Naturwesens und zugleich Dienerin von Phoibos Apollon, dem «Leuchtenden», der mit dem Sonnengott Helios gleichgesetzt wird. Das heisst, es gibt bei ihr das Moment des Irdischen, Vergänglichen, und das Moment des Göttlichen, des Lichts. Diese innere Spannung oder sogar Zerrissenheit hat mich fasziniert.

Wie ist der musikalische Charakter dieses ersten Teils?
Der Grundzug ist lyrisch. Hier steht die melodische Linie im Vordergrund, Kantabilität als Symbol des Menschlichen. Es hat etwas Ergreifendes, wenn sie von ihrem Schicksal erzählt.

Und die zweite Phase?
Hier erscheint die Sibylle als enttäuschte Rebellin und wird sehr emotional. Sie sagt: «Ihr hört nicht auf meine Worte und nennt mich eine rasende Lügen-Sibylle – ich warne euch!»

Und dann explodiert das Ganze.
Der dritte Teil des Textes führt uns in eine ganz andere Dimension. Das ist die Phase der Ekstase und der Höhepunkt des Werks. Die Sibylle gerät in einen Zustand, in dem sie sich nicht mehr unter Kontrolle hat. Sie verliert ihre persönlichen Charakterzüge, wird zum Sprachrohr übernatürlicher Kräfte und sieht schreckliche Dinge. Hier ist in der Musik alles zerrissen, zerhackt; das mit ihren menschlichen Empfindungen verbundene Kantable ist weg, das Geräuschhafte überwiegt. Danach verstummt sie; sie ist entsetzt über das, was sie sieht, und die Musik stockt. Es herrscht eine Leere. Aber am Schluss kommt eine Wendung: Die Sibylle singt noch einmal: «Höret!» Die kantable Linie symbolisiert eine Rückkehr zum Menschlichen – ein Signal, das Rettung andeutet.
 

Das Wort «hören» kommt auffallend häufig vor.
Ich verstehe Oracula Sibyllina als eine Komposition über das Hören: Hören als Zuhören und als Symbol für das konzentrierte Erleben der inneren und äusseren Wirklichkeit, als umfassende Aufmerksamkeit für die Welt, die uns geschenkt ist und die wir nicht zerstören dürfen.

Mit diesem Stück hast du auch das Porträt einer unglaublich komplexen Frauengestalt gezeichnet.
Sie ist ein Medium, das zwei Seiten hat: eine menschliche und eine, die wir nicht verstehen.

Eine Art weiblicher Archetypus mit allen Widersprüchen.
Vielleicht.

Aus dieser inneren Gespaltenheit resultiert auch der dramatische Charakter der Figur. «Oracula Sibyllina» ist als Monodram konzipiert. Hast du auch schon an eine szenische Aufführung gedacht?
Ja, natürlich. Gerade die Stimme mit ihren Abstufungen vom Sprechen über Sprechgesang bis zum hochexpressiven Gesang ruft nach einer szenischen Darstellung. Die Aufteilung des Orchesters in drei räumlich getrennte Gruppen unterstützt die Dramatik. Es wird zum Resonanzraum der Stimme.

Im dritten Teil eröffnen sich Dimensionen, die heute in der Musik selten anzutreffen sind. Die Sibylle beschreibt eine Apokalypse in Form eines kosmischen Kampfes der Sterne: «Gott liess sie kämpfen, und Luzifer lenkte die Schlacht.» Dieses Bild wird auch musikalisch unerhört packend dargestellt.
Es gibt existenzielle Gedanken der Menschen, die man nicht beschreiben kann. Deshalb lasse ich die Sibylle sprechen, beobachte sie von aussen und erfahre durch sie, dass da etwas Unfassbares geschieht. Sie kann das nur stammelnd beschreiben. Ich sehe, was mit ihr passiert, aber selbst wage ich nicht, in diese Bereiche einzudringen.

Trotzdem: Du bist die Komponistin und formulierst es.
Ich gebe nur eine Art Umriss des gewaltigen Geschehens.

Du hast darauf hingewiesen, dass die Sibylle auch eine lichte Seite hat. Aber abgesehen vom ersten Teil ist das doch eigentlich ein sehr schwarzes Stück. Alles läuft auf diesen dritten Teil zu, den Kampf der Welten.
Ich sehe das nicht als eine hoffnungslose Situation. Der Schluss ist offen und lässt auch der Hoffnung Raum. Aber ich wollte schon bis an die Grenze gehen, um den Ernst der Warnung zu unterstreichen.

Dein Werkkommentar von 2015 endet mit einem Vierzeiler: «Wer bist du, Sibylle, du Heimatlose? / Ich will dir beistehen / Auf deinem Weg der unendlichen Suche / Bei deiner Flucht vor der Dunkelheit.» Du identifizierst dich offensichtlich stark mit dieser Figur.
Das Dilemma, in dem sie steckt, hat mich mitgenommen: Sie ist eine sehr feinfühlige Person, die die Welt differenziert wahrnimmt, und zugleich trägt sie die schicksalshafte Last, Dinge sehen zu müssen, die die anderen nicht sehen, und wird dabei nicht ernst genommen. Sie will etwas sagen, aber niemand hört zu, und so wollte ich mit ihr mitfühlen. Als ich den Apokalypse-Teil komponierte, war ich völlig erschlagen, auch körperlich. Das hat mich sehr viel Energie gekostet. In dieser Musik gibt es nichts umsonst.

Der Aspekt der Kommunikation ist dir offenbar sehr wichtig.
Wenn ich mich mit so einem Text beschäftige, dann möchte ich damit natürlich auch etwas sagen. Ich habe ein Bedürfnis zu sprechen, meine Position klarzumachen als ein heute lebender Mensch. Das gilt sicher für alle, die künstlerisch tätig sind.

«Oracula Sibyllina» entstand 2014–15 und wurde am 21. Mai 2015 in Winterthur uraufgeführt. Im Vergleich zu heute schien damals die Welt fast noch in Ordnung. Seither haben sich viele Probleme zugespitzt. Wie kommt es, dass du in einer noch relativ ruhigen Zeit ein Stück mit einer so katastrophischen Tendenz geschrieben hast?
Die Gestalt der Sibylle hatte mich damals schon jahrelang beschäftigt. 2003 spielte das Quartet noir beim Lucerne Festival meine komponierte Improvisation mit dem Titel Weissagung, in der auch schon einige Sätze des jetzigen Textes vorkamen; die Kontrabassistin Joëlle Léandre hat damals die Wildheit der Sibylle grossartig zur Darstellung gebracht. Das arbeitete in meinem Hinterkopf weiter. Und dann beobachte ich auch seit vielen Jahren die beunruhigenden Veränderungen in der Gesellschaft und im Zusammenleben, und die haben in den letzten Jahren zugenommen. Das waren so kleine Mosaiksteinchen, die sich langsam zu dem Bild zusammensetzten, das dann mit in die Komposition einfloss.
 

Fünf Jahre später, mitten in der Coronakrise

Bei der Uraufführung wurde «Oracula Sibyllina» noch vorwiegend als rein ästhetisches Ereignis wahrgenommen. Und jetzt, fünf Jahre später, stecken wir mitten im Desaster der Coronakrise und haben das Gefühl: Die Schreckensvision dieser Sibylle geht uns etwas an.
Ich muss sagen, manchmal staune ich selbst, dass sich meine Ahnungen oder Vorstellungen nach längerer Zeit verwirklichen. Das bestätigt mich in der Ansicht, dass wir Menschen zwar gewisse Entwicklungen intuitiv oder vielleicht sogar rational erkennen, aber nicht wahrhaben wollen, dass sie real existieren. Wir haben immer geglaubt, wir könnten alles erklären und damit die Welt beherrschen, und haben übersehen, dass es Bereiche im Menschen gibt, die völlig irrational sind. Diese Bereiche treten gerade bei der Sibylle hervor, wenn sie weissagt. Und das ist auch der Punkt, wo die Kunst ansetzen kann, um Licht ins Dunkel zu bringen. Die Stimme der Sibylle, die zur inneren Stimme unseres Gewissens geworden ist, kann uns dabei leiten.

Die unerwartete Aktualität dieses Werks erinnert mich von ferne an die Geschichte von Gustav Mahler, der in einem glücklichen Lebensabschnitt die «Kindertotenlieder» schrieb, und drei Jahre später ist seine Tochter gestorben. Verfügen Künstler über einen siebten Sinn?
Wenn das so ist, dann hängt es vielleicht mit der Arbeitsweise des Künstlers zusammen. Er konzentriert sich monate- und jahrelang auf sein Werk, und das schärft die Wahrnehmung auf extreme Weise. Wenn ich komponiere, empfinde ich alles viel intensiver, auch die alltäglichen Dinge. Ich höre intensiver, ich verstehe die Menschen intensiver. Es findet eine Öffnung des Herzens und des Denkens statt. Und dadurch sieht man vielleicht auch weiter in die Zukunft als andere Menschen. Ich glaube, jeder Künstler, jede Künstlerin besitzt die Fähigkeit, die Welt so intensiv wahrzunehmen und Anteil an den Veränderungen zu nehmen. Vieles, was ich als Zeitgenossin so erlebe, beschäftigt mich unglaublich stark, und die Musik ist das Medium, in dem ich meine Empfindungen mitteile.

Damit kommen wir zur heute viel diskutierten Frage: Sollen sich künstlerisch Tätige in gesellschaftlichen Fragen engagieren?
In jedem Fall, absolut. Mit dem, was man etwas verengt «politische Musik» nennt, habe ich zwar meine Schwierigkeiten, aber ein Realitätsbezug kann auf vielerlei Arten entstehen. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die sagen: Ja so ist es, und man kann nichts machen. In mir brennt etwas, ich möchte etwas bewirken mit meiner Musik und etwas verändern. Ich finde, nur durch starke Stimmen kann etwas in Bewegung gebracht werden. Deshalb beeindruckt mich auch diese Sibylle. Sie geht bis an ihre Grenzen und riskiert viel dabei. Damit ermöglicht sie, dass nach den Prophezeiungen, die sich schon oft so schrecklich erfüllt haben, am Schluss wieder das Licht kommen kann.

Sollte eine Komponistin oder ein Komponist direkt auf die Coronaproblematik reagieren?
Einer meiner Studierenden hat mich auch schon gefragt, ob ich nicht das Bedürfnis habe, ein solches Werk zu schreiben. Das scheint mir aber jetzt noch zu früh, und ich glaube nicht an so einen Reflex auf Knopfdruck. Wir sind noch mittendrin und machen Erfahrungen, die erst verarbeitet werden müssen. Wir brauchen Zeit zur Reflexion. Doch es ist absolut nötig, sich über kurz oder lang mit diesem beispiellosen Geschehen künstlerisch auseinanderzusetzen.

Was sind, von den materiellen Folgen einmal abgesehen, die Auswirkungen der Coronakrise auf den einzelnen Künstler?
Kunst besteht aus dem Austausch, sie ist ein Kommunikationsakt. Wie für alle anderen ist es für mich wichtig, dass ich mit dem Zuhörer und der Interpretin kommunizieren kann, und das geht im Moment nicht. Corona wird natürlich irgendwann vorbei sein. Aber ich betone nochmals das Moment der Reflexion, denn nur so können wir auch die Konsequenzen daraus ziehen und entsprechend reagieren. Das Schlimmste wäre, zu denken: Jetzt ist alles vorbei, und wir können weitermachen wie zuvor.

Was würdest du dir für das Nachher wünschen?
Dass wir unsere Egoismen überwinden und mehr aufeinander hören. Dass wir mehr Sensibilität entwickeln den anderen Menschen gegenüber, auch gegenüber den Nächsten, und uns freuen über das, was uns geschenkt ist, über die ganze Gegenwart, in der wir leben. Dass wir wieder schätzen lernen, was wir haben, und nicht nur an das denken, was wir noch nicht haben oder noch erreichen wollen.
 

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Mozart vor Augen

Beethoven behielt das Autograf dieser frühen Quartette ein Leben lang bei sich.

Beethoven-Denkmal von Hans Mauer, Baden bei Wien. Foto: Geolina163/wikimedia commons (s. unten)

Mit 15 Jahren schuf Ludwig van Beethoven die drei Klavierquartette WoO 36. Sein Lehrer, der Bonner Hoforganist, Opernkapellmeister und Komponist Christian Gottlob Neefe, äusserte sich zwei Jahre zuvor über ihn: «Er würde gewiss ein zweiter Wolfgang Amadeus Mozart werden, wenn er so fortschritte, wie er angefangen.» Der junge Beethoven spielte und studierte Mozarts Werke; diese drei frühen Kompositionen orientieren sich denn auch in Form und Anlage an dessen Violinsonaten KV 296, KV 379 und KV 380. Die Gattung Klavierquartett war damals noch nicht populär, Mozarts Meisterwerke KV 478 und KV 493 entstanden erst in jenen Jahren. Die Besetzung Klavier, Violine, Viola und Violoncello ergab sich für Beethoven offenbar durch seine Beziehung zur Familie des Hofkammerrats Gottfried Mastiaux, dessen Kinder ebendiese Instrumente spielten.

Zeitlebens bewahrte Ludwig van Beethoven sein Autograf dieser Quartette auf. Er verwendete einzelne Themen später in den Klaviersonaten und im Klaviertrio c-Moll op.1 Nr. 3. Dieses erhaltene Autograf ist auch die massgebliche Quelle für die neue Urtextausgabe bei Bärenreiter. Der Herausgeber Leonardo Miucci, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule der Künste Bern, ergänzt seine Einführung mit aufschlussreichen Hinweisen zur Aufführungspraxis von Beethovens Klaviermusik aus jener Zeit.

Sind diese frühen Klavierquartette bereits «durchaus Beethoven»? Gewiss: Der spätere «Revolutionär» bleibt meist verborgen, und der Streichersatz gleicht noch nicht demjenigen der Streichquartette (er ist dafür leichter zu spielen!). Aber es handelt sich um wunderschöne Kammermusik, die den Vergleich mit anderen Werken ihrer Zeit nicht zu scheuen braucht und mitunter ganz schön dramatisch wird!

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Ludwig van Beethoven: Drei Quartette für Klavier, Violine, Viola und Violoncello WoO 36, hg. von Leonardo Miucci, Stimmen: Klavier (Partitur) und Streicher, BA 9037, € 48.95, Bärenreiter, Kassel

 

 

Foto oben: Geolina163 / wikimedia commons CC BY-SA 4.0 International

Fit für den Neustart

Die von Covid-19 erzwungene Konzertpause macht es schwierig, normale Überoutinen aufrecht zu erhalten. Die Rückkehr in den Normalbetrieb kann dann zu einem Schock werden.

SMM –– Nachdem im Frühling die Konzerttätigkeiten runtergefahren und nach den Sommerferien wieder aufgenommen worden sind, haben einige Therapiepraxen der SMM überraschenden Zustrom verzeichnet. Musikerinnen und Musiker hatten während der Zwangspause offensichtlich ihre Überoutinen am Instrument und Sportaktivitäten vernachlässigt und waren nicht mehr in Form, um die neuen Herausforderungen zu bewältigen.

Es besteht die Gefahr, dass sich das mit dem erneuten Stopp des Konzertlebens nun wiederholt. Verstärkt dadurch, dass nicht geplant werden kann. Niemand weiss im Moment, wann die strikten Massnahmen des Bundes und der Kantone wieder aufgehoben werden. Die Unmöglichkeit einer Planung ist aber eines der grössten Hindernisse, um Routinen und Zielstrebigkeit aufrechtzuerhalten.

Gewiss scheint nach den Erfahrungen dieses Sommers, dass das Ende der erzwungenen Pause grosse Herausforderungen mit sich bringen wird. Dienste in Orchestern dürften – nicht zuletzt wegen Nachholbedarfs – speziell intensiv werden. Das kann dazu führen, dass zum Beispiel das Gewicht des eigenen Instruments ungewohnte körperliche Probleme erzeugen kann. Erhöhte Anspannungen können Schmerzen akzentuieren, die mit regelmässiger Therapie, musikerspezifischen Übungen oder sportlicher Aktivität zuvor unter einer Schwelle der Behinderung gehalten werden konnten. Unsicherheiten über technische und motorische Fertigkeiten am Instrument können Auftrittsängste und damit Stress erzeugen, der wiederum die Gefahr von Verspannungen und Verkrampfungen deutlich erhöht.

Das Risiko kennen wir aus einer vergleichbaren Situation: Studierende neigen dazu, vor Prüfungen ihre Übezeiten kurzfristig stark zu erhöhen. Dieser Schock für den Körper kann dann dazu führen, dass der Körper genau in dem Moment, in dem an einer Prüfung höchste Präsenz, körperliche Top-Verfassung, Präzision und Virtuosität gefragt wäre, streikt. Zudem kann auch alleine die fehlende Konzert-Routine – die für viele von Ihnen sonst selbstverständlich ist – nach längerer Pause zu Auftrittsängsten und Nervosität führen.

In Sportkreisen ist das Bewusstsein dafür heute selbstverständlich, dass auch ausserhalb des Wettkampfalltags die individuelle «Fitness» sorgfältig geplant und gewahrt werden muss. Musizieren auf professionellem Niveau ist mit Spitzensport vergleichbar, gerade auch, was die körperlichen Anforderungen betrifft. Ein mit der Sportwelt vergleichbares Problem-bewusstsein fehlt unter Musikern aber noch.

Der Naturheilpraktiker Samuel Büchel ist in Spiez, und in Bern in der Praxis Wallner tätig, die sich in unmittelbarer Nähe zum Konzertlokal des Berner Symphonieorchesters befindet. Er kennt die Sorgen und Nöte der Orchestermusiker und rät ihnen, die Zeit möglichst gelassen zu nutzen, um auf den Neustart des Konzertlebens bereit zu sein. Wer bereits Therapien oder regelmässige Kör-perübungen absolviert, sollte diese keinesfalls absetzen. Nach Pausen können bei einer Wiederaufnah-me Schmerzen auftreten, die sich unter normalen Bedingungen nicht zeigten.

Vielleicht möchten Sie Ihre Zwangspause auch für das Aufgleisen einer neuen Überoutine nutzen? Neue Fitness- und Bewegungsübungen oder musikerspezifische Angebote und Körperübungen ausprobieren und in Ihren Musikeralltag integrieren? Vielleicht haben Sie sich schon länger vorgenommen, wieder einmal intensiv am Klang, Ihrem Atem oder Ansatz zu feilen? Mehr Leichtigkeit in Ihre feinmotorischen Bewegungen zu bringen oder Ihre Bühnenangst endlich anzugehen?

Alleine oder aber mit professioneller Unterstützung – jetzt wäre das Zeitfenster da, solche Vorhaben umzusetzen und sich diese Entwicklungschancen zu gönnen. Wir freuen uns, Sie hoffentlich bald wieder live auf der Bühne zu sehen und zu hören, liebe Musikerinnen und Musiker!

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