Für einen Chemiestudenten, dessen Violinlehrer und sich selbst schuf Antonín Dvořák das «Terzetto» C-Dur op. 74 für 2 Violinen und Viola.
Martin Lehmann
- 04. Sep. 2019
Rekonstruktion von Dvořák Pult in der Bohemian National Hall, New York. Foto (Ausschnitt): Steven Bornholtz / wikimedia commons
Dies ist die für den praktischen Gebrauch geeignetste Ausgabe des Terzetts von Antonín Dvořák! Die Seiten sind vom Herausgeber so eingerichtet, dass man bis zum Ende des zweiten Satzes nicht umblättern muss, das Papier ist von stabiler Qualität und die Taktzahlen sind am Anfang jeder Linie gesetzt und zählen den Auftakt nicht mit. Keine der mir bekannten gedruckten Stimmen erfüllte in den vergangenen fünf Jahrzehnten alle diese Kriterien gleichzeitig. Der knappe Kritische Bericht zu dieser Urtext-Ausgabe zeugt von grosser Sorgfalt. Auf Unterschiede zwischen der autografen Partitur und dem Erstdruck von Stimmen und Partitur wird in den Bemerkungen hingewiesen. Die Herausgeberin Annette Oppermann gibt der jeweils plausibelsten Lösung den Vorrang. Die Stimmen enthalten keine bogentechnische Einrichtung, nur originale Fingersätze, welche sich auf gelegentliche Flageolette und leere Saiten beschränken. Auch das ist eine Wohltat für die Ausführenden!
Amüsant ist die Entstehungsgeschichte dieses Kleinods der Kammermusik: In Dvořáks Haus lebte 1887 ein Chemiestudent und Amateurmusiker, der in seinem Zimmer Violinunterricht erhielt. Dvořák hörte während seiner Arbeit an sinfonischen Kompositionsaufträgen die beiden Geiger und bekam Lust, mit seiner Bratsche in deren Bund der Dritte zu sein. Mangels Literatur für diese Besetzung komponierte er innert einer Woche das Tercet op. 74 (so lautet der originale tschechische Name) und lieferte kurz darauf die Drobnosti (Kleinigkeiten) nach. Letztere wurden in der Bearbeitung des Komponisten für Violine und Klavier als Romantische Stücke op. 75 allerdings populärer.
Den italianisierenden Namen Terzetto erhielt das Opus 74 in C-Dur von Dvořáks Verleger Fritz Simrock, welcher dem Wunsch des Komponisten nach einem tschechischen Titel angesichts des deutschen Musikalienmarktes nicht entsprechen wollte. Der deutsche Name «Terzett» wiederum hätte Dvořáks böhmische Heimatgefühle verletzt.
Meisterhaft, welche Klänge Antonín Dvořák mit dieser kleinen Besetzung hervorzaubert! Und dabei bleiben die instrumentaltechnischen Ansprüche dem Niveau fortgeschrittener Schüler und erfahrener Amateure angemessen. Diese Ausgabe erleichtert jetzt auch die Probenarbeit und bannt alle Sorgen beim Umblättern.
Antonín Dvořák: Terzetto C-Dur op. 74, für zwei Violinen und Viola, hg. von Annette Oppermann; Stimmen, HN 1235, € 12.00; Studienpartitur, HN 7235, € 8.00; G. Henle, München
Klangvisionen für die Gitarre
Auf «Solare» haben Elena Càsoli, Virginia Arancio und Teresa Hackel etliche Stücke von Fausto Romitelli erstmals eingespielt.
Sibylle Ehrismann
- 04. Sep. 2019
Elena Càsoli. Foto: Vico Chamla
Die Gitarristin Elena Càsoli ist immer wieder für Überraschungen gut. Sie ist mittendrin in der heutigen Musikproduktion und lehrt an der Musikhochschule Bern Gitarre und Interpretation zeitgenössischer Musik. Beim italienischen Label stradivarius hat sie schon mit StrongStrangeStrings Furore gemacht, darauf folgte Changes Chances mit Musik von Cage, Carter und Riley.
Ihre neuste CD ist der Gitarrenmusik des italienischen Spektral- und Computermusikers Fausto Romitelli (1963–2004) gewidmet, der mit nur 41 Jahren nach langer Krankheit verstarb. Romitelli hatte in Mailand studiert und sich danach bei Franco Donatoni kompositorisch weitergebildet. Seinem Interesse für «Klangerforschung» folgend, ging er 1991 nach Paris, um mit Hugues Dufourt und Gérard Grisey am IRCAM (Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique) in Kontakt zu kommen. Von 1993 bis 1995 war er dort «compositeur en recherche». Er etablierte sich als junger Komponist im Umfeld von Ligeti, Scelsi und Grisey in der «Klangavantgarde» auf den führenden europäischen Bühnen für Neue Musik und ergründete unerhörte Klangdimensionen, sei das im Bereich instrumentaler und vokaler Musik, oder mit Elektronik, Live-Elektronik und Multimedia,
Elena Càsoli vermag Romitellis visionären Kosmos auch in seinen Gitarrenstücken zu offenbaren. Hochmusikalisch wie sie ist, gestaltet sie die minutiös notierten und deshalb schwer zu entziffernden Partituren mit dramaturgischer Raffinesse und einer vielschichtigen Farbpalette. Solare (1984) für Gitarre solo gibt der CD ihren Namen. Càsoli weiss den leisen, flirrenden Anfang so spannend zu gestalten, dass man interessiert mit ihr mitgeht: Es ist ein ruhiges Stück voller Überraschungen, das mit wenigen Mitteln eine dramaturgisch eigenwillige und klanglich differenzierte Poesie entfaltet. Càsoli ist mit jeder seiner Finessen vertraut, und gegen Schluss sinniert sie gar mit leisem Summen den vereinzelten Tönen nach.
Die CD bietet fünf Ersteinspielungen, Solare ist eine davon. Für die Stücke, die zwei Gitarren oder eine elektronische Gitarre verlangen, hat Càsoli Virginia Arancio mit ins Boot geholt, dazu die Blockflötistin Teresa Hackel. Diese bringt in Seascape (1994) und Simmetria d’oggetti (1987/88) für Flöte und Gitarre den «Hauch» mit ein, gestaltet Romitellis fantasievollen Umgang mit dem Atmen beeindruckend aus. – Wer diese CD zu hören beginnt, wird von der zarten, einnehmenden Klangwelt gefangen.
Fausto Romitelli: Solare. Elena Càsoli, classical guitar; Virginia Arancio, classical guitar, electric guitar; Teresa Hackel, Paetzold flute, recorder. stradivarius STR 37099
bewegen
Was sich genau abspielt, wenn Musik bewegt, und wohin das führen kann, ist nicht genau einzugrenzen. Maximen zu guter Führung können auch musikalische Organisationsstrukturen in Bewegung bringen.
SMZ
- 04. Sep. 2019
Titelbild: www.neidhart-grafik.ch
Was sich genau abspielt, wenn Musik bewegt, und wohin das führen kann, ist nicht genau einzugrenzen. Maximen zu guter Führung können auch musikalische Organisationsstrukturen in Bewegung bringen.
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Focus
Musik bewegt–warum, wissen wir nicht Die Emotionsforschung sucht weiterhin nach konkreten Antworten
Il existe une infinité d’émotions possibles Interview avec Didier Grandjean, directeur au NEAD à Genève
Wenn Lieder Politik machen Kann Musik unsere Haltung beeinflussen, unser Handeln bestimmen?
Le rap d’extrême droite en France Une microscène dynamique et fragile
Mit guter Steuerung zu mehr Demokratie «Good Governance» bringt Orchester- und Verbandsstrukturen in Bewegung
Seit Januar 2017 setzt sich Michael Kube für uns immer am 9. des Monats in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb.
Hier können Sie die aktuelle Ausgabe herunterladen. Bitte geben Sie im Printarchiv den Suchbegriff «e-paper» ein. Für Abonnentinnen und Abonnenten ist der Download kostenlos.
Allen andern Interessentinnen und Interessenten wird das PDF der aktuellen Ausgabe (oder einer früheren Ausgabe) gerne per E-Mail zugestellt. Kosten: Fr. 8.-. Hier geht es weiter zur Bestellung des e-papers.
Fünf junge Volksmusikanten trafen sich an einem von der SUISA initiierten Komponierwochenende, um unter der Leitung von Dani Häusler eine Hymne für das Eidgenössische Volksmusikfest 2019 zu schreiben.
Sibylle Roth und Manu Leuenberger
- 04. Sep. 2019
Nachdem 2015 die Hymne für das Eidgenössische Volksmusikfest in Aarau als Auftragskomposition von Hanspeter Zehnder im Alleingang komponiert worden war, wollte man dieses Jahr auf den Nachwuchs setzen. Das Komponierwochenende wurde von der SUISA angeregt und von Markus Brülisauer vom Verband Schweizer Volksmusik (VSV) in Zusammenarbeit mit dem Organisationskomitee des EVMF organisiert.
Die Organisatoren waren für die Auswahl der eingeladenen Musikanten verantwortlich. Dabei wurde darauf geachtet, die gängigsten Instrumente der Volksmusik vertreten zu haben. So kam es, dass sich Eva Engler, Klarinette, Alessia Heim, Hackbrett, Jérôme Kuhn, Kontrabass, Florian Wyrsch, Schwyzerörgeli und Siro Odermatt am Akkordeon an einem Samstagmorgen im Mai 2019 in Crans-Montana trafen.
Ausser Siro Odermatt, der seit 2017 SUISA-Mitglied ist und bereits mehrere Stücke selber geschrieben hat, besassen die jungen Musikantinnen und Musikanten keine grosse Erfahrung im Komponieren. Deshalb wurde mit Dani Häusler ein erfahrener Volksmusikant als Leiter des Wochenendes engagiert.
Der Anfang auf dem weissen Blatt Papier
Bevor im Seminarraum des Hotels «La Prairie» die ersten Töne aus den mitgebrachten Instrumenten erklangen, setzte sich die Gruppe an einen Tisch und begann die Arbeit sprichwörtlich auf dem weissen Blatt Papier. Der erste Gedankenaustausch war geprägt von verschwommenen Vorstellungen: Eine Hymne – das ist ein grosses Wort. Was soll das sein? Wie soll das klingen? Wie gehen wir vor? Welche Tanzart ist geeignet? Wie findet man nun Melodien und Akkorde? Und: Kriegen wir bis morgen Sonntag wirklich ein Stück fertig?
Der Leiter Dani Häusler gab Denkanstösse, bündelte die Fragen, gemeinsam wurden nach Antworten gesucht, die Ideen und Gedanken auf Papier festgehalten, die Vorstellungen wurden konkretisiert, und bald einmal war eine Grundlage für das Stück definiert – vorerst immer noch auf dem Papier. Man hatte sich nach einigen Diskussionen für einen Schottisch entschieden. Zudem wollte man gerne einen Text zum Mitsingen haben.
Danach wurde erstmals mit den Instrumenten musiziert: Die Jugendlichen setzten sich zu zweit oder zu dritt zusammen und sammelten gemeinsam musikalische Ideen. Was in den Kleingruppen erarbeitet worden war, wurde hernach vor voller Runde präsentiert und mit möglichen Begleitstimmen ergänzt. So fand sich nach kleinen Startschwierigkeiten die zündende Idee im Verlauf des Samstagnachmittags, und bis zum Abendessen war das Gerüst der Hymne fertiggestellt.
Zu diesem Gerüst gehörte auch bereits der Entwurf für einen Text zum Stück, aus dem neben dem titelgebenden Ausruf «Ab is Wälschland …!» eine kernige Sprechgesangzeile sofort im Gedächtnis haften bleibt: «Glich oder glich ned glich.» Jérôme Kuhn erklärte dazu: «In der ganzen Schweiz gibt es Volksmusik, aber in vielen Gebieten gibt es verschiedene Stilrichtungen.» Ob «gleich oder doch nicht gleich» können Neugierige am kommenden Eidgenössischen Volksmusikfest in Crans-Montana erfahren.
Die erste Aufführung
Am Sonntagmorgen wurde an den einzelnen Teilen des Stücks vor allem hinsichtlich Arrangement weitergefeilt. In Gruppen oder alleine übten die Musikantinnen und Musikanten ihre Einzelstimmen. Gegen Mittag war das neu geschaffene Werk dann erstmals im Gesamten zu hören und wurde in weiteren Probedurchläufen ständig verfeinert.
«Es ist ein ‹ghörfälliges› Stück entstanden, das etwas Einzigartiges hat und doch fürs grosse Publikum geeignet ist», meinte Siro Odermatt gegen Ende des erfolgreichen Komponierwochenendes. Die Hymne wurde im Nachhinein mit den Musikanten und Dani Häusler im Studio professionell aufgenommen und kann auf CD gekauft werden. Der Verkaufserlös kommt vollumfänglich dem VSV-Nachwuchsfonds zugute.
Das 13. Eidgenössische Volksmusikfest findet vom 19. – 22. September 2019 in Crans-Montana statt.
Zu den wenigen Werken für Violine und Klavier von Claude Debussy gehört die Violinsonate. Diese Neuerscheinung beleuchtet die Hintergründe ihrer Entstehung und die unterschiedlichen Quellen.
Walter Amadeus Ammann
- 04. Sep. 2019
Geburtshaus in Saint-Germain-en-Laye und heutiges Musée Claude Debussy. Foto: Lionel Allorge / wikimedia commons
Der tüchtige amerikanische Herausgeber Douglas Woodfull-Harris erzählt in seinem englischen Vorwort (französisch und deutsch übersetzt) mit vielen Zitaten aus der Zeit, wie Debussy erst am Lebensende auf die Idee kam, Kammermusik zu komponieren: 1914 gefielen ihm Arrangements zweier seiner Klavierstücke durch den ungarisch-amerikanischen Geiger Arthur Hartmann für Violine und Klavier so sehr, dass er ein weiteres Stück für diese Besetzung einrichtete – alle drei sind in diesem Heft enthalten – und mit Hartmann zusammen bezaubernd aufführte. Danach plante er die Werkserie Six Sonates pour divers instruments, von der er die Cellosonate (1915), die Sonate für Flöte, Viola und Harfe (1916) und die Violinsonate fertigstellen konnte. 1917 erarbeitete der an Krebs erkrankte Debussy die Uraufführung der noch nicht fertig gedruckten Violinsonate mit dem Geiger Gaston Poulet – sein letzter öffentlicher Auftritt. Ausführlich vernimmt man von Umständen späterer Aufführungen und Ausgaben.
Die Sonate ist hier zweimal, nach den beiden wichtigsten Quellen, abgedruckt. Die grossen Bögen der ersten Version entsprechen den Phrasierungsintentionen des Komponisten, die der zweiten violintechnischen Bedürfnissen. Versuchen wir die erste zu verwirklichen mit Hilfe der zweiten! Im Critical Commentary (nur englisch) staunt man, wo überall der Herausgeber Quellen aufgestöbert hat: in Paris, Winterthur, Washington DC, Genf. Sie liefern das Material für über hundert Anmerkungen; es sind wertvolle Details für die eigene Interpretation.
Claude Debussy: Werke für Violine und Klavier (Sonate, Minstrels, La fille aux cheveux de lin, Il pleure dans mon coeur), hg. von Douglas Woodfull-Harris, BA 9444, € 18.95, Bärenreiter, Kassel
Roche ermuntert Kompositions-Nachwuchs
Kirsten Milenko und Alex Vaughan, zwei junge Komponisten aus Australien, erhalten die Kompositionsaufträge der Roche Young Commissions für 2021. Ausgewählt wurden sie von Wolfgang Rihm, dem künstlerischen Leiter der Lucerne Festival Academy.
Musikzeitung-Redaktion
- 03. Sep. 2019
Kirsten Milenko und Alex Vaughan (Bild: Nik Hunger)
Die 1992 geborene Australierin Kirsten Milenko lebt und komponiert in Kopenhagen und studiert an der Royal Danish Academy of Music bei Niels Rosing-Schow und Simon Løffler. Zuvor hat sie bei Liza Lim, Rosalind Page, Natasha Anderson und Ursula Caporali am Sydney Conservatorium of Musik studiert. Sie ist beim australischen Label Muisti-Records unter Vertrag und ihr Debutalbum Caeli wurde im Juni 2019 veröffentlicht.
Alex Vaughan, 1987 in Sidney geboren, begann im Alter von acht Jahren mit Posaunen-Unterricht, darauf folgten mehrere Jahre der Ausbildung in Jazz- und Musiktheorie an der Music Life-School of Performing Arts unter der Leitung von Rory Thomas in Sidney. Er studierte Komposition und Jazz-Posaune an der University of New South Wales und zog dann nach Weimar, um sein Studium in Deutschland fortzusetzen. Zu seinen Lehrern zählen unter anderem Reinhard Wolschina, Jörn Arnecke und Hansjörg Fink.
Die Roche Young Commissions wurden 2013 erstmals als einzigartige Kooperation zwischen Roche, Lucerne Festival und der Lucerne Festival Academy ins Leben gerufen. Seit 2003 werden im Rahmen der Roche Commissions Werke an weltweit renommierte Komponisten in Auftrag gegeben, mit den Roche Young Commissions wurde die Partnerschaft erweitert. Die Werke der Roche Commissions und der Roche Young Commissions werden jeweils alternierend alle zwei Jahre uraufgeführt.
Komponistinnen im 19. Jahrhundert
Das Ensemble Les Métropolitaines präsentiert zum 200. Geburtstag von Clara Schumann-Wieck Lieder und Kammermusik von ihr und ihrem musikalischen Freundes- und Einflusskreis.
«Ich spiele nicht nur Klavier …» betitelte 2016 der Sender SWR2 eine Musikstunde, die komponierende Frauen verschiedener Jahrhunderte portraitierte. Das Klavierspiel, sozusagen die Grundausstattung einer Tochter aus gutem Hause, ist meist einer der Schwerpunkte der Komponistinnen im 19. Jahrhundert. Sie treten als Pianistinnen auf und erteilen Klavierunterricht, aber eben nicht nur, sie komponieren auch für dieses Instrument. Daneben erhalten sie oft Gesangsunterricht und begleiten sich dann selbst am Klavier. So wächst auch der zweite Kompositionsschwerpunkt, das Lied, aus dieser häuslichen Musiktradition heraus.
Viele der Komponistinnen, die wir für unser Konzert zu Ehren von Clara Schumann ausgewählt haben, sind in ihrer Familie mit weiblichen «Vorbildern» aufgewachsen, die in der Öffentlichkeit als Musikerinnen aufgetreten sind. Clara Schumanns Mutter, Marianne Tromlitz, trat solistisch in den Leipziger Gewandhauskonzerten auf. Claras langjähriger Freundin, Pauline Viardot Garcia wird das Singen sozusagen in die Wiege gelegt: Ihr Vater ist Operntenor und Komponist, ihre Mutter Sängerin und Schauspielerin. Nach dem Tod ihrer älteren Schwester, der berühmten Sängerin Maria Malibran, tritt die zunächst als Pianistin ausgebildete Pauline dann in die Fussstapfen ihrer Schwester. Josephine Langs Mutter ist ebenfalls Sängerin. Und auch Fanny Hensel und Mary Wurm haben Mütter, die ihren Kindern selbst Unterricht erteilen und für eine solide musikalische Ausbildung sorgen.
Wenn auch mit der Musik vertraut und eng verbunden mit Frauen, die ihren Beruf als Musikerinnen öffentlich ausüben, betreten die Komponistinnen mit ihrer Tätigkeit Neuland. Komponieren gilt nicht als Frauensache. So schreibt der Kritiker Hans von Bülow: «Reproductives Genie kann dem schönen Geschlecht zugesprochen werden, wie productives ihm unbedingt abzuerkennen ist. Eine Componistin wird es niemals geben, nur etwa eine verdruckte Copistin. Ich glaube nicht an das Femininum des Begriffes: Schöpfer. In den Tod verhasst ist mir ferner alles, was nach Frauenemancipation schmeckt.»
Clara Schumann
Clara Schumann sieht sich selbst primär als Pianistin. «Ich fühle mich berufen zur Reproduction schöner Werke […]. Die Ausübung der Kunst ist ja ein grosses Teil meines Ichs, es ist mir die Luft, in der ich athme.» Ihre eigenen Kompositionen bewertet sie zum Teil als wenig geglückt. «[…] natürlich bleibt es immer Frauenzimmerarbeit, bei denen es immer an der Kraft und hie und da an der Erfindung fehlt.» Und: «Componieren aber kann ich nicht, es macht mich zuweilen ganz unglücklich, aber es geht wahrhaftig nicht, ich habe kein Talent dazu.» Ihre Begründung: «Frauen als Komponisten können sich doch nicht verleugnen, dies laß ich von mir wie von anderen gelten.» Daneben gibt es auch Aussagen, die Freude an den eigenen Kompositionen zeigen: «Es geht doch nichts über das Vergnügen, etwas selbst komponiert zu haben und dann zu hören.»
Robert schätzt Claras Kompositionen, er ermahnt sie zum Teil, das Komponieren nicht zu vernachlässigen. Er sieht auch bedauernd, dass sie neben den vielen Aufgaben nicht zum Komponieren kommt. «Clara hat eine Reihe von kleineren Stücken geschrieben, in der Erfindung so zart und musikreich, wie es ihr früher noch nicht gelungen. Aber Kinder haben und einen immer phantasierenden Mann und komponieren, geht nicht zusammen. Es fehlt ihr die anhaltende Übung, und dies rührt mich oft, da so mancher innige Gedanke verloren geht, den sie nicht auszuführen vermag.» In diesen Zeilen erscheint Clara als ernst zu nehmende Komponistin. Eine Lösung für das Problem wird allerdings nicht gesucht. Und wenn die beiden direkt in Konkurrenz treten, ist es mit der Gleichberechtigung vorbei. Robert leidet, wenn Clara auf Konzertreisen im Zentrum steht. Auf einem Doppelmedaillon will Robert über Clara abgebildet sein, weil der produktive Komponist über der reproduzierenden Künstlerin steht. Dass sich hinter der vordergründigen Ebenbürtigkeit eine klare Hierarchie verbirgt, zeigt sich auch im Zitat von Franz Liszt: «Keine glücklichere, keine harmonischere Vereinigung war in der Kunstwelt denkbar, als die des erfindenden Mannes mit der ausführenden Gattin, des die Idee repräsentierenden Komponisten mit der ihre Verwirklichung vertretenden Virtuosin.»
Pauline Viardot
Für Pauline Viardot sind schaffende und ausübende Künstlerinnen und Künstler gleichwertig. « […] der dramatische Künstler muss fortwährend schaffen – er muss menschliche, lebendige, fühlende, leidenschaftliche, vollendete, bis in den kleinsten Details naturwahre Gestalten sich erdenken und dem Zuschauer vorführen. Vor allem verehre ich den schaffenden Meister, unmittelbar neben ihm den schaffenden Künstler. Beide sind unzertrennbar – denn Jeder allein für sich bleibt stumm, und zusammen schaffen sie den höchsten und edelsten Genuss des Menschen, die Kunst.» Pauline kann beide Seiten intensiv durchleben, sie widmet sich lange Zeit ihrer Bühnenkarriere. Die älteste Tochter wächst bei ihrer Mutter auf und ihr Mann begleitet Pauline häufig auf ihren Tourneen. Dann beendet sie mit 42 Jahren ihre Bühnenlaufbahn, unterrichtet, komponiert und gibt nur noch wenige Konzerte. Clara Schumann bewundert die Leichtigkeit, mit der Pauline alles umsetzt. So schreibt sie nach der Aufführung von zwei kleinen Operetten von Pauline: «Mit welchem Geschick, feinsinnig, anmuthig, abgerundet das alles gemacht ist, dabei oft amüsantester Humor, das ist doch wunderbar! […] und kaum hat sie das alles aufgeschrieben, spielt es nur so aus Skizzen-Blättern! Und wie hat sie das einstudiert, die Kinder, wie sind sie bezaubernd […]! Überall in der Begleitung hört man die Instrumentation heraus – kurz ich fand wieder bestätigt, was ich immer gesagt, sie ist die genialste Frau, die mir je vorgekommen, und wenn ich sie so sitzen sah am Klavier, das alles mit der grössten Leichtigkeit leitend, so wurde mir weich ums Herz […].»
Fanny Mendelssohn
Fanny Mendelssohn erhält zwar die gleiche musikalische Ausbildung wie ihr Bruder Felix, ihre Situation als Frau verunmöglicht es ihr aber, ihre Kompositionen zu veröffentlichen. So schreibt ihr Vater der fünfzehnjährigen Tochter: «Was du mir über dein musikalisches Treiben im Verhältnis zu Felix in einem deiner früheren Briefe geschrieben, war ebenso wohl gedacht als ausgedrückt. Die Musik wird für ihn vielleicht Beruf, während sie für dich stets nur Zierde, niemals Grundbass deines Seins und Tuns werden kann und soll; […]. Beharre in dieser Gesinnung und diesem Betragen, sie sind weiblich, und nur das Weibliche ziert die Frauen.» Auch später ermahnt er sie in diesem Sinne, was Fanny einem Freund gegenüber folgendermassen kommentiert: «Daß man übrigens seine elende Weibsnatur jeden Tag, auf jedem Schritt seines Lebens von den Herren der Schöpfung vorgerückt bekömmt, ist ein Punkt, der einen in Wuth, und somit um die Weiblichkeit bringen könnte, wenn nicht dadurch Übel ärger würde.»
Felix, der andere Komponistinnen wie Josephine Lang und Johanna Kinkel in ihrem Komponieren ermutigt, bleibt Fannys Bemühungen gegenüber ablehnend. So schreibt er an seine Mutter: «Du lobst mir ihre neuen Compositionen, u. das ist wahrhaftig nicht nöthig, […] denn ich weiss ja, von wem sie sind. Auch […] dass ich, sowie sie sich entschliesst, etwas herauszugeben, ihr die Gelegenheit dazu, so viel ich kann, verschaffen und ihr alle Mühe dabei, die sich ihr ersparen lässt, abnehmen werde. Aber zureden etwas zu publicieren kann ich ihr nicht, weil es gegen meine Ansicht und Überzeugung ist. […] ich halte das Publicieren für etwas Ernsthaftes […] und glaube, man soll es nur thun, wenn man als Autor sein Lebenlang auftreten und dastehn will. […] Und zu einer Autorschaft hat Fanny, wie ich sie kenne, weder Lust noch Beruf, dazu ist sie zu sehr eine Frau, wie es recht ist, […].» Als sich Fanny mit vierzig Jahren entschliesst, ihre Kompositionen herauszugeben, im Wissen darum, dass das ihrem Bruder missfällt, erteilt ihr Felix endlich den «Handwerkssegen» und wünscht ihr viel Freude.
Johanna Kinkel
Johanna Kinkel scheint schon sehr früh gewusst zu haben, dass sie Musik «zu ihrem Geschäft machen» will. Die Familie findet das nicht angemessen. Die Grossmutter sagt: Wir «haben es ja, Gott sei Dank nicht nötig, dass unser einziges Kind Musik zu seinem Unterhalte lernen sollte». Darum wird Johanna auf eine Schule geschickt, wo sie das «Haushalten» lernen soll. Das liegt ihr allerdings gar nicht. «Ach wie viel lieber und leichter hätte ich Generalbass gelernt, denn dass ein Ding dieses Namens existierte, welches einem zum Begriff des Komponierens verhelfe, hatte ich schon irgendwo gehört.» «Ich mag keine Dilettantin sein, ich will Künstlerin werden.» Dieses Ziel strebt sie in der Folge mit grosser Konsequenz an. So reist sie zu Felix Mendelssohn, um ihm vorspielen zu können, und organisiert dann ihre Musikausbildung in Berlin. Nach dem Studium in Generalbass fühlt sie sich befähigt, ihre Ideen umzusetzen. «Ich hatte von Jugend auf den Trieb des Komponierens gefühlt, aber ich wollte ihn nicht dadurch abschwächen, dass ich ohne Kenntnis der Theorie eine Menge dilettantischer Einfälle zu Papier brachte, wie es so oft geschieht. […] Jetzt, wo ich erkannte, was mich ehedem am klaren Hinstellen meiner inneren Melodienwelt gehindert, drängte es in mir, als ob alle meine Gedanken knospen und zu Tönen erblühen wollten.»
Louise Adolpha Le Beau
Glaubt man den Rezensenten der Zeit, komponiert keine der Frauen so «männlich» wie Louise Adolpha Le Beau. «Man erwartet solche Solidität der theoretischen Durchbildung, solche Gewandtheit in der Formenbehandlung, wie in der Orchestrierung, von Damen für gewöhnlich nicht; hier finden wir einen männlich ernsten Geist, einen künstlerischen Ausbau auf äußerst solidem Fundament, verbunden mit feiner Empfindung für Formen- und Klangschönheit,» so ein Lob an Le Beau. Als sie bei Rheinberger in München vorspricht, um Stunden nehmen zu können, lehnt er ab. Er will keine Frauen unterrichten. Nach dem Vorspielen eigener Kompositionen wird sie als «Herr Kollege» akzeptiert, dabei attestiert er ihrer Violin-Sonate op.10 ausserordentliche Qualität, sie sei «männlich, nicht wie von einer Dame komponiert». Dieses Lob zieht sich wie ein roter Faden durch die Rezensionen, so auch in folgendem Kommentar: «Frl. le Beau gehört unter die Ausnahmen, die es weiter bringen; schrieben nicht viele Männer wirklich schlechte Musik, dann würde ich mein Lob in die Worte kleiden: sie komponirt wie ein Mann!» Einerseits sucht Le Beau die Anerkennung als Komponist(in), andererseits gerät sie in Konkurrenz zu ihren männlichen Kollegen. Trotz ihrer Qualitäten sucht sie vergeblich ein Opernhaus, das ihre Oper aufführt, auch eine Professur für Komposition in Berlin bleibt ihr verschlossen. Frauen sind für diese Stelle nicht vorgesehen.
Klavierwerke und Lieder
Wenn man sich die Kompositionen der Frauen aus dem 19. Jahrhundert anschaut, so dominieren ganz eindeutig Klavierwerke und Lieder das Bild. Dies ist so bei Clara Schumann, Johanna Kinkel, Josephine Lang und weitgehend bei Fanny Hensel. Wobei eine Übersicht über die Kompositionen von Fanny Hensel auch heute noch nicht vorhanden ist.
Fanny Hensel beschreibt ihre Schwierigkeit, längere Werke zu schreiben, folgendermassen: «Es ist nicht sowohl die Schreibart, an der es fehlt, als ein gewisses Lebensprinzip, u. diesem Mangel zufolge sterben meine längeren Sachen in ihrer Jugend an Altersschwäche, es fehlt mir die Kraft, die Gedanken gehörig festzuhalten, ihnen die nöthige Consistenz zu geben. Daher gelingen mir am besten Lieder, wozu nur allenfalls ein hübscher Einfall ohne viel Kraft der Durchführung gehört […].» Wenn Frauen sich schon in die Komposition vorwagen, dann im Bereich Klaviermusik, Lied und Kammermusik. Die grossen Formen, Oratorium, Oper und Sinfonie gehören zum «männlichen» Komponieren. In diesem Bereich bewegen sich – wenn auch nicht mehrheitlich – Mary Wurm und Louise Adolpha Le Beau.
Sinfonien
Seit Beethoven ist die Sinfonie sozusagen die Krönung der Komponistenkarriere. Mary Wurm schreibt eine Kindersinfonie und Louise Le Beau eine (einzige) Sinfonie (op.41), was ihr bewundernde Rezensionen einbringt: «Es ist wohl das erste Mal, daß eine Dame sich auf den Höhepunkt der Instrumentalmusik empor geschwungen hat, und zwar mit Erfolg. Die Komponistin versteht nicht bloß die sinfonische Form meisterhaft zu behandeln, sondern dieselbe auch durch einen Reichtum musikalischer Gedanken einheitlich zu verbinden.» Und: «Es gehört unzweifelhaft für eine Dame ein großer Muth dazu, eine Symphonie zu schreiben, sowohl wegen der eigenthümlichen Schwierigkeiten dieser Musikgattung wie auch wegen des Vorurtheils, das man im Publikum der Leistung einer Dame auf diesem bisher ausschließlich Männern vorbehaltenen Gebiete der Composition entgegenbringt. Frl. Le Beau durfte den Muth dazu aus dem Reichthum ihrer musikalischen Erfindung, ihrer für eine Dame phänomenalen Compositionstechnik und ihrer sicheren Beherrschung der orchestralen Ausdrucksmittel schöpfen. Ihre Symphonie in F dur ist ein zwar nicht immer gleichwerthiges, aber in allen Sätzen fesselndes und ausgezeichnet durchgearbeitetes Musikwerk…»
So gesehen hat also nur eine der von uns ausgewählten Komponistinnen wirklich den Olymp erreicht. Musikalische Qualität gibt es aber zum Glück auch ohne Götterberg. Diese grossartige, vielseitige Welt der Komponistinnen ist eine Reise wert, es gibt immer noch viel zu entdecken.
Konzert
Akikos Klavier
«Music for Peace» ist eine Initiative des Hiroshima Symphony Orchestra, die mit dem Friedensgedanken die Welt bewegen will und von Martha Argerich unterstützt wird.
Max Nyffeler
- 03. Sep. 2019
Martha Argerich spielt auf Akikos Instrument. Foto: by courtesy of Hope Project, Hiroshima
Hiroshima, 6. August, 8.15 Uhr: Siebenmal wird die Friedensglocke angeschlagen. Es ist der Moment, in dem 1945 ein amerikanischer Bomber zehn Kilometer über der Stadt die Atombombe ausklinkte. Innert Sekunden starben damals Zehntausende, und bis zum Jahresende wuchs als Folge der Radioaktivität die Zahl der Opfer auf rund hundertvierzigtausend an. Die Glockenschläge eröffnen jedes Jahr die Gedenkzeremonie, zu der sich jeweils die Überlebenden und ihre Familien, ranghohe Offizielle, ein Grossteil des diplomatischen Korps aus Tokio sowie Tausende von einfachen Bürgern am Nullpunkt der Explosion, im heutigen Friedenspark, einfinden. Nach einer Schweigeminute folgen Ansprachen des Bürgermeisters von Hiroshima und des Ministerpräsidenten, ein Taubenschwarm fliegt auf, zwei Kinder verlesen ein Friedensgelöbnis.
Ein Ausstellungsobjekt im Frieden und Gedächtnismuseum Hiroshima: Die Küchenuhr blieb in dem Moment stehen, als die Bombe explodierte. Foto: Max Nyffeler
Die kurze und würdevolle Zeremonie ist der medial weithin sichtbare Teil einer sorgfältig gepflegten Erinnerungskultur in der Stadt, die heute wieder über eine Million Einwohner zählt. Dazu gehört neben verschiedenen Gedenkstellen im Park die als «Atombombenkuppel» weltweit bekannte Ruine der ehemaligen Industrie- und Handelskammer und vor allem das Friedens- und Gedenkmuseum. Es dokumentiert auf ebenso sachliche wie erschütternde Weise den Tod und das massenhafte Leiden der Opfer und führt in einer vorbildlich gestalteten pädagogischen Abteilung das zerstörerische Potenzial der Bombe vor Augen. Ein Schrecken durchfährt einen bei der Vorstellung, dass sich so etwas irgendwo auf der Welt heute wiederholen könnte.
Point Zero und das heutige Hiroshima, links das Monument der «Atombombenkuppel». Foto: Max Nyffeler
«Music for Peace» als internationales Austauschprogramm
Diese traditionellen Aktivitäten werden seit 2015 ergänzt durch die Initiative «Music for Peace», in deren Zentrum das Sinfonieorchester von Hiroshima steht. Sie hat sich zur Aufgabe gemacht hat, den in dieser Stadt hoch gehaltenen Friedensgedanken in die Welt hinauszutragen. Unter den Unterstützern steht an vorderster Stelle Martha Argerich mit dem Ehrentitel einer Friedensbotschafterin des Orchesters. Initiator und treibende Kraft ist Shoji Sato, im Hauptberuf Mitarbeiter einer Tokioter Künstleragentur, und als künstlerischer Träger fungiert das Sinfonieorchester. Mit thematisch ausgerichteten Konzertprogrammen und unter Nutzung der globalen Verflechtungen im heutigen Musikbusiness bildet es die Drehscheibe eines langfristig angelegten, internationalen Austauschprogramms, das sich nicht nur auf gegenseitige Orchesterbesuche und Solistentätigkeiten erstreckt, sondern je nach Projekt auch Orchestermusiker einzeln oder in Gruppen einbezieht.
Der Konzertsaal in Hiroshima. Foto: Max Nyffeler
Die «Transplantation» von Orchestermusikern ist ungewöhnlich und verweist auf einen Grundgedanken der Initiative. Über das legitime Bemühen hinaus, das eigene Orchester besser am internationalen Markt zu platzieren, geht es nämlich darum, den Erfahrungshintergrund sowohl der einzelnen Musiker als auch des gesamten Orchesters zu erweitern und durch die menschlichen Begegnungen etwas zur Verständigung über die Kontinente, Sprachgrenzen und kulturellen Eigenheiten hinweg beizutragen. Orchesterpädagogik und Friedenserziehung ergänzen sich. «‹Music for Peace› will den Menschen den Gedanken der Abrüstung nahebringen», sagt Sato. Dass für solche japanischen Friedenssignale ausgerechnet unsere europäische Klassik als Medium dient, ist nicht erstaunlich. Sie hat im Fernen Osten einen hohen Stellenwert, das Publikum ist begeisterungsfähig und, wie man zumindest in Japan beobachten kann, durchwegs gut informiert. Es wächst auch kontinuierlich, nicht zuletzt durch den Einfluss der Medien, ohne die heute nichts mehr geht.
Eine Uraufführung von Toshio Hosokawa
Am Vorabend des diesjährigen Gedenktages gab das Hiroshima-Orchester unter der Leitung seines ständigen Gastdirigenten Christian Arming nun ein Konzert mit einem neuen Werk von Toshio Hosokawa, dem ersten Cellokonzert von Dmitri Schostakowitsch und der ersten Sinfonie von Gustav Mahler. Hosokawa ist in Hiroshima geboren und derzeit Composer-in-Residence des Orchesters. Im Unterricht bei Klaus Huber in Freiburg hat er sich die westlichen Kompositionstechniken angeeignet, doch seine Tonsprache wurzelt hörbar im asiatischen Musikempfinden. Hier tritt die lebendig gestaltete Linie als Formprinzip und Ausdrucksträger an die Stelle einer harmonisch strukturierten Ordnung; der harmonische Raum wird ersetzt durch die Räumlichkeit der Geste, die – analog zu dem aus der Körperbewegung entstehenden Pinselstrich in der Kalligrafie – im Nichts, und das heisst: in der Stille beginnt und endet.
Auf diese Parallele weist Hosokawa im Zusammenhang mit der nun uraufgeführten Komposition Lied V hin. Es ist ein kurzes, sehr konzentriert wirkendes Konzert für Violoncello und Streichorchester mit Schlagzeug und Harfe. Eine charakteristische ostasiatische Symbolik zeigt sich auch in der formalen Anlage: Der Solopart stellt nach Hosokawa die Stimme des Menschen dar, während das Orchester für die innere und äussere Natur steht. Die Melodielinie wird ins Riesenhafte vergrössert, sie durchmisst den ganzen Tonraum, zerfasert und verknäuelt sich und wuchert zu ausdrucksgeladenen Klangprozessen aus – ein permanent unter Hochspannung stehender Energiestrom, der vom englischen Cellisten Steven Isserlis mit packender Intensität zur Entfaltung gebracht wurde. Das farbenreiche Orchester liefert dazu den passenden Resonanzraum.
Das Hiroshima-Sinfonieorchester gehört zu den japanischen Spitzenorchestern, es ist reaktionsschnell und pflegt einen prickelnd transparenten Klang. Auffällig sind die brillante Bläsergruppe und der flexible Streicherklang. Seine Qualitäten konnte es bei der abschliessenden Mahlersinfonie voll ausspielen, wobei es unter Armings inspirierender Leitung mit seinem kollektiven Rubatospiel, den kleinen Schlenkern und Glissandi vor allem im melancholischen langsamen Satz etwas Wiener Atmosphäre am fernen Pazifik heraufbeschwor.
Martha Argerich spielt zeitgenössische Musik
Akikos Klavier vor der «Atombombenkuppel». Foto: by courtesy of Hope Project, Hiroshima
Das Orchester hat mit seiner Initiative bereits zahlreiche Fäden nach Europa und Kanada geknüpft. Eine besonders enge Beziehung besteht zur Sinfonia Varsovia; beide sind nach dem Krieg in einer dem Erdboden gleichgemachten Stadt gegründet worden, und zum hundertjährigen Bestehen der diplomatischen Beziehungen zwischen Japan und Polen sind die beiden Orchester vor Kurzem in Warschau in einer Mischformation aufgetreten, wobei sie gemeinsam Beethovens Neunte spielten und Martha Argerich mit Chopin auftrat. Im Juni war schon Krzysztof Penderecki in Hiroshima zu Gast. Er dirigierte nebst Beethoven sein 2009 in Krakau unter Valery Gergiev uraufgeführtes Prelude for Peace und sein zweites Violinkonzert; als auswärtige Orchestermusiker waren damals zwei Mitglieder des Dänischen Radio-Sinfonieorchesters mit von der Partie.
Das ganz grosse Feuerwerk wird aber im nächsten August in Hiroshima steigen, wenn das Orchester mit zwanzig Gastmusikern aus Polen, Dänemark, Frankreich, Deutschland und den USA und mit Choristen aus Hannover, der Partnerstadt Hiroshimas, wiederum die Neunte aufführt. Und die Überraschung des Abends: Martha Argerich, sonst nicht gerade als Vorkämpferin für Gegenwartsmusik bekannt, wird ein neues Klavierkonzert uraufführen. Es heisst Akiko’s Piano, der Komponist ist Dai Fujikura. Er ist in der Schweiz kein Unbekannter; 2004 lud ihn Pierre Boulez zur ersten Festival Academy nach Luzern ein und dirigierte ein Jahr später sein Orchesterstück Stream State.
Das Klavierkonzert endet mit einer Kadenz, die sich am Schluss im dreifachen Piano verflüchtigt. Martha Argerich wird dazu vom Flügel auf Akikos Klavier wechseln. Akiko war ein neunzehnjähriges Mädchen aus Hiroshima, das am Tag nach der Explosion an der atomaren Strahlung starb. Ihr Klavier, ein hochwertiges Instrument des amerikanischen Herstellers Baldwin, hat die Apokalypse überlebt, wurde restauriert und wird nun in diesem Konzert erstmals öffentlich erklingen, zunächst in Hiroshima, dann auch in Europa; auch mit Luzern steht man dem Vernehmen nach in Kontakt.
Die Bilder der Toten, die zerfetzten Kleider und die zu Klumpen geschmolzenen Alltagsgegenstände im Friedensmuseum von Hiroshima sind stumme Zeugen des Untergangs der Stadt. Vom Schrecken, aber auch wie man ihn überwindet, erzählt Akikos Klavier in Tönen.
Der Frieden- und Gedächtnispark von Hiroshima. Foto: Max Nyffeler
Unterstützung für Afro-Pfingsten
Der Winterthurer Stadtrat beantragt mit dem Afro-Pfingsten-Festival einen Subventionsvertrag abzuschliessen: Die Stadt beteiligt sich mit 50’000 Franken am Festival. Den Veranstaltern sollen zudem 35’000 Franken Gebühren erlassen werden.
Musikzeitung-Redaktion
- 30. Aug. 2019
Ausschnitt aus der Programmzeitung «Afro-Pfingsten 2019»
Mit dem mehrjährigen Subventionsbeitrag werde eine höhere Planungssicherheit möglich und eine Gleichbehandlung mit anderen grossen Veranstaltungen gewährleistet, schreibt die Stadt Winterthur.
Nach «organisatorisch bewegten Jahren» sei der Verein einewelt.ch seit 2016 für die Durchführung des Festivals verantwortlich. Unter seiner Ägide habe sich der Anlass in den letzten zwei Jahren konsolidiert. Mit Ausnahme von 2016 unterstützte die Stadt Winterthur die Veranstaltung Afro-Pfingsten in den vergangenen Jahren projektbezogen. Mit dem Subventionsvertrag will die Stadt dem Wunsch der Organisatoren nach mehr Planungssicherheit nachkommen.
Der Subventionsvertrag ist befristet bis Dezember 2022. Er kann vom Stadtrat um zwei weitere Jahre verlängert werden.
Pereira geht nach Florenz
Alexander Pereira, der die Geschicke des Zürcher Opernhauses als Intendant jahrelang nachhaltig geprägt hatte, übernimmt nach der Leitung des Mailänder Scala die Leitung des Opernhauses von Florenz.
Musikzeitung-Redaktion
- 29. Aug. 2019
Opera di Firenze, Sitz des Opernfestivals Maggio Musicale Fiorentino. Nachweis s. unten
Laut internationalen Medienberichten fehlt zur Ernennung nur noch die formale Zusage des Aufsichtsrats der Oper. Sie soll bei einem Treffen am 6. September erfolgen. Im Juni war bekannt geworden, dass Pereiras Vertrag in Mailand nicht verlängert wird. Auf ihn folgt in Mailand der jetzige Wiener Operndirektor Dominique Meyer.
In Florenz übernimmt Pereira ein Haus in der Krise. Der bisherige Intendant Cristiano Chiarot trat im Juli aus Protest gegen den neuen Maggio-Musicale-Präsidenten Salvatori Nastasi zurück, und der Generalmusikdirektor des Zürcher Opernhauses Fabio Luisi, der in Florenz auch als Musikdirektor amtete, hat dieses Amt aus Unmut mittlerweile auch abgegeben.
Im Kleinflugzeug, das am vergangenen Sonntag in der Nähe des Simplon-Hospizes abgestürzt ist, fand eine britische Musikerfamilie den Tod.
Musikzeitung-Redaktion
- 28. Aug. 2019
Umgebung des Simplon-Hospizes. Nachweis s. unten
Bei den Toten handelt es sich laut einer Mitteilung von internationalen Medienberichten um die Saxophonistin Hannah Marcinowicz, den Komponisten Jonathan Goldstein und ihre siebenmonatige Tochter.
Die Ursache für den Absturz ist noch nicht bekannt. Die beiden flogen offenbar von London nach Troyes und Lausanne, mit Reiseziel Italien.
Goldstein leitete eine Firma für Werbejingles und schrieb Musik für Theater und Film. Hannah Marcinowicz trat 2005 bei den BBC Proms als Solistin auf und arbeitete mit Orchestern wie dem London Symphony Orchestra und dem Royal Philharmonic Orchestra.
Moderne Popsongs beruhen auf musikalischen Prinzipien westafrikanischer Trommelrhythmen: Eine Ausstellung im Völkerkundemuseum der Universität Zürich zeigt, wie Trommler aus Ghana und Nigeria ihre Instrumente zum Sprechen bringen und sich damit weltweit Gehör verschaffen.
«Mit Trommeln sprechen», der Titel der Ausstellung, ist wörtlich zu verstehen: Trommler in Westafrika imitieren mit ihren Instrumenten Rhythmus und Melodie gesprochener Sprache. Etwa jene der Yorùbá in Südwestnigeria oder jene der Ashanti in Ghana – tonale Sprachen, bei denen die Tonhöhe einer Silbe die Wortbedeutung bestimmt.
An politischen und religiösen Anlässen begrüssen die Perkussionisten mit ihren sprechenden Trommeln Ehrengäste und zitieren deren Biografien; Sie geben Gebete oder Sprichwörter wieder; Sie erzählen von vergangenen Ereignissen, nehmen politisch Stellung und vermitteln so zwischen Aktualität und Geschichte.
Schon während der Kolonialzeit und zur Zeit des transatlantischen Sklavenhandels haben Trommler ihre Stimme erhoben und ihre Musik mit Einflüssen anderer musikalischer Kulturen kombiniert. So sind letztlich Stilrichtungen wie Jazz, Soul, Reggae oder Hiphop entstanden.
Die Regierungen von Basel-Stadt und Basel-Landschaft haben den neuen Kulturvertrag und die Parlamentsvorlagen für die Kulturpartnerschaft ab 2022 an den Grossen Rat und an den Landrat überwiesen. Er regelt die Abgeltung des Kantons Basel-Landschaft an den Kanton Basel-Stadt für kulturelle Zentrumsleistungen.
Musikzeitung-Redaktion
- 26. Aug. 2019
Foto: Odin Aerni / Unsplash (s. unten)
Wie im bisherigen Kulturvertrag sind die Mittel aus dem Kanton Basel-Landschaft zweckgebunden für kulturelle Zentrumsleistungen im Bereich des professionellen zeitgenössischen Kulturschaffens. Der Kanton Basel-Landschaft entrichtet die Abgeltung künftig an den Kanton Basel-Stadt und nicht mehr an einzelne Institutionen. Die Verteilung der Mittel an die Institutionen erfolgt durch den Kanton Basel-Stadt aufgrund von Kriterien, die vertraglich festgelegt werden.
Die Finanzierung der bikantonalen Fachausschüsse BS/BL wird ab 2022 vollständig paritätisch ausgestaltet. Der Kanton Basel-Landschaft erhöht dazu seine Beiträge an die gemeinsamen Fachausschüsse Literatur, Tanz und Theater sowie Musik. Ein neu eingerichteter regionaler Fachkredit Strukturentwicklung BS/BL wird die punktuelle Unterstützung von Institutionen, Vereinen und Festivals aus beiden Kantonen für Struktur- und Organisationsentwicklungen ermöglichen.
Die Deutsche Orchestervereinigung (DOV) konstatiert ein grösseres Besucherpotenzial und eine steigende Nachfrage nach klassischer Musik, als bislang angenommen.
Musikzeitung-Redaktion
- 22. Aug. 2019
Foto: Jonathan Poncelet/Unsplash (s.unten)
Allein zum Open-Air-Konzert der Berliner Philharmoniker am Brandenburger Tor unter dem neuen Chefdirigenten Kirill Petrenko werden laut Gerald Mertens, Geschäftsführer der DOV, am 24. August über 30’000 Menschen erwartet.
Laut DOV besuchten 45’000 Personen die Oper für alle mit der Deutschen Staatsoper und der Staatskapelle Berlin auf dem Bebelplatz im Juni 2019, 75’000 Besucher waren im Nürnberger Luitpoldhain, weitere 50’000 bei den Nürnberger Symphonikern im Sommer 2019, fast 70’000 Menschen bei Klassik airleben mit dem Gewandhausorchester Leipzig. 20’000 Besucher werden beim heutigen hr-Sinfonieorchester Open Air in Frankfurt/Main erwartet.
Diese mehreren hunderttausend Musikliebhaber tauchten jedoch, so der DOV weiter, bislang in keiner offiziellen Besucherstatistik auf, denn der Eintritt zu vielen grossen Klassik-Open-Air-Veranstaltungen ist frei. Auch die Besucher kleinerer professioneller Klassikfestivals oder Open-Air-Konzerte, der Konzerte von Musikhochschulen, vieler Kammermusikveranstaltungen, der Konzerte in Kirchen oder in Universitäten würden statistisch grundsätzlich nicht erfasst, erklärt Mertens. Die verfügbaren Open-Air-Besucherzahlen dieses Sommers belegten aber auf jeden Fall ein grosses Besucherpotenzial für Klassik – auch jenseits der Sommersaison.
Das Gstaad Menuhin Festival gilt als das zweitgrösste Musikfestival der Schweiz. Schon am Eröffnungswochenende musizierten Berühmtheiten in verschiedenen Formationen.
Georg Rudiger
- 21. Aug. 2019
Konzert am 21. Juli: Sol Gabetta mit Pierre Bleuse und dem Kammerorchester Basel. Foto: Raphael Faux
Die Kirche in Saanen ist bis auf den letzten Platz besetzt. Auch im mit Fresken bemalten Chorraum, wo ein brauner Bösendorfer-Flügel steht, sitzen Zuhörer. Kaum spielt András Schiff die ersten Töne von Johann Sebastian Bachs Zyklus Das wohltemperierte Klavier, Band 1, wird aus dem Konzertpublikum eine andächtige Gemeinde. Viele der 750 Konzertbesucher haben die Augen geschlossen, um der subtilen Interpretationskunst des ungarischen Pianisten zu lauschen. András Schiff ist niemand, der das Rad neu erfindet. Er mag Nuancen mehr als Kontraste, entwickelt das eine aus dem anderen und achtet bei der Musik Bachs auf den natürlichen Fluss. Die Bässe im D-Dur-Präludium deutet er nur an, das Es-Dur Präludium spielt er so frei wie eine Fantasie. Die Fugen werden nicht buchstabiert, sondern immer in grösseren Zusammenhängen erzählt. Auch im Kontrapunkt entdeckt Schiff die Melodie und hält bei dieser langen Wanderung durch die Tonarten die Spannung bis zum umjubelten Ende.
Die meisten Konzerte des sieben Wochen dauernden Gstaad Menuhin Festivals finden in den Kirchen des Saanenlandes statt und ermöglichen eine besondere Nähe zwischen den Interpreten und dem Publikum. Seit Christoph Müller 2002 das von Yehudi Menuhin gegründete Festival übernommen hat, haben sich die Zuschauerzahlen verdreifacht. Dieses Jahr sind mit der Kirche und der Mehrzweckhalle an der Lenk im Simmental zwei neue Säle zu den nun insgesamt elf Konzertorten dazugekommen. Aber der umtriebige Intendant hat auch verschiedene Akademien gegründet, die junge Musikerinnen und Musiker in den Bereichen Gesang, Klavier, Streicher, barocke Aufführungspraxis und Dirigieren weiterbilden. Das Nebeneinander von Nachwuchskünstlern und Stars, von intimen Kammerkonzerten und grossen sinfonischen Auftritten im 1800 Zuhörer fassenden Festivalzelt Gstaad macht den Reiz dieses Festivals aus, laut Intendant des zweitgrössten in der Schweiz, das circa 60 Konzerte veranstaltet und 2019 über einen Etat von 6.7 Millionen Franken verfügt.
Die Kapelle in Gstaad ist mit nur 120 Plätzen ein besonders kleinräumiger Konzertort. Wie in der Kirche Saanen ist auch hier die Akustik transparent und hat kaum Nachhall, so dass man jedes musikalische Detail verfolgen kann. Die harten Kirchenbänke verlangen dem Publikum bei diesem einstündigen Morgenkonzert ein wenig Askese ab – aber die wird belohnt. Franz Schuberts Sonate (Duo) in A-Dur op. 162 gestalten Dmitry Smirnov und Denis Linnik mit schlichter Tongebung und kammermusikalischer Dichte. Béla Bartóks rhythmisch vertrackten ersten Rhapsodie verleihen die beiden perfekt aufeinander eingespielten jungen Musiker die notwendige Farbigkeit. Nur in Robert Schumanns erster Violinsonate wünscht man sich von Dmitry Smirnov einen weniger gepressten Ton; dem Pianissimobeginn des zweiten Satzes fehlt das Geheimnisvolle. Aber wie schwerelos der Geiger an der Bogenspitze die Sechzehntel zu Beginn des Finales realisiert und Denis Linnik am Klavier ihm dabei wie ein Schatten folgt, begeistert zu Recht das Publikum.
Festivalmotto Paris
Im Samstagabendkonzert des Eröffnungswochenendes spiegelt sich das diesjährige Festivalmotto in Programm und Besetzung. Hervé Niquet ist mit seinem Pariser Originalklangensemble Le Concert Spirituel nach Saanen gekommen, um Musik des Barockkomponisten Marc-Antoine Charpentier vorzustellen. Mit den festlichen Klängen der Ouvertüre zu Le Malade imaginaire beginnt Niquet den gut besuchten Abend, bevor er auf Französisch eine kleine Einführung in die Zeit des Sonnenkönigs gibt. Im deutschsprachigen Raum kennt man von Charpentier nur die dem Te Deum entnommene Eurovisionshymne. Wenn Chor und Orchester wie bei der Motette In Honorem Sancti Ludovici regis Galliae Canticum im Fortissimo schmettern, dann kommt die für Kammermusik bestens geeignete Akustik in der Kirche Saanen jedoch an Grenzen. Das Blech knallt, die Pauken dröhnen. Aber abgesehen von den zu scharfen Klangspitzen entfaltet diese überwiegend homofone Musik grossen Reiz, auch wenn sie kaum Dramatisches in sich trägt. Die vielen klangfarblichen Kontraste in den Motetten und der Wechsel zwischen dem gut ausbalancierten Chor und den schlanken Vokalsoli gelingen differenziert. Das abschliessende, ganz tänzerisch genommene Te Deum zeigt die sinnliche Prachtentfaltung am französischen Hof.
Auch Sol Gabetta hat am Folgeabend mit dem zweiten Cellokonzert von Camille Saint-Saëns ein selten aufgeführtes Werk eines französischen Komponisten dabei. Bereits seit 2003 ist die Argentinierin regelmässiger Gast in Gstaad. Ihr heller, flexibler Celloton passt gut zum lichten Solokonzert. Das Kammerorchester Basel begleitet unter der Leitung von Pierre Bleuse hinhörend und aufmerksam. Bruno Soeiros viersätzige Komposition Sillages, Sons de Parfums mangelt es leider an musikalischer Substanz. Es liegt aber auch an der fehlenden Raffinesse der Interpretation, dass bei dieser Uraufführung die musikalischen Duftwolken nicht verführen. Bei Georges Bizets Sinfonie C-Dur dagegen bewegt sich das Kammerorchester Basel auf vertrautem Terrain. Der warme Streicherklang verzaubert, die beweglichen Holzbläser haben Grazie. Und aus dem an Mendelssohn erinnernden, virtuosen Finale macht das Orchester eine echte Charmeoffensive.