Auch in der Schweiz reagieren Musikveranstalter auf das brutale Vorgehen der russischen Regierung gegen die Ukraine. Drei Reaktionen von heute Montag, 28. Februar.
Musikzeitung-Redaktion
- 28. Feb. 2022
Foto: Elena Mozhvilo / unsplash.com
DieTonhalle-Gesellschaft Zürichveranstaltet ein Benefizkonzert für die kriegsversehrte ukrainische Bevölkerung. Alle Künstlerinnen und Künstler verzichten auf ihre Gagen. Die Billett-Einnahmen gehen an die Glückskette. Dirigiert wird das Konzert am 23. März mit Werken von John Adams und dem Mendelssohn-Violinkonzert e-Moll (Solist: Leonidas Kavakos) von Music Director Paavo Järvi. In seiner Mitteilung schreibt das Tonhalle-Orchester: «Wir verurteilen kategorisch das barbarische Vorgehen der russischen Regierung gegen die unabhängige Ukraine.» Alle müssten wir uns gegenseitig unterstützen. «Wir sind solidarisch mit der Ukraine.»
Das Verbier-Festival kündigt am 28. Februar «erste Änderungen an, um seine Bestürzung und Verurteilung des russischen Einmarschs in die Ukraine zu äussern.» Der Rücktritt von Valery Gergiev als Musikdirektor wurde «gefordert und umgesetzt». Spenden von sanktionierten Personen werden zurückbezahlt und öffentlich mit der russischen Regierung solidarische Künstlerinnen und Künstler nicht auftreten.
Das Lucerne Festival hat die Konzerte am 21. und 22. August mit dem Mariinsky Orchestra und Valery Gergiev abgesagt. Intendant Michael Haefliger kommentiert am 28. Februar: «Angesichts der völkerrechtswidrigen Kriegshandlungen Russlands setzen wir ein klares Zeichen der Solidarität für die Menschen in der Ukraine. Wir sind zutiefst betroffen und verurteilen den Angriff auf die Ukraine und auf Unschuldige aufs Schärfste»
Die Sommets Musicaux de Gstaad haben den Prix Thierry Scherz der 25-jährigen dänischen Geigerin Anna Egholm zugesprochen. Der Preis wird von der Fondation Pro Scientia et Arte und den Amis des Sommets Musicaux de Gstaad ausgelobt. Der Prix André Hoffmann ging an die 25-jährige irische Geigerin Mairéad Hickey.
Musikzeitung-Redaktion
- 27. Feb. 2022
Anna Egholm. Foto: Anastasia Kobekina,Foto: Santiago Canon Valencia
Der Prix Thierry Scherz wurde ausgelobt für die beste Interpretation in der Reihe der jungen Talente. In diesem Jahr entschied sich die Jury für die Vergabe an die junge Geigerin und Absolventin Anna Egholm der Musikhochschule Lausanne. Die junge Musikerin hatte mit ihrer Interpretation von Werken von Beethoven, Brahms und Ravel überzeugen können.
Der Prix André Hoffmann will die zeitgenössische Musik näherbringen. Jedes Jahr schreibt ein Komponist ein spezielles Werk für die Festspiele und es wird in der Folge von den jungen Musikern des Festivals aufgeführt. Die Fondation André Hoffmann finanziert eine Komposition. Dieses Jahr hat der Composer-in-Residence Wolfgang Rihm das Werk Episode geschaffen. Mairéad Hickey erhielt den mit 5000 Franken dotierten Preis für die beste Interpretation dieses zeitgenössischen Werks.
Foto: Santiago Canon Valencia
Mairéad Hickey
Vojin Kocic unterrichtet in Zürich
Vojin Kocic wird ab Herbstsemester 2022 an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) als Hauptfachdozent Gitarre tätig. Er tritt dem Gitarrenkollegium mit Heiko Freund (Pop), Theodoros Kapilidis (Jazz) und Anders Miolin (Klassik) bei.
PM/SMZ
- 25. Feb. 2022
Vojin Kocic. Foto: Andrey Grilc
Wie dieZHdK mitteilt, studierte Vojin Kocic bei Darko Karajic und Srdjan Tosic in Belgrad sowie bei Oscar Ghiglia in Siena. An der dortigen Accademia Chigiana wurde ihm als bislang Einzigem das «Diploma d’Onore» verliehen. An der ZHdK absolvierte er bei Anders Miolin die Master Specialized Music Performance sowie Music Pedagogy.
Er ist mehrfacher Preisträger renommierter internationaler Wettbewerbe und gibt europaweit Konzerte, solo sowie als Solist in namhaften Orchestern.
Ab sofort können Studierende am Musikwissenschaftlichen Seminar Detmold/Paderborn den neuen Schwerpunkt Musiktheaterwissenschaft im Bachelorstudiengang Musikwissenschaft wählen.
Musikzeitung-Redaktion
- 25. Feb. 2022
Symbolbild. Foto: Kenny Filiaert/unsplash.com (s. unten),SMPV
Von aktueller Performance- und Medienkunst über Oper, Tanztheater und Musical bis hin zu Musikvideo und Filmmusik – in sechs Semestern erwerben die Studierenden nicht nur grundlegendes Wissen über die Musikgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, sondern auch breite Fachkenntnisse und umfassende Methodenkompetenzen im Umgang mit Musik und Theater.
Dabei erleben sie ausserdem die Praxis hautnah: Durch die Kooperation mit der Opernschule der HfM und dem Landestheater Detmold werfen die Studierenden einen unmittelbaren Blick hinter die Kulissen und begleiten Produktionen sowohl wissenschaftlich als auch dramaturgisch.
Interessierte können sich noch bis 21. März für den Studiengang mit Start im Sommersemester 2022 bewerben.
Christof Escher hat acht bisher unveröffentlichte Orchesterwerke von Paul Juon, dem «schweizerischen Tschaikowsky», erstmals ediert.
Walter Labhart
- 24. Feb. 2022
Undatiertes Porträt von Paul Juon. Bild: Internationale Juon-Gesellschaft
Zu den interessantesten Wiederentdeckungen und Neubewertungen von schweizerischen Romantikern zählt seit den 1980er-Jahren nebst Johann Carl Eschmann, Theodor Fröhlich, Hans Huber und Joachim Raff auch Paul Juon (1872–1940). Der Altersgenosse von Alexander Skrjabin und Enkel eines aus Graubünden nach Russland ausgewanderten Zuckerbäckers nimmt nicht nur seiner Biografie wegen eine Sonderstellung ein.
In Moskau geboren und dort am Konservatorium von Jan Hřímalý (Violine), Anton Arensky und Sergei Tanejew (Komposition) unterrichtet, verbrachte Juon den grössten Teil seines Lebens in Russland und in Deutschland, bevor er 1934 an den Genfersee übersiedelte. Sein Kompositionsstudium hatte er bei Woldemar Bargiel an der Hochschule für Musik in Berlin fortgesetzt, wo er selber Komponisten wie Philipp Jarnach, Heinrich Kaminski, Nikos Skalkottas, Pantscho Wladigerow oder Stefan Wolpe ausbildete. 1896 wurde er mit dem Mendelssohn-Preis ausgezeichnet, 1919 Mitglied der Preussischen Akademie der Künste und 1929 Beethoven-Preisträger. Einen Namen schuf er sich auch mit musiktheoretischen Handbüchern und als Übersetzer.
Obschon er sich von Tschaikowsky stärker als von Brahms beeinflussen liess, ging er zusammen mit Alexander Glasunow, Nikolai Medtner und Sergei Tanejew als «russischer Brahms» in die Musikgeschichte ein. Die Bezeichnung «schweizerischer Tschaikowsky» wäre passender gewesen.
Sein ausserdem nordisch geprägtes Schaffen – Juon revidierte mehrere Werke von Jean Sibelius — setzt mit Musik im Stil der spätrussischen Nationalromantik ein und leitet mit harmonischen und rhythmischen Experimenten sowie mit metrischen Reihen in die Moderne hinüber. Jene weisen, erstmals 1903 angewandt, auf die um 1950 von Boris Blacher entwickelten «variablen Metren» voraus. Nach dem Prinzip von Liszts Klaviersonate h-Moll schuf Juon einsätzige Kompositionen, die aus mehreren satzartigen Teilen bestehen.
Unter den 99 Kompositionen mit Opuszahlen ragen zwei Sinfonien, drei Violinkonzerte, fünf Klaviertrios, vier Streichquartette, mehrere Sonaten und viel Klaviermusik hervor.
Die auf Anregung des Bündner Juon-Biografen Thomas Badrutt 1998 in Zürich gegründete Internationale Juon-Gesellschaft IJG hat vor zehn Jahren eine Orchester-Edition begonnen. Zum 150. Geburtstag des Komponisten am 8. März schliesst sie nun die Aufbereitung aller acht unveröffentlichten Orchesterwerke ab. Darunter befindet sich mit der 1. Sinfonie fis-Moll op. 10 (1895) ein Hauptwerk, das sich durch typisch russische Färbung auszeichnet. Der Schweizer Dirigent Christof Escher hat es zusammen mit der 2. Sinfonie, der Fantasie Vaegtervise und der Suite op. 93 in Lugano und Moskau aufgenommen und als CD-Ersteinspielung bei Sterling herausgebracht (Sterling 1103-2: Fantasie, Sinfonie Nr. 2; Sterling 1104-2: Suite, Sinfonie Nr. 1).
An der von Escher geleiteten Edition wirkte der Schulmusiker Ueli Falett, seit 2012 Präsident der IJG, leidenschaftlicher Bratschist und Leiter von Orchesterwochen, in enger Zusammenarbeit mit. Die mühsame Arbeit des Spartierens auf der Basis von Orchesterstimmen und die Herstellung von Aufführungsmaterialien anhand autografer Partituren rundete Escher mit selber verfassten Vorworten ab.
Nebst kleineren Stücken liegen jetzt die folgenden Werke in Partitur und Stimmen vor: Ballettsuite aus dem Tanzpoem «Psyche» op. 32a, Symphonische Skizzen «Aus einem Tagebuch» op. 35, Tanz-Capricen op. 96, Thema mit Variationen o. op., Drei sinfonische Skizzen o. op. Sie alle befinden sich in der Bibliothèque cantonale et universitaire Lausanne (BCU), wobei nur die Partituren frei aufgerufen und heruntergeladen werden können: https://patrinum.ch/search?cc=AM-Fonds+Paul+Juon&ln=fr&c=AM-Fonds+Paul+Juon
Die Stimmen sind bis Ende 2022 zu bestellen über: ufalett@juon.org
Tinner folgt beim SMR auf Rindlisbacher
Ab März 2022 übernimmt Sandra Tinner die Geschäftsleitung des SMR von Nina Rindlisbacher, die bei Sonart – Musikschaffende Schweiz tätig wird.
Musikzeitung-Redaktion
- 24. Feb. 2022
Sandra Tinner bei der «Night of Light». Foto: zVg
Sandra Tinner ist in La Chaux-de-Fonds geboren und wuchs mehrheitlich in der Deutschschweiz auf. Sie ist ausgebildete Romanistin und hat an der Universität Zürich in Neurolinguistik über zweisprachige Gehirne doktoriert. Sie arbeitete viele Jahre lang an Hochschulen, hauptsächlich in der Ausbildung für zukünftige Französischlehrpersonen. Die Amateurmusik begleitet sie seit Kindsbeinen.
Durch Zufall kam sie auf ein eher selten gespieltes Instrument, die Mandoline. Sie probt wöchentlich mit der Mandoline oder der Mandola in Zupforchestern, ist Mitbegründerin des schweizerischen Zupforchesters zupf.helvetica und pflegt nebenbei auch noch ihre Leidenschaft für alte Musik mit ihrer Barockmandoline. Seit 2020 präsidiert sie den Zupfmusik-Verband Schweiz. Mehrsprachige Vernetzung in der Schweiz und über die Landesgrenzen hinaus liegt ihr sehr am Herzen.
Diagrammatik der chromatischen Skalen
In ihrem digitalen «Lexikon der Stimmungen» haben Hans Eugen Frischknecht und Jakob Schmid über 300 historische Stimmungen grafisch dargestellt und hörbar gemacht. Daniel Muzzulini hat ihre Art der Visualisierung genauer betrachtet und erörtert davon ausgehend weitere Möglichkeiten.
Daniel Muzzulini
- 23. Feb. 2022
René Descartes, Compendium Musicae, Amsterdam 1683. Bild: Medienarchiv ZHdK
Darumb sollte man billich mehr Clavier haben / also / dass man zwey d hette / die nur ein Comma von einander weren; Aber weil solches auch in andern Clavibus geschicht / würden der Clavier, sonderlich wenn die geduppelte Semitonia auch noch dazu kemen / gar zu viel werden; Darumb muss man die temperatur brauchen […] Praetorius 1620, S. 157
Die Visualisierungen im digitalen Lexikon der Stimmungen von Hans Eugen Frischknecht und Jakob Schmid lassen die «Dur-Dreiklangtauglichkeit» von Skalen mit 12 Tönen pro Oktave auf einen Blick hervortreten, und machen sie gleichzeitig auch hörbar. Diese besondere Darstellung soll im Folgenden anhand von drei ausgewählten Beispielen erörtert und mit anderen Arten der Veranschaulichung musikalischer Skalen verglichen werden. Daran schliessen sich ein paar eher unsystematische Überlegungen zur Weiterentwicklung von interaktiven Anwendungen zu Tonsystemen und Stimmungen an.
Die Diagramme werden im Lexikon aus den Cent-Abweichungen zur gleichstufigen chromatischen Skala in 12 Halbtöne (12-EDO = Equal Division of the Octave) berechnet, welche in diesem Aufsatz die gleichstufige (chromatische) Skala genannt wird. Über Cent-Angaben können verschiedene Stimmungen miteinander verglichen werden. Die Cent-Skala für Tonhöhen und Intervalle beruht auf der Teilung der Oktave in 1200 gleich grosse Mikrointervalle. Die Halbtöne der gleichstufigen chromatischen Skala messen deshalb 100, die grossen Terzen 400 und die Quinten 700 Cent. Der Durdreiklang in Grundstellung und engster Lage hat demnach die Cent-Werte [0 | 400 |700], wenn man dem Grundton den Wert 0 gibt – allgemein [x | x + 400 | x + 700], wenn x der Cent-Wert des Akkordgrundtons bezüglich des Referenztons c (oder a) ist. Der reingestimmte Durdreiklang hingegen hat (auf das nächste Cent gerundet) die Werte [0 | 386 | 702] und steht in der Frequenzproportion 4 : 5 : 6. Akkorde aus Tönen mit einfachen Grundfrequenzproportionen werden als weitgehend fluktuationsfrei und konsonant empfunden, wenn die beteiligten Töne je ein harmonisches Obertonspektrum haben. Die Zahlen zeigen, dass die Abweichungen der gleichstufigen von den reinen Werten bei der Quinte nur 2 und bei der grossen Terz aber 14 Cent-Einheiten betragen. Die unterschiedliche Wirkung der beiden Dreiklänge liegt hauptsächlich an den verschieden grossen Terzen und an der Klangfarbe.
Wie sind die Diagramme des Lexikons zu verstehen?
Lassen sich die Bauprinzipien einer Skala aus dem visualisierten Zahlenmaterial rekonstruieren? Das ist nicht selbstverständlich. Solange primär Durdreiklänge und ihre enharmonischen Äquivalente in Skalen mit zwölf Tönen pro Oktave im Fokus stehen, ist die Darstellung zwar universell einsetzbar, gleichzeitig aber reduziert sie Tonhöhensysteme, die zwei und höherdimensional gedacht sind, in eine einzige Dimension.
Leonhard Euler hat eine chromatische Skala, die einem zweidimensionalen Tonhöhennetz entstammt, vorgeschlagen (Euler 1739, S. 147, 279). Ihre Wiedergabe im Lexikon der Stimmungen ist in Abbildung 1 oben zu sehen. Die Grundtonsymbole, die zwölf kleinen rote Kreise, bilden drei Vierersequenzen, die je auf leicht geneigten parallelen Geradenabschnitten liegen (wenn die beiden C an den Enden der Grafik gedanklich zusammengelegt werden):
f-c-g-d / a-e-h-fis / cis-gis-es-b
Die charakteristische positive Steigung (je 2 Cent pro Quinte) der Geradenabschnitte zeigt an, dass die betreffenden Quinten rein gestimmt sind. Die Skala zerfällt in drei Gruppen zu vier Tönen mit je drei reinen Quintschritten. Diese sind in der obersten Grafik von Abbildung 1 zur Verdeutlichung rot eingerahmt. Die vertikalen Positionen der Grundtonsymbole bestimmen die Intervallstruktur einer Skala vollständig (dies gilt für alle Skalen). Auch die grossen Terzen oder die Quinten bestimmen die Skala vollständig. Die Terz- und Quintsymbole bilden deshalb bei Euler ebenfalls Vierergruppen auf leicht geneigten Geradenabschnitten. Diese redundante Darstellung, der in den 12 Halbton- bzw. Quintschritten enthaltenen Information lässt die Durdreiklänge als Punktekonfigurationen in der Vertikalen hervortreten. Und dank dieser Redundanz erschliessen sich die harmonischen Bauprinzipien einer Skala.
Abb. 1: Bezüglich Durdreiklangreinheit hat das Universum der 12-tönigen Skalen des Lexikons der Stimmungen die beiden Pole Leonhard Euler (oben) und die gleichstufige Skala (Mitte). Die annähernd mitteltönige Stimmung von Michael Praetorius (unten) bewegt sich im Mittelfeld und reduziert Eulers Bevorzugung der Grossterzverwandtschaft zugunsten quintverwandter Durskalen zwischen B-Dur und A-Dur mit acht nahezu harmonischen Durdreiklängen.
Eulers Skala enthält die maximal mögliche Anzahl von sechs idealen Durdreiklängen. Weil bei F, C, G sowie A, E und H alle drei Tonsymbole zusammenfallen, liegt reine Intonation [x | x + 386 | x + 702] vor. Aufgrund ihrer Intervallstruktur ist es in dieser Skala möglich, in den terzverwandten Tonarten C-Dur und A-Dur mit ausnahmslos idealen Durdreiklängen zu musizieren, und die beiden terzverwandten Skalen liegen eine reine grosse Terz im Frequenzverhältnis 5/4 auseinander. Die anderen zehn «Durtonarten» haben alle mehr oder weniger stark modifizierte Dreiklänge. Im hervorgehobenen B-Dur-Dreiklang, beispielsweise, entspricht keines der drei konstituierenden Intervalle der Norm der reinen Stimmung, da alle drei Symbole verschiedene vertikale Positionen einnehmen. Quintverwandte Dreiklänge stehen in den Grafiken jeweils direkt nebeneinander. In Eulers Skala heben sich die Tonarten Es-Dur und As/Gis-Dur in ihrer Intervallstruktur am stärksten von C-Dur und A-Dur ab, denn keiner der gezeichneten Dreiklänge hat die ideale Punktform (die Dreiklänge dieser beiden Skalen sind in der Zeichnung violett umrahmt). Die Fokussierung des Blicks auf jeweils drei benachbarte Akkorde zeigt auch, dass G-Dur und H-Dur (mit blauen Ellipsen hervorgehoben) bei Euler die gleiche Intervallstruktur haben, weil die zugehörigen Symbolmuster deckungsgleich sind. In diesen beiden Tonarten sind die Quinten der Dominantdreiklänge verkleinert, aber ihre grossen Terzen sind rein. Die Subdominate und die Tonika haben die Idealform.
Leichter zu deuten ist die in der Mitte von Abbildung 1 dargestellte Skala. Hier haben alle zwölf Dreiklänge die gleichen Abweichungen von der reinen Intonation, und die drei Linien von Symbolen verlaufen horizontal. Es handelt sich um die gleichstufige Stimmung, die Quintsymbole liegen knapp 2 Cent unter den Grundtonsymbolen (700-702=-2) und die grossen Terzen 14 Cent darüber (400-386=+14). Die Quinten sind also nur wenig kleiner als rein, die grossen Terzen aber merklich weiter als ihre reingestimmte Entsprechung. Ein allfälliger Bedeutungsunterschied der Töne b und ais kann in dieser Konstellation nicht akustisch zum Ausdruck gebracht werden. Während enharmonische Umdeutungen in der gleichstufigen Stimmung kein Intonationsproblem darstellen, beinhaltet die Auswahl von zwölf Tönen in einer reinen syntonischen (das heisst quint-/terzbasierten) Stimmung wie derjenigen von Euler immer auch Entscheidungen über bevorzugte enharmonische Varianten. Der etwas irritierende B-Dur-Dreiklang in Eulers Skala entpuppt sich bei genauerem Hinsehen nämlich als ais-d-f mit einer verminderter Quarte ais-d und einer pythagoreischen Terz d-f, wie die Darstellung von Eulers Skala im Quint-Terzgitter von Abbildung 2 zeigt. In dieser Darstellung werden reine Quinten in der horizontalen und reine grosse Terzen in der vertikalen Richtung angeordnet, sodass den idealen Dur- und Molldreiklängen kleine rechtwinklige Dreiecke entsprechen, der ungewöhnliche «B-Durdreiklang» hingegen besteht aus Eckpunkten des Rechteckgitters und ist ganz anders aus Terzen und Quinten aufgebaut.
Abb. 2: Gitterdarstellung der chromatischen Skala gemäss Leonhard Euler (links) und Marin Mersenne (rechts) Hervorgehoben sind die idealen Dur- und Molldreiklänge von C-Dur sowie der Akkord ais-d-f bzw. b-d-f, der bei Mersenne aus einer pythagoreischen grossen Terz und einer reinen Quinte besteht.
Gitterdarstellungen sind bereits im 17. und im 18. Jahrhundert verwendet worden (Muzzulini 2020, 225). Sie eignen sich nicht direkt für temperierte Stimmungen. Dafür können damit auch syntonische Skalen mit mehr als 12 Tönen pro Oktave dargestellt werden. Ab dem 14. Jahrhundert sind verschiedentlich Skalen mit 17 und mehr Tönen pro Oktave vorgeschlagen worden. In Skalen mit 17 Tönen werden die fünf Notenpaare cis-des, dis-es, fis-ges, gis-as und ais-b typischerweise mit zwei verschiedenen Tonhöhen umgesetzt (vgl. die Beiträge von Martin Kirnbauer, Rudolph Rasch, Denzil Wright und Patrizio Barbieri im Jahrbuch f. Musikwissenschaft 2002). Gitterdarstellungen – auch nicht rechtwinklige – sind in der zeitgenössischen theoretischen Literatur über Stimmungen weit verbreitet, und mit Zusatzinformationen können damit auch mitteltönige und andere Stimmungen veranschaulicht werden (Lindley, 1987, Jahrbuch f. Musikwissenschaft, 2002; Lindley, 1993, S. 28).
Anders als in Eulers Lösung ist es in der Skala von Michael Praetorius (Abb. 1 unten) möglich, in den Tonarten zwischen B-Dur und A-Dur mit Dreiklängen, die alle näher an der Idealform als ihre gleichstufigen Entsprechungen sind, zu musizieren – auf Kosten der restlichen vier Dreiklänge. Modulationen zwischen Durskalen, die im Quintenzirkel C-Dur und G-Dur nahe stehen, führen also nicht zu nennenswerten Intonationsunterschieden. Dafür sind alle Quintschritte mit Ausnahme von gis-es kleiner als rein – und merklich kleiner als in der gleichstufigen Skala, denn die Grundtonsymbole bilden eine nach rechts abfallende Linie. Die sehr grosse verminderte Sexte gis-es, welche die kleinen anderen Quinten kompensiert, wird auch Wolfsquinte genannt. An der Cent-Skala am linken Bildrand sieht man, dass der «Wolf» von Praetorius etwa um ein Viertel eines Halbtons grösser als die Quinte der gleichstufigen Stimmung ist, da die rote Verbindungslinie zwischen gis und es um rund 25 Cent ansteigt.
Abb. 3. Kreisdiagramme aus dem 17. Jahrhundert. Links: Diatonische Skala mit syntonischem Komma («Schisma», 480 : 486 = 80 : 81). Die Zahlen stehen für (geeignet skalierte) Saitenlängen am Monochord. Die Oktave schliesst sich beim «Semitonium majus» (288 (576) | 540 (270)) im Verhältnis 16/15. Das recht ungenau gezeichnete Diagramm entstammt der ältesten erhaltenen Abschrift des heute verschollenen Originals von René Descartes‘ «Compendium musicæ», die etwa 1628 für Isaak Beeckman angefertigt wurde (Descartes (1619, fol. 171r). Rechts: Marin Mersennes Analyse einer chromatischen Skala in reiner Stimmung (Mersenne 1636, 132).
Da im Lexikon der Stimmungen nur oktavperiodische Skalen betrachtet werden, sind ihre Töne genau genommen Oktavklassen oder Tonigkeiten (engl. pitch classes). Dafür bieten sich auch kreisförmige Darstellungen der Töne an. Die von Frischknecht und Schmid verwendete Darstellung zeichnet den C-Dur-Dreiklang am linken und am rechten Ende der Grafik. Vorstellbar wäre auch die Darstellung auf einem Zylindermantel, der dadurch entstünde, dass die Grafik ausgeschnitten und der linke mit dem rechten Bildrand verklebt wird. Die Quintkette bildet darauf eine geschlossene Linie und die Nachbarschaft der drei Durdreiklänge in der C-Dur-Skala wird ersichtlich. Eine entsprechende Übertragung der gleichen Information auf ein Quintzirkel-«Zifferblatt», bei dem die Intonationsänderungen in radialer Richtung eingetragen sind, wäre eine faire, allerdings ebenfalls ungewohnte Darstellung. In kreisförmigen Anordnungen der chromatischen Skala sind die Intervalle häufig als Winkel dargestellt. Das syntonische Komma im Grundfrequenzverhältnis 81/80 misst knapp 22 Cent und müsste in Descartes‘ Kreisdiagramm von Abbildung 3 links einem Winkel von etwas weniger als 6° entsprechen. Im Unterschied zu den uneinheitlichen Winkeln in diesem Manuskript entsprechen die Winkel im lateinischen Erstdruck recht genau den Intervallgrössen, vgl. Muzzulini (2015, 197-199), Wardhaugh (2008). Das Kreisdiagramm von Mersenne in Abbildung 3 rechts ordnet die zwölf Noten der chromatischen Skala auf einem fast regelmässigen Zwölfeck an. Die Verbindungen der Noten sind mit den zugehörigen Frequenzverhältnissen beschriftet. Daraus lässt sich die Gitterdarstellung von Abbildung 2 rechts ableiten.
Alternative Darstellungsmöglichkeiten
In gewöhnlicher zweidimensionaler und interaktiver Bildschirmdarstellung könnte die angesprochene Asymmetrie auch dadurch ausgeglichen werden, dass die Anordnung der Akkorde per Knopfdruck zyklisch permutierbar gemacht wird. Durch solche Permutationen könnte im Direktvergleich von Diagrammen auch leicht festgestellt werden, ob verschiedene Skalen die gleiche innere Struktur haben, das heisst ob sie durch intervallgetreue Transpositionen auseinander hervorgehen, wenn sie auf der gleichen Webpage dargestellt würden. Eine von Isaak Newton betrachtete Skala beispielsweise geht aus derjenigen von Mersenne durch eine Transposition um eine reine Quinte hervor, dass entspricht einer zyklischen Permutation um eine Einheit. Diese Zusammenhänge sind in Gitterdarstellung direkt ablesbar. Denkt man sich etwa die chromatische Skala von Euler um eine reine grosse Terz nach unten transponiert, dann werden alle zwölf Punkte um eine Gittereinheit nach unten gerückt, sodass die neue unterste Zeile die Töne Des, As, Es und B enthält. An der geometrischen Anordnung der zwölf Punkte, welche die innere Struktur repräsentiert, hat sich nichts verändert. Die transponierte Form lässt C-Dur als Teil einer chromatischen Skala mit vier B und einem Kreuz erscheinen, und sie unterscheidet sich von der Lösung von Mersenne (Abbildung 2 rechts) nur in der Intonation einer einzigen Note. Bei Mersenne steht der B-Dur-Dreiklang in pythagoreischer Intonation, seine Quinte ist rein, die grosse Terz im Verhältnis 81/64 ergibt sich aus vier reinen Quinten (minus zwei Oktaven).
Mit geringem Programmieraufwand könnten aus dem reichhaltigen Zahlenmaterial des Lexikons Kennzahlen wie die gesamte mittlere quadratische Abweichung der konkreten von den reingestimmten Dreiklängen berechnet werden. Skalen, die durch Transpositionen auseinander hervorgehen, stimmen in der genannten Abweichung überein, und aus der Verschiedenheit der Kennzahlen kann mit Sicherheit auf die verschiedene Struktur der Skala geschlossen werden. Damit lassen sich auf halbautomatischem Weg Dubletten und äquivalente Skalen ermitteln. Die Kenntnis und Sichtbarmachung derartiger Beziehungen wäre für die Orientierung im doch sehr umfangreichen Zahlen- und Bildmaterial hilfreich. James M. Barbour gibt für sein umfangreiches Zahlenmaterial zu zwölfstufigen Skalen durchgängig die mittlere Abweichung und die Standardabweichung zur gleichstufigen Skala in Cent an (Barber 1951). Zweckmässiger wäre es, die Abweichungen der zwölf Durdreiklänge von der reinen Intonation in analoger Weise zu bewerten (vgl. Hall 1973), dann bedeuten kleine Werte Nähe zu den im Fokus des Lexikons der Stimmungen stehenden, ideal gestimmter Dreiklänge.
Im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Projekts Sound Colour Space der Zürcher Hochschule der Künste wurden auch interaktive audiovisuelle Tools zu syntonischen (d.h. quint- / terzbasierten Stimmungen) mit Gitter-, Kreis- und Spiralanordnungen erprobt und im Rahmen eines virtuellen Museums veröffentlicht, wie das Lexikon der Stimmungen mit synthetischen Klängen.
Erst in den letzten Jahren gerät Veranschaulichung von Musiktheorie und ihre Geschichte als eigenständiger Zweig der Diagrammatologie mit Bezügen zur musikalischen Ikonologie vermehrt ins Blickfeld der Philosophie, Ästhetik und Musikwissenschaft (Krämer 2016, 179–193). Dieses Essay versuchte auf Parallelen zwischen historischen Diagrammen zur Harmonik und zeitgenössischen Darstellungen, die im Umfeld der Digitalisierung und der Digital Humanities überhaupt erst möglich werden, hinzuweisen. An Diagrammen offenbart sich die Essenz von Theorien und Modellvorstellungen, und sie haben didaktisches Potential, das fast ohne Worte auszukommen scheint. Nicht immer im Laufe der Geschichte wurde der didaktische Wert von Visualisierung gleich bewertet. Während im 18. Jahrhundert didaktische Veranschaulichung eine untergeordnete Rolle zu spielen schien, hat die oben skizzierte Idee des zyklischen Permutierens von Tönen und Harmonien in Tonhöhenstrukturen ihre Vorläufer in dynamischen didaktischen Tools des 16. Jahrhunderts. So finden sich in aufwendig gestalteten Büchern dieser Zeit manchmal auch mehrschichtige Diagramme mit drehbaren Teilen zur Vermittlung elementarmusikalischer Kenntnisse (vgl. Weiss, S. F., 2019).
Zitierte und weiterführende Literatur
Barbieri, P. (2002). The evolution of open-chain enharmonic keyboards c1480–1650. In: Jahrbuch f. Musikwissenschaft (2002), S. 145–184
Barbour, J. M. (1951). Tuning and temperament. A historical survey. Nachdruck: East Lansing: Michigan State College Press, Da Capo Press: New York 1972
Barkowsky, J. (2007). Mathematische Quellen der musikalischen Akustik. Wilhelmshaven : Florian Noetzel Verlag
Duffin, R. W. (2007). How Equal Temperament Ruined Harmony (and Why You Should Care). W. W. Norton, New York
Euler, L. (1739). Tentamen novae theoriae musicae. Petersburg 1739 (S. 147, 279)
Hall, D. (1973). The Objective Measurement of Goodness-of-Fit for Tunings and Temperaments. In: Journal of Music Theory, Vol. 17, No. 2, pp. 274–290. https://doi.org/10.2307/843344
Kirnbauer, M. (2002). «Si possono suonare i Madrigali del Principe» – Die Gamben G. B. Donis und chromatisch-enharmonische Musik in Rom im 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch f. Musikwissenschaft (2002), S. 229–250. http://doi.org/10.5169/seals-835143
Krämer, S. (2016). Figuration, Anschaung, Erkenntnis – Grundlinien einer Diagrammatologie. suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2176. 179–193
Lindley, M & Turner-Smith, R. (1993). Mathematical Models of Musical Scales – A New Approach. Verlag für Systematische Musikwissenschaft, Bonn
Lindley, M. (1987). Stimmung und Temperatur.Geschichte der Musiktheorie Band 6, Hören, Messen und Rechnen in der frühen Neuzeit, S. 109–331
Mersenne, M. (1636). Harmonie Universelle, contenant la Theorie et la Pratique de la Musique, Paris 1636, Traitez des Consonances, des Dissonances, des Genres, des Modes & de la Composition, Livre Second, Des Dissonances, p.132 (hrsg. von Fr. Lesure, 3 Bde., Faks. P. 1965–1975)
Muzzulini, D. (2017). Chromatic Scales, Syntonic chromatic scales. In: Sound Colour Space (2017)
Muzzulini, D. (2020). Isaac Newton’s Microtonal Approach to Just Intonation. Empirical Musicology Review, Vol 15, No 3-4 (2020), pp. 223–248. http://dx.doi.org/10.18061/emr.v15i3-4.7647
Praetorius, M. (1619). Syntagma musicum, Bd. II, Wolfenbüttel
Rasch, R. (2002). Why were enharmonic keyboards built? – From Nicola Vicentino (1555) to Michael Bulyowsky (1699). In: Jahrbuch f. Musikwissenschaft (2002), 36–93
Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft (2002). Chromatische und enharmonische Musik, Neue Folge 22, Redaktion Joseph Williman, Peter Lang, Bern 2003
Wardhaugh, B. (2008). Musical logarithms in the seventeenth century: Descartes, Mercator, Newton. In: Historia Mathematica, Volume 35, Issue 1, February 2008, 19–36. https://doi.org/10.1016/j.hm.2007.05.002
Wright, D. (2002). The cimbalo chromatico and other Italian string keyboard instruments with divided accidentals. In: Jahrbuch f. Musikwissenschaft (2002), 105–136
Daniel Muzzulini, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institute for Computer Music and Sound Technology, Zürcher Hochschule der Künste
Contact: daniel.muzzulini@zhdk.ch, Website: www.muzzulini.ch
Einfühlsamer Lehrer, Schöpfer und Beobachter
Der Sammelband mit 15 Aufsätzen zu Leben, Werk, Lehr- und Vermittlungstätigkeit von Sándor Veress eröffnet neue Betrachtungsweisen.
Torsten Möller
- 23. Feb. 2022
Sándor Veress 1983 mit dem Berner Streichquartett (v.li.: Henrik Crafoord, Alexander van Wijnkoop, Walter Grimmer, Christine Ragaz). Foto: Peter Friedli
Sándor Veress war von grosser Bedeutung für die Schweizer Musikgeschichte. Eigentlich hatte er ja eine Karriere in den Vereinigten Staaten in Aussicht. Doch als die Lehramtsstelle sich in Pittsburgh aufgrund der ehemaligen Mitgliedschaft in der ungarischen Kommunistischen Partei zerschlug, landete Veress in Bern. Dort blieb er von 1949 bis an sein Lebensende im Jahr 1992. Als angesehener Hochschullehrer unterrichtete er namhafte Schweizer Komponisten und Musikwissenschaftler. Zu seinen Schülern zählten unter anderem Theo Hirsbrunner, Heinz Holliger, Urs Peter Schneider, Jürg Wyttenbach und Roland Moser.
Sándor Veress mit Heinz Holliger im August 1986 in Luzern. Foto: Claudio Veress
Der Sammelband Sándor Veress gibt lebendige Einblicke. Roland Moser berichtet Positives über seinen Lehrer, der im Unterricht – wohl in einer Mischung aus Bescheidenheit, pädagogischem Gespür und Interesse am anderen – nie «eigene Arbeiten erwähnt oder gezeigt» habe (S. 72). Dass von Veress durchaus hochrangige Werke stammen, belegen die Ausführungen und Analysen von Heinz Holliger über die Passacaglia concertante für Oboe und Streichorchester (1961) sowie die Betrachtungen des Musikwissenschaftlers Bodo Bischoff über das Spätwerk Glasklängespiel für gemischten Chor und Kammerorchester (1978).
Veress, Schüler von keinen Geringeren als Béla Bartók und Zoltán Kodály, war kein Avantgardist. Er fand zwar lobende Worte über die Klangflächenkomposition seines ehemaligen Schülers György Ligeti (S. 43), aber dem Serialismus der 1950er-Jahre stand er skeptisch bis ablehnend gegenüber. Das Lob für Ligeti findet sich in seinem wunderbaren, auf Englisch abgedruckten Text New Trends in European Music since World War II. Hier zeigt sich Sándor Veress nicht nur als einfühlsamer Beobachter, sondern auch als ungeheuer gebildeter, interdisziplinär denkender Kunst- und Kulturwissenschaftler im aufrichtigen Bemühen um eine gesellschaftliche Verankerung der Musik des 20. Jahrhunderts. Der sehr lesenswerte Sammelband mit 15 Aufsätzen ist somit nicht nur für den Veress-Forscher aufschlussreich; er gibt allen Interessierten viele Informationen fernab ausgetretener Pfade einer musikalischen Fortschrittsideologie des 20. Jahrhunderts.
Sándor Veress, hg. von Ulrich Tadday, Musik-Konzepte Heft 192/193, 197 S., € 38.00, Edition Text und Kritik, München 2021, ISBN 978-3-96707-389-8
Freies Formverständnis
Bei der Neuausgabe von Clara Schumanns «Drei Romanzen» wird ihre Zusammenarbeit mit Joseph Joachim und Wilhelm Joseph von Wasielewski deutlich.
Die Drei Romanzen für Violine und Klavier von Clara Schumann treffen beim ersten Kennenlernen sofort ins Herz mit ihren melancholischen, harmonisch reichen Melodiebögen, den fröhlichen Vogelrufen und der beschwingten Begleitung. Ihre Neuausgabe durch die weltweit tätige Geigerin und Pädagogin Jacqueline Ross hat gewichtige Vorteile: In einer dreisprachigen Einführung erzählt sie, wie Clara die Romanzen in Bewunderung von Joseph Joachims Spiel schuf. Romanzen waren bei Schumanns beliebt, weil sie durch freieres Formverständnis der Subjektivität, Spontaneität und dem Gefühlsausdruck mehr Aufmerksamkeit schenkten. Robert animierte seine Frau immer zum Komponieren, liess sogar Lieder von ihnen beiden gemeinsam drucken.
Das in dieser Ausgabe zusätzlich abgedruckte Autograf der ersten Romanze, das Clara dem befreundeten Geiger Wilhelm Joseph von Wasielewski schenkte, gibt Hinweise auf verschiedene Fassungen. Offenbar hatten sie gemeinsam daran gearbeitet. Gewisse Verbesserungen, entstanden anlässlich gemeinsamer Aufführungen der Romanzen mit Joseph Joachim, gelangten nicht mehr in die gedruckte Erstausgabe bei Breitkopf von 1856. Sie sind aber im hier vorhandenen Urtext eingearbeitet. Der ausschliesslich englische Critical Commentary beschreibt die Unterschiede der verschiedenen Autografe und Manuskripte zur Erstausgabe. Der Performing Practice Commentary ist ein lohnendes Lehrwerk zur Aufführungspraxis des 19. Jahrhunderts und gibt zu vielen Stellen jeder Romanze Ausführungsvorschläge für die Interpretierenden. Es werden zwei Violinstimmen geliefert: ein Urtext mit einigen von Joachim überlieferten Fingersätzen und eine von Ross eingerichtete Stimme, deren Vorschläge stilgerecht sind.
Für mich gehören Claras Drei Romanzen untrennbar zusammen mit Roberts Fünf Stücken im Volkston, original für Violoncello und Klavier, von Ernst Herttrich für Violine herausgegeben (Henle, HN 911). Im April 1849 schrieb Clara in ihr Tagebuch: «Diese Stücke sind von einer Frische und Originalität, dass ich ganz entzückt war.» Man darf davon ausgehen, dass die Violinversion auf Schumann zurückgeht; und eines der Stücke hat Joseph Joachim schon 1853 aufgeführt. Beim Musizieren aber stellt sich heraus, dass sich die Violine – eine Oktave höher klingend – zu sehr von dem zur Celloversion unveränderten Klavier absondert; es entsteht eine klangliche Lücke.
Clara Schumann: Drei Romanzen für Violine und Klavier op. 22, hg. von Jacqueline Ross, BA 10947, € 19.95, Bärenreiter, Kassel
Autodidaktik
Talente zu erkennen und zu entfalten, braucht mehr oder weniger äussere Unterstützung. Eigeninitiative spielt in jedem Fall eine zentrale Rolle.
Talente zu erkennen und zu entfalten, braucht mehr oder weniger äussere Unterstützung. Eigeninitiative spielt in jedem Fall eine zentrale Rolle.
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Focus
Jedes Lernen ist ein Selbst-Lernen
Interview mit Natalia Ardila-Mantilla, Professorin für Musikpädagogik
Enseigner la musique lorsqu’on est autodidacte
Que peut apporter de différent l’enseignant qui a appris par lui-même ?
Learning by Doing: Musik-Administration
Auto-apprentissages
Certains compositeurs ont été plus ou moins autodidactes
Seit Januar 2017 setzt sich Michael Kube für uns immer am 9. des Monats in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb.
Link zur Reihe 9
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Der an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien lehrende Komponist und Organist Pier Damiano Peretti leistet mit diesem Werk einen interessanten Beitrag zur Gattung «Neue Musik für historische Orgeln» – eine Idee, die glücklicherweise mehr und mehr Komponierende anregt und hoffentlich auch einen wachsenden Einfluss auf die Konzertprogramme vieler Organisten und Organistinnen haben wird. Peretti geht von einem barocken Instrument des süddeutsch-österreichischen Typus aus, für den sich auch in der Schweiz etliche Beispiele finden, d. h. von einer zweimanualigen Orgel mit kurzer Oktave in Manual und Pedal und einer ungleichschwebenden Stimmung im Stil des 18. Jahrhunderts. Die Registrierungsanweisungen sind auch auf kleineren Instrumenten problemlos realisierbar. Ein Pedal ist zwar nötig, aber übernimmt keine besonderen Funktionen, worauf auch der Titel Quasi manualiter deutet, der das Werk nach barockem Vorbild zwischen «kirchlicher Öffentlichkeit und häuslicher Privatheit» ansiedelt und auf die damalige «Austauschbarkeit» von Tasteninstrumenten jeglicher Art anspielt.
Ein etüdenhaft-monotoner erster Satz eröffnet den Zyklus, an den sich ein verspieltes, mit «fantastico» betiteltes Sätzchen für eine Vierfuss-Flöte anschliesst. Ein zwischen Sarabande («quasi kaputte Dorforgel») und agiler Corrente changierender Satz bildet das Herzstück; ein kurzes Rezitativ und ein tänzerischer Schlusssatz komplettieren das etwa zehnminütige Werk. Peretti gelingt in diesen kurzen – spieltechnisch und rhythmisch allerdings recht anspruchsvollen – Stücken auf gekonnte Weise eine Verbindung zwischen der Klangsprache unserer Zeit und einer musikalischen Gestik, die zwar ihre historischen Vorbilder erahnen lässt, aber dabei nicht «neobarock» wirkt. Fazit: eine Bereicherung des Repertoires, die sich ausgezeichnet mit Werken des Barocks kombinieren lässt.
Pier Damiano Peretti: Quasi manualiter für Orgel, D 02 531, € 14.95, Doblinger, Wien
Reise in keltische Regionen
Martin Tourish, ein grosser Kenner dieser Musik, hat hier nicht nur Stücke für Flöte und Akkordeon aus verschiedenen Gegenden, sondern auch Hintergrundinformationen und Ausführungshinweise zusammengestellt.
Der Akkordeonist, Komponist und Musikwissenschaftler Martin Tourish hat diese wunderbare Musik, nach einem Heft für Akkordeon solo (UE 36125), nun auch für Flöte und Akkordeon arrangiert. Der heute in Dublin lebende und ursprünglich aus Donegal im Nordwesten Irlands stammende Musiker hat Vorfahren, die traditionelle Tanzmusik «gesammelt» und Manuskripte aus dem Jahre 1896 hinterlassen haben. Tourish doktorierte 2014 mit seinen Forschungen über den Stil der traditionellen irischen Musik.
Das vorliegende Heft vereinigt musikalische Traditionen aus Irland, Schottland, Wales, Cornwall und der Bretagne. Die beiden Instrumente kommen betont gleichwertig zum Einsatz. Mir gefallen die Abwechslung von Parallelität, Unisono-Spiel, Frage-Antwort, aber auch die stimmlichen Überschneidungen der Instrumente extrem gut. Die Arrangements laden dazu ein, den grossen Raum für eigene Variationen und Ausführungen auszukosten. Martin Tourish schreibt dazu im Vorwort: «Ich wünsche mir, dass diese Sammlung Sie dazu inspiriert, sprichwörtlich über den Tellerrand zu schauen.»
Zum Teil scheinen mir die Registerempfehlungen für das Akkordeon nicht ideal. Eine Kombination von «mehrchörigem» Register und dicht ausgespielten Harmonien in der rechten Hand lassen mich an einem optimalen klanglichen (dynamischen) Ausgleich zwischen Flöte und Akkordeon zweifeln. In einigen Stücken könnte ich mir den Einsatz des Einzelton-Basses (Melodiebass) auch sehr gut vorstellen – für einen schlankeren, durchsichtigeren Klang.
Die im Anhang beigefügten Herkunfts- und Hintergrundinformationen zu jedem Musikwerk, aber auch die wertvollen Ausführungen zu Stil und Verzierungen unterstützen das eigene aktive Eintauchen in diese tollen Stücke. Sie motivieren, sich über weitere Kanäle mit dieser Musik-Tradition zu beschäftigen. «Lasst euch entführen, liebe Musikerinnen und Musiker!»
Celtic Duets für Flöte und Akkordeon (M2), leichte bis mittelschwere Folksongs aus Schottland, Irland, Wales, Cornwall und der Bretagne, arr. von Martin Tourish, UE 38035, € 19.95, Universal Edition, Wien
Mozart auf Wiener Gitarren
Raoul Morat und Christian Fergo spielen auf neunsaitigen Instrumenten und entlocken den Klaviersonaten neue Seiten.
Torsten Möller
- 23. Feb. 2022
Christian Fergo (li) und Raoul Morat mit den Wiener Gitarren. Foto: zVg
Die Gitarrenszene ist ja eine sonderliche. Im «Paralleluniversum» der Musikgeschichte gibt es viel von Johann Sebastian Bach, aber halt auch viele Kleinmeister, die sicher gut spielen, aber nicht immer gut komponieren konnten. Raoul Morat aus Luzern und sein dänischer Duo-Partner Christian Fergo kennen die Problematik, und sie beantworten sie ausgesprochen klug mit Bearbeitungen grosser Meister. Nach Franz Schubert nahmen sie sich nun Wolfgang Amadeus Mozart vor. Die vier Klaviersonaten Nr. 4, 5, 10 und 11 transkribierten sie für ihre Mitte des 19. Jahrhunderts gebräuchlichen «Wiener Gitarren» mit jeweils neun Saiten. – Und heraus kommt Besonderes.
Sehr fein kommt Mozart daher. Die Verzierungen klingen wunderbar und die – so manchen Pianisten zu Recht verschreckenden – Läufe ergeben sich völlig mühelos. Ja es hat sogar den Anschein, als bekämen die Klaviersonaten im Duo eine Spur mehr Dynamik und Vitalität als auf dem Solo-Klavier. Es hört sich einfach natürlich an und nach einem schön geradlinigen musikalischen Fluss. Dazu trägt auch bei, dass die beiden sich mit gitarristischen Manierismen zurückhalten. Flageoletts streuen sie nur selten ein, nur sehr dezent färben sie den Klang mit der rechten Zupfhand, ohne zu nah am Steg zu spielen. Kurz: Es klingt erfrischend «ungitarristisch».
Mozart-Kennern dürfte so eine Bearbeitung ein Stirnrunzeln hervorrufen, schreiben die Gitarristen in ihrem gelungenen Booklet-Text. Doch sie haben gute Argumente parat. Der Steinway sei ja von Tasteninstrumenten des 18. Jahrhunderts mindestens ebenso weit entfernt wie von Wiener Gitarren. Recht haben sie! Nach dieser CD will man Mozart erstmal gar nicht mehr auf dem Konzertflügel hören.
Wolfgang Amadeus Mozart: Piano Sonatas Arranged for Guitar Duo. Duo Morat-Fergo. Challenge Classics CC 72867
800 Werke der Chormusik
Repertoirewerke für Vokalensembles ohne oder mir sehr begrenzter Instrumentalbegleitung aus 450 Jahren sind hier versammelt.
Anna Fintelmann
- 23. Feb. 2022
Foto: skopal/depositphotos.com
Ein lobenswertes Unterfangen hat sich Kirchenmusiker und Herausgeber Bernd Stegmann vorgenommen: Eine Übersicht über die europäische Chorliteratur, beginnend im ausgehenden 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Das umfangreiche Kompendium aus dem Bärenreiter-Verlag, seit Jahrzehnten zuverlässiger Lieferant von Chorliteratur verschiedenster Couleur, wendet sich an Chorleitende wie an interessierte Sängerinnen. Alphabetisch gereiht finden sich zu 800 Werken der A-cappella-Chormusik Hinweise zur Entstehungsgeschichte, zur Aufführungspraxis und zu ästhetischen Aspekten, die die praktische Repertoirearbeit erleichtern. Eine Kategorisierung in Schwierigkeitsgrade von 1 bis 5 (ausgerichtet an einem Chor «mittlerer Leistungsfähigkeit») kann als Orientierungshilfe dienen, sollte ein Werk noch nicht einstudiert sein. Die eingängige Einführung lässt den Nutzer durch die europäische Musikgeschichte reisen und an den Entwicklungen von Komposition, Interpretation und kultureller Praxis der gemeinschaftlichen Vokalmusik teilhaben.
Die Werkporträts sind unterschiedlich tiefgehend gestaltet; den 22 Autorinnen und Autoren gelingen differenzierte Analysen, Werkbeschreibungen und Hinweise zur Entstehungsgeschichte ebenso wie zum «Ranking» innerhalb des weitverzweigten musik- und kulturhistorischen Schatzes «Chormusik». Das mit 718 Seiten umfangreiche Handbuch weist zudem Register auf zu Komponisten, Autoren, Textquellen und Besetzungsanforderungen, eine praktische Kategorisierung zur raschen Orientierung; ebenso sind Aufführungsdauer und Verlag bei allen Werken angegeben.
Sich wieder einmal mit dem eigentlichen Inhalt der täglichen Arbeit auseinanderzusetzen oder das eine oder andere unbekannte Werk für das eigene Ensemble in Erwägung zu ziehen, dazu regt dieses gelungene Handbuch an. Und es gibt Chorleitenden die Motivation, nach dem trüben Pandemiewinter mit programmatischer Arbeit für bessere Zeiten gewappnet zu sein.
Handbuch der Chormusik. 800 Werke aus sechs Jahrhunderten, hg. von Bernd Stegmann, XX + 718 S., € 89.99, Bärenreiter/J.B. Metzler, Kassel/Stuttgart 2021, ISBN 978-3-7618-2342-2
Raum und Musse
Anlässlich ihrer dritten Begegnung auf Platte widmen sich der Schlagzeuger Gilbert Paeffgen und die Akkordeonistin Susanna Dill der musikalischen Reduktion und beweisen, dass weniger tatsächlich oftmals mehr ist.
Michael Gasser
- 23. Feb. 2022
Foto: zVg
Auf die Frage nach seinen Einflüssen erklärte der deutsche Jazzmusiker Gilbert Paeffgen (geboren 1958) einst in einem Interview: «Was mich anspricht, sind Menschen, Musiker und Schlagzeuger mit Ausstrahlung, Eigenständigkeit und Profil, die etwas zu erzählen haben.» Und genau so jemanden hat der seit Ende der Siebzigerjahre in der Schweiz ansässige Paeffgen in seiner Duopartnerin Susanna Dill gefunden.
Nach Legendes d’Hiver (2010) und 13 Épisodes lumineux et enjoués (2015) haben die beiden unter dem Titel Zwischen den Zügen nun ihre dritte Zusammenarbeit veröffentlicht. Geworden ist es eine Aufforderung, frank und frei durch die eigenen Erinnerungen, Gedanken und Realitäten zu streifen. Grundlage dafür bildet der asketische und schier ausgezehrte Sound, den die beiden kreieren. Dieser stützt sich einzig auf Dills Akkordeon und Paeffgens Hackbrett ab. Die elf Stücke nehmen sich Zeit, um sich zu entfalten und um gezielt Klänge zu setzen. Im Gegenzug bieten sie Raum und Musse.
Das Album zeichnet sich eher durch Strenge als durch Verspieltheit aus, dennoch wirken die zumeist getragenen Kompositionen durchwegs sensibel und sinnlich. Während das Titellied sowohl Kommen als auch Gehen zu verheissen scheint, fliegen Tracks wie das ätherisch anmutende Dichtes Huschen oder das versonnene Märchen von Station zu Station und von Stil zu Stil. Die von Musette, Tango, keltischem Folk und moderner Klassik inspirierten Motive zeugen dabei nicht nur von der Improvisationsfreude der beiden Musiker, sondern insbesondere auch von ihrer lyrischen Schaffenskraft.
Mit Zwischen den Zügen ist Dill und Paeffgen eine Art Soundtrack gelungen, welcher – ähnlich wie Ry Cooders Paris, Texas – Geschichten voller Sehnsucht formuliert, die entrückt, handfest und grazil zugleich sind. Das Resultat ist ein eindrucksvolles Werk zweier eindrucksvoller Künstler, die zu einem gemeinsamen Ausdruck gefunden haben.
Susanna Dill und Gilbert Paeffgen: Zwischen den Zügen. Everest Records er_096