«à Fanny H.» – Annäherung an Fanny Hünerwadel

Drei Aarauer Gymnasiastinnen haben einen Dokumentarfilm über die Lenzburger Komponistin gedreht.

Fanny Hünerwadel. Ölbild von Anna Susanna Fries, Rom 1854. Quelle: wikimedia commons

Fanny Hünerwadel wurde 1826 in das wohlhabende Lenzburger Geschlecht Hünerwadel hineingeboren. Für eine Frau der damaligen Zeit war es nicht selbstverständlich, das Leben der Musik zu widmen, doch ihre kulturinteressierte Familie ermöglichte es ihr. Bereits in jungen Jahren entdeckte man ihre Begabung, besonders als Sängerin und Pianistin, und sie setzte ihre Ausbildung in Zürich beim Klaviervirtuosen Alexander Müller fort. In dieser Zeit kam sie in Kontakt mit Richard Wagner und traf auch auf andere Bekanntheiten der Musikwelt wie Franz Liszt, der ihr sogar das kurze Stück à Fanny H. widmete. Sie ging auf Reisen nach Paris, London und verbrachte längere Zeit in Italien, wo sie auch zu komponieren begann.

Fanny bewegte sich in den höchsten Gesellschaftsschichten, blieb dabei aber stets bodenständig und anspruchslos. In Rom erkrankte sie an Typhus und verstarb am 27. April 1854 mit nur 28 Jahren. Bei der Beerdigung erwiesen ihr zwei- bis dreihundert Menschen die letzte Ehre.

Hanna Siegel, Tabea Furrer und Jessica Berger haben sich im Rahmen ihrer Maturaarbeit an der Alten Kantonsschule Aarau intensiv mit der Sängerin, Pianistin und Komponistin Fanny Hünerwadel beschäftigt. Dabei entstand ein kurzer Dokumentarfilm, in dem die Biografie der Musikerin, ihre Werke und ihr Umfeld porträtiert werden. Obwohl Fanny Hünerwadel in ihrem zu kurzen Leben bereits internationale Erfolge feierte, kennt heute kaum noch jemand ihren Namen. Dies wollten die drei unbedingt ändern. Bei der Recherche lernten die Maturandinnen nicht nur viel über Fanny Hünerwadel selbst, sondern auch über die Geschichte Lenzburgs. Als Erweiterung ihres Projektes organisierten sie ein Konzert mit Stücken komponiert von Fanny Hünerwadel und der Filmvernissage des Dokumentarfilms.

Link zum Film (Dauer 12’19“)

Kontakt Jessica Berger: jessi.berger@outlook.com

Musikverlag Fidula erhält Deutschen Verlagspreis 2024

An der Frankfurter Buchmesse wurde die prestigeträchtige Ehrung erstmals auch einem Musikverlag zuteil.

Verlegerin Katharina Holzmeister bei der Preisverleihung in Frankfurt. Foto: Fidula

Mit dem Deutschen Verlagspreis werden «unabhängige Verlage für ihren Einsatz für die Kultur und Demokratie» gewürdigt. Dies betonte Kulturministerin Claudia Roth bei der Preisverleihung im Rahmen der 76. Frankfurter Buchmesse. 84 Verlage wurden für ihre aussergewöhnliche Programmarbeit, ihre Kreativität und ihr kulturelles Engagement ausgezeichnet. Ein Preisgeld von 18 000 Euro ging dabei an den Fidula-Verlag.

Fidula-Verlag

Seit über 75 Jahren prägt der in dritter Generation geführte Musikverlag die musikalische Bildung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Mit einem breiten Angebot an Liedern, Tänzen, musikpädagogischen Fachbüchern und Schülermusicals ist er eine wichtige Anlaufstelle für Musiklehrpersonen und Chöre

Das Verlagscredo «einfach, aber anspruchsvoll» spiegelt sich beispielsweise im international erfolgreichen Kindermusical Tuishi Pamoja, das jedes Jahr über 120-mal auf den Bühnen der Welt zu sehen ist. Insgesamt verzeichnen Fidula-Schülermusicals jährlich über 1000 Aufführungen, womit mehr als 25 000 Kinder singen, spielen und eine unvergessliche Erinnerung mitnehmen. Die Stücke entsprechen der gesunden Kinderstimmlage und werden vor der Veröffentlichung erprobt.

Seit fast 50 Jahren gibt der Verlag vierteljährlich die Zeitschrift musikpraxis heraus mit Beiträgen für alle, die Musik aktiv in ihre Arbeit mit Kindern einbringen wollen. Die alljährliche Fidula-Tagung bietet Musikpädagoginnen und -pädagogen Fortbildung und frische Ideen.

Verlegerin Katharina Holzmeister, die Enkelin des Verlagsgründers, setzt sich für junge Unternehmerinnen und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ein. Zudem ist sie Vorsitzende der AG «Kleine Musikverlage» im Deutschen Musikverlegerverband.

Fidula – Fachverlag für Musikpädagogik, Chormusik und Musicals

Das neue Köchel-Verzeichnis

Mozarts Œuvre ist nach 60 Jahren wieder nach dem aktuellen Stand der Forschung erschlossen. Der Verlag Breitkopf & Härtel und die Internationalen Stiftung Mozarteum haben die neu erarbeitete Auflage des Werkkatalogs vorgestellt.

Letzte Seite der Arbeitspartitur von Mozarts Requiem, Köchelverzeichnis 626. Quelle: Österreichische Nationalbibliothek / wikimedia commons

Das Köchel-Verzeichnis bietet seit mehr als 160 Jahren einen genauen Einblick in die Werke von Wolfgang Amadé Mozart. Die erste Auflage dieses Werkkatalogs legte Ludwig Ritter von Köchel 1862 bei Breitkopf & Härtel vor. Um das rapide wachsende Wissen über Mozarts Schaffen darzustellen, kam es in der Folge zu mehreren Neuauflagen.

Ursprünglich enthielt das Köchel-Verzeichnis  626 chronologisch geordnete Werke. Der Katalog wurde von Anfang an durch verschiedene Anhänge ergänzt und erweitert. Neuerkenntnisse zur Chronologie der authentischen Werke schlugen sich in den späteren Ausgaben von 1905, 1937 und 1964 in neuen Werknummern nieder. Das hierdurch entstandene Nummernkonstrukt mit unzähligen Querverweisen wurde immer komplizierter.

626 «alte» und mehr als 90 «neue» Nummern

Eine Grundsatzentscheidung bei der Neuauflage war es, die Nummerierung zu vereinfachen. Die verwirrenden Mehrfachnummerierungen wurden rückgängig gemacht. 95 Kompositionen, die in keiner der bisherigen Auflagen einen eigenen Eintrag erhalten hatten, werden mit Nummern ab KV 627 neu gezählt. Eine thematische Übersicht nach Werkgruppen, eine Konkordanz und eine chronologische Übersicht erleichtern den Zugang. Neu strukturierte Anhänge bieten einen Überblick über Mozarts Bearbeitungen fremder Werke, über Kadenzen zu eigenen und fremden Werken sowie über Studien, Unterrichtsmaterial und alle sonstigen musikalischen Aufzeichnungen.

Neue Mozart-Stücke entdeckt

Während der Arbeiten an der Neuausgabe wurden auch neue Werke entdeckt. Seit dem Mozart-Jahr 2006 wurden mehrere Klavierstücke des jungen Mozarts erstmals aufgefunden oder als Werke des jungen Komponisten identifiziert. Darunter befindet sich der erste Konzertsatz Mozarts, der ohne Autorenbezeichnung im sogenannten Nannerl-Notenbuch, dem Klavierbuch seiner Schwester Maria Anna, steht und jetzt als KV 636 verzeichnet ist. Zudem konnte eine Serenate ex C aus der Musikbibliothek der Leipziger Städtischen Bibliotheken als ein Jugendwerk von Mozart verifiziert werden.

Köchel-Verzeichnis online

Die Stiftung Mozarteum stellt zum Verkaufsstart des gedruckten Verzeichnisses von Breitkopf & Härtel die erste Stufe eines neuen digitalen Angebots vor, das einen einfachen und kostenfreien Zugang zum Werk Mozarts und zum neuen Köchel-Verzeichnis ermöglicht: Köchel digital

 

Ludwig Ritter von Köchel: Köchel-Verzeichnis (KV). Thematisches Verzeichnis der musikalischen Werke von W. A. Mozart, bearbeitet von Neal Zaslaw, im Auftrag der Internationalen Stiftung Mozarteum, vorgelegt von Ulrich Leisinger, BV 300, 1 392 Seiten; Einführungspreis bis 31.12.2024: € 459.00, danach € 499.00, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2024, ISBN 978-3-7651-0300-1

Podcast von Breitkopf & Härtel zum neuen Köchel-Verzeichnis

Doppelter Erfolg für die Geschwister Baldenweg

Diego Baldenweg mit Nora Baldenweg und Lionel Baldenweg sind bei den World Soundtrack Awards als erste Schweizer nominiert, und dies in gleich zwei Kategorien.

v. li.: Nora und Diego Baldenweg, Dirigent Dirk Brossé und Lionel Baldenweg bei den Orchesteraufnahmen zu «In the Land of Saints and Sinners». Foto: zVg

Ihre Musik für den Spielfilm In the Land of Saints and Sinners (Regie Robert Lorenz, Hauptrolle Liam Neeson) ist eine Hommage an Irland, Western-Musik und romantische Orchestrierung. Sie spielt mit den typischen Codes eines Westerns und bezieht traditionelle irische Instrumente mit ein. Ein sinfonisches Orchester und ein Chor sorgen für ein mysteriöses 70er-Jahre-Gefühl. Ein wichtiges Erkennungsmerkmal ist die Harmonika, gespielt von «Pfuri» Baldenweg.

Der Film feierte letzten Herbst Weltpremiere in Venedig. Anfang Jahr erhielten die Geschwister bereits an den Movie Music UK Awards eine Nomination für die Kategorie «Score of the Year» (Filmmusik des Jahres). An den World Soundtrack Awards, die als «kleiner Bruder der Oscars» gelten, ist die Musik nun sowohl in der begehrten Kategorie «Discovery of the Year» als auch in der Kategorie «Public Choice», nebst Mitstreitern wie Hans Zimmer (Dune 2), Anthony Willis (Saltburn) und Jerskin Fendrix (Poor Things), nominiert.

Das Advisory Board der World Soundtrack Academy bestehend aus führenden internationalen Filmmusikagenten, Publizisten und Studio Executives, wählt jährlich fünf Komponisten als «Discovery of the Year» (Neuentdeckung des Jahres) aus. Die Baldenwegs haben es als erste Schweizer in diese Runde geschafft.

Die Auswahl der besten Filmmusiken für die Kategorie «Public Choice» (Wahl des Publikums) wird vom internationalen Filmmusik-Kritikerverband (IFMCA) mitbestimmt, worauf Fans und Filmmusikliebhaber global abstimmen. Auch hier haben sie es unter die fünf Nominierten geschafft.

Der Film war 2023 am Zurich Film-Festival zu sehen und ist auf diversen Streamingplattformen zu finden. Die Filmmusik wurde im April 2024 digital veröffentlicht (Sony Music Masterworks). Am 1. Oktober erscheint die physische CD (Caldera-Records).

You-Tube-Clip über die Entstehung der Filmmusik

Abbau beim Instrumentalunterricht an der PH FHNW

An der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz soll der Unterricht am Instrument um fast die Hälfte gekürzt werden. Das wäre ein weiterer Schlag für die Qualität der Schulmusik.

Foto: New Africa/depositphotos.com

Die Pädagogische Hochschule Nordwestschweiz (PH FHNW) plant, den Instrumentalunterricht für die künftigen Lehrkräfte ab dem Herbstsemester 2025 von 1’021 auf 615 Stellenprozente zu reduzieren. Anstelle des von den Studierenden sehr geschätzten Einzelunterrichts soll ein sogenannter Tandemunterricht treten. Die ohnehin schon knapp bemessenen Ausbildungszeit im Fach Musik wird dadurch weiter eingeschränkt.

Lehrpersonen benötigen eine fundierte Ausbildung, um qualitativ hochwertigen Musikunterricht in Kindergarten und Primarschule bieten zu können, wie er in Artikel 67a der Bundesverfassung gefordert wird. Etliche künftige Lehrpersonen haben selber aber nur dürftige, an Oberstufe und Gymnasium zum Teil gar keine Musiklektionen erhalten. Die Differenzierung im Musikunterricht der PH ist daher essenziell, um den individuellen Voraussetzungen und Bedürfnissen der Studierenden gerecht zu werden. Durch die geplante Kürzung wird jedoch genau dies untergraben.

Der VPOD Aargau/Solothurn fordert in einer Petition die politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger der Kantone Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Solothurn und Aargau sowie die Leitung der PH FHNW auf, diese Sparmassnahmen rückgängig zu machen und die finanziellen Mittel wieder vollumfänglich bereitzustellen:

vpod.ch/campa/petition-instrumentalunterricht/

Blick auf Othmar Schoecks Heimat

Das Begleitbuch zum Othmar-Schoeck-Festival 2023 widmet sich vor allem familiären und ortskundlichen Aspekten.

Alexandre Calames Begeisterung für diese Landschaft auf einem Stein im Wald über Brunnen. Foto: SMZ

Als «Le plus beau pays du monde» bezeichnete der Landschaftsmaler Alexandre Calame im 19. Jahrhundert die Gegend um das schwyzerische Brunnen und den Blick auf den Urnersee. Und das erinnert an das Diktum des deutschen Geigers Wolfgang Schneiderhan zu Dreilinden in Luzern: «Der schönste Ort, der je einem Konservatorium gegeben wurde.» Musik und Landschaft scheinen eine Wechselbeziehung einzugehen, sowohl in Brunnen wie in Luzern. Othmar Schoeck hat allerdings nie in Luzern studiert – das Konservatorium wurde erst 1952 gegründet –, sondern in Zürich und Leipzig (bei Max Reger).

Sein Vater, der Kunstmaler Alfred Schoeck, seinerseits Sohn eines wohlhabenden Basler Seidenhändlers, besuchte 1870 Brunnen, heiratete dort die Hotelierstochter Agathe Fassbind und liess sich auf dem «Gütsch» ein Atelier- und Wohnhaus mit dem sinnigen Namen «Villa Ruhheim» bauen. Mit Agathe hatte er die vier Söhne Paul (Architekt und Dramatiker), Ralph (Professor für Maschinenbau und Offizier), Walter (Hotelier in Brunnen und begabter Amateur-Cellist) und den Komponisten und Dirigenten Othmar (1886–1957), das Nesthäkchen.

Othmar und seine Brüder: «vier Elemente»

Der Theaterregisseur Alvaro Schoeck – ein Urenkel des besagten Alfred – und der Musikwissenschaftler Chris Walton, Verfasser einer Dissertation über Othmar Schoeck, haben für das seit 2016 bereits zum fünften Mal stattfindende Othmar-Schoeck-Festival Brunnen von Anfang September 2023 ein Begleitbuch herausgegeben, welches vorab familiäre Aspekte der Schoecks beleuchtet und so Aufschlüsse über Othmars Umfeld und Heimat liefert. Das geht von den launigen Aufzeichnungen des Kinderfräuleins, welches die Schoeck-Söhne als «die vier Elemente» bezeichnet, über das Who is who in Brunnen und Ingenbohl ab 1900 mit dem Titel Othmar ist da! von Katrin Spelinova bis zum novellenartigen Fragment Nachts bei den Brüdern Schoeck des Schwyzer Schriftstellers Meinrad Inglin von 1968.

Die stimmungsvollen Landschafts-Ölbilder auf dem Umschlag und im Buch stammen allesamt von Alfred Schoeck und werden ergänzt durch viele zeitgenössische Schwarz-Weiss-Fotos der Schoeck-Familie.

Le plus beau pays du monde? Othmar Schoecks Umfeld in der Innerschweiz, Begleitbuch zum Othmar Schoeck Festival 2023, hg. von Alvaro Schoeck und Chris Walton, 180 S., Fr. 20.00 (+ Porto), Müsigricht, Steinen 2023, ISBN 978-3-9525658-2-7

Alpine Kur- und Hotelmusik

Der Sammelband «Salonorchester in den Alpen» präsentiert die facettenreiche Geschichte der musikalischen Unterhaltung in Tourismus-Hochburgen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.

Orchester bei der Skisprungschanze in Maloja. Quelle: Kulturarchiv Oberengadin, Nachlass Maloja Palace, Falter 4d

Das waren noch Zeiten. Selten hat dieser Satz besser gepasst als für die Welt, die bei der Lektüre des von Mathias Gredig, Matthias Schmidt und Cordula Seger herausgegebenen Sammelbands zur Geschichte der Salonorchester in den Alpen lebendig wird. Im Zuge des frühen Tourismus- und Kurortbooms wurden ab den 1860er-Jahren in unzähligen Hotels Musikformationen – vom Klaviertrio bis zum grossen Kammerorchester – engagiert, um die internationalen Gäste bei ihren kostspieligen Aufenthalten in den Alpen zu unterhalten. Dieses ebenso abenteuerliche wie unterhaltsame Kapitel der lokalen Musikgeschichte wurde erst in den letzten Jahren von der Musikforschung entdeckt.

Der vorliegende Band beleuchtet das Thema anhand 14 kürzerer Essays aus verschiedensten Perspektiven: Den Bogen bilden Untersuchungen von Archivdokumenten aus den Engadiner Hotels Val Sinestra und Maloja Palace; dazwischen finden sich migrationshistorische Texte (etwa zu reisenden Musikerinnen), musiktheoretische Abhandlungen über Opernbearbeitungen, Tourismuskritik, Kurzbiografien, Projektberichte zu neu geschriebenen Salonorchester-Arrangements sowie Fachgespräche mit hohem Unterhaltungswert. Meist zwei Essays sind stimmungsvoll zu kleinen Blöcken angeordnet, sodass beim Lesen kaum Durchhänger entstehen.

Die Kapitel sind anschaulich geschrieben, die Vielfalt an Quellen und Abbildungen sowie die ausgeprägte Narrativität machen die Texte eingängig und lebensnah. Der insgesamt anthologische Aufbau wird durch Leitfiguren wie Fräulein Schubert oder Cesare Galli bereichert, die kapitelübergreifend auftauchen und die Inhalte so allmählich zu einem – wenngleich sehr fragmentarischen – Gesamteindruck zusammensetzen. Geografisch etwas aus der Reihe tanz der Ausflug ins Südtirol, da sich die restlichen Beiträge fast ausschliesslich im Engadin abspielen. Ein Plus sind die vielen konkreten Musikbeispiele, aus denen sich eine schöne Buch-Playlist zusammenstellen lässt.

Die Lektüre des Bands lohnt sich auf alle Fälle. Er vereint erfolgreich Information und Unterhaltung und wird dem Gegenstand damit gerecht.

Salonorchester in den Alpen, hg. von Mathias Gredig, Matthias Schmidt, Cordula Seger, 232 S., Fr. 38.00, Chronos, Zürich 2024, ISBN 978-3-0340-1733-6

Bach – in neuer Artikulation?

Die Neuedition von Bachs Cembalokonzert D-Dur BWV 1054 kann die Frage legato oder non legato letztlich nicht lösen.

Foto: Nikolaev/depositphotos.com

Johann Sebastian Bachs Cembalokonzerte sind berühmt und lassen sich auch gut ohne begleitende Streicher spielen. Zudem sind sie allesamt Bearbeitungen von Konzerten, die man auch mit anderen Soloinstrumenten kennt: Das Konzert D-Dur ist besser bekannt als Violinkonzert E-Dur.

Die Neuausgabe von Studienpartitur und Klavierauszug basiert in Notentext und Vorwort nicht auf Bachs autografer Partitur, sondern auf deren Faksimile, herausgegeben von Christoph Wolff (Bärenreiter), welcher sich, mehr oder weniger ausdrücklich, wiederum auf frühere Forschungen von Werner Breig (Bärenreiter) stützt, der die Konzerte in der Neuen Bach-Ausgabe (Bärenreiter) ediert hatte. Auch die Herausgeber der neuen Henle-Ausgabe müssen in den «Bemerkungen» dann doch – reichlich versteckt – zugeben, dass sie ihr Wissen eigentlich Breig verdanken.

Von früheren Editionen unterscheidet sich ihre Lesung vor allem dadurch, dass sie vorgeben, es mit Bachs flapsiger Schreibweise der Bögen genauer als ihre Vorgänger zu nehmen, aber dennoch einräumen müssen, dass sie es so genau auch nicht wissen. Das können sie angesichts von Bachs skizzenhafter und inkonsequenter Setzung von Legatobögen auch gar nicht. Darum muss man als Interpret oder Interpretin lediglich wissen, dass die unsystematisch hingeworfenen Bögen hier nur eine Gruppierung verdeutlichen, die in der Schreibweise in Vierer-Balken bereits angelegt ist, und dass die Unterschiede der Intervalle in Bachs Zeit letztlich über deren Artikulation entschieden – frei nach Leopold Mozart (1756, 4. Hauptstück, § 29): Die kleinen Intervalle muss man meistens binden. Je grösser sie sind, desto mehr soll man sie «abgesondert vortragen». Wichtig sind feine Differenzierungen, «angenehme Abwechselung.»

Johann Sebastian Bach: Cembalokonzert Nr. 3 D-Dur BWV 1054, hg. von Maren Minuth und Norbert Müllemann; Klavierauszug von Johannes Umbreit: HN 1382, € 17.50; Studienpartitur: HN 7382, € 11.50; G. Henle, München

Glücksmomente beim Üben – nur wie?

Corina Nastoll schlägt abwechslungsreiche Übungen vor und fördert das selbstbestimmte Lernen, damit bei der Arbeit am Instrument oder mit der Stimme kein Frust aufkommt.

Foto: cherrryandbees/depositphotos.com

«Üben ist eine grosse, ewige, fantasievolle Spielwiese.» Ja, der Musikpädagoge Christoph Richter hat recht. Sich mit seinem Instrument oder seiner Stimme zu beschäftigen, ist ein endloser, manchmal auch schwieriger Prozess. Wichtig ist vor allem Kontinuität. Doch leichter geschrieben als getan: Beim Erwachsenen ist das Zeitmanagement ein Problem. Beim Kind gilt es, die Spielfreude zu erhalten, sodass es nicht nur nach den Ermahnungen der Eltern das Übezimmer betritt.

Corina Nastoll präsentiert im Sonderheft der Zeitschrift üben & musizieren einen reichhaltigen Überblick. Sie gibt ganz konkrete Tipps zur Gestaltung des Instrumental- oder Gesangsunterrichts. Da werden schöne Aufwärmübungen vorgestellt, vielfältige Stimulierungen intrinsischer Motivation gezeigt. Und nicht vergessen: Auch die Schülerin, die nicht zum Üben kam, kann im Unterricht lernen. Etwas improvisieren zum Beispiel, eine einfache Melodie rhythmisieren oder auch Blattspiel üben. Da sind schnell 40 bis 60 Minuten nicht nur vorüber, sondern sinnvoll genutzt.

Üben geht klar! macht Spass. Und das liegt auch daran, dass für Nastoll Verzagen kein Thema ist. Als ausgebildete Musikpädagogin kennt sie die grössten Fehler vergangener Zeiten. Obsoletem Perfektionswunsch antwortet sie mit willkommener Fehlerkultur, übertriebenen Stil-Fixierungen mit flexiblem Unterricht, und schliesslich, vermutlich das Wichtigste: Sie plädiert für Selbstbestimmung des Schülers: Wo will ich hin? Welches Stück gefällt mir? Wie viel Zeit will ich mir nehmen? Wie fand ich den letzten Unterricht?

Das gut lesbare und obendrein schön gestaltete Heft ist sicherlich dem Instrumentallehrer von grossem Nutzen. Doch auch Eltern oder Schüler sollten sich ruhig die Zeit nehmen, die 44 Seiten an zwei Abenden zu lesen. Man bekommt jedenfalls richtig Lust, sich nach der Lektüre wieder ans Klavier zu setzen, um manche Dinge auszuprobieren. Da wäre die Übung namens «Eule», die schon vor der Übeeinheit für Lockerung und Durchblutung sorgt. Oder der Monotonie vorbeugende Wechsel von Übungen: mal zwei Takte auswendig lernen, dann ein freies Akkordspiel, am Ende dann vielleicht weiter am Paradestück arbeiten.

Bei all den freudvoll beschriebenen Tipps und Übungen schafft es Nastoll en passant, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, womit einen das eigene Musizieren und Üben belohnt. Sehr eindrücklich fasst es am Ende des Heftes der zitierte Peter Röbke zusammen. Laut dem verdienten Musikpädagogen bekommen wir durch funktionierendes Lernen: «Glücksmomente, Versunkensein in den Klang und wirkliches Hin-Horchen, Dialog und Zuwendung, Aufgehen im selbstvergessenen Spiel, Affektdurchbruch und Gestaltung, Verkörperungen und leibliches So-Sein, beinahe spirituelle Erfahrungen, Als-Ob, Verwandlungen.» Ja, wenn das keine Argumente sind!

Corina Nastoll: Üben geht klar! Effizient und mit Freude üben, 44 S., € 18.50, Schott, Mainz 2023, ISBN 978-3-7957-3094-9

 

Eintauchen in Wiener Klänge

Auf einem Fortepiano des Wiener Klavierbauers Konrad Graf stellt Eloy Orzaiz Werke von Hummel und Schubert nebeneinander.

Eloy Orzaiz. Foto: zVg

Hier Johann Nepomuk Hummel, dort Franz Schubert. Die beiden Komponisten sind Zeitgenossen, doch stilistisch voneinander entfernt. Der einstige Mozart-Schüler Hummel schreibt in einem eleganten postklassischen Stil, gewürzt mit einer Virtuosität, die um 1800 en vogue ist in Wiener Konzertsälen oder Musiksalons. Schuberts Musik ist vergleichsweise dezent-hintergründiger, auch harmonisch reicher. Hört man sich ein in die CD La Contemplazione des spanischen Pianisten Eloy Orzaiz, ist nachzuvollziehen, warum eher Schubert zum Vorläufer oder Wegbereiter für das 19. Jahrhundert wurde.

Orzaiz ist Spezialist für historische Aufführungspraxis, ausgebildet unter anderem an der Schola cantorum in Basel. Hummels und Schuberts Klavierwerke spielt er auf einem Fortepiano aus der Werkstatt des in Wien äusserst beliebten Klavierbauers Conrad Graf. Viel schlanker als auf einem modernen Flügel klingt es, auch subtiler. Orzaiz entlockt dem 1826 oder 1827 gebauten Instrument reiche Klangfarben, die noch mehr zur Entfaltung gekommen wären, wenn er die Tempi nicht so strapaziert hätte. In Hummels Grande Sonate Brillante op. 106 unterstreicht er die virtuosen Aspekte zu sehr. Und gerade in Schuberts so rätselhaftem Spätwerk, zu dem die hier eingespielten Drei Klavierstücke D 946 gehören, ist das Tempo ein neuralgischer Punkt. Das erste Klavierstück in es-Moll wirkt etwas gehetzt. Und im zweiten in Es-Dur fehlt der Musik das leicht Federnde, damit auch die Tempo-Variation.

Nichtsdestotrotz: Diese ansprechend gestaltete CD macht Hörfreude mit abwechslungsreicher Musik – auch mit ihren historischen Qualitäten, die ein unmittelbares Eintauchen in den «Wiener Klang» der 1820-er-Jahre möglich macht.

La Contemplazione. Hummel, Schubert. Eloy Orzaiz, Fortepiano Graf. lbs classical 182023

Ursprünglich für chromatische Harfe

In der Neuausgabe von Debussys «Danses» wird auch eine Phase aus der Entwicklungsgeschichte der Harfe greifbar.

Chromatische Harfe von Pleyel mit gekreuzten Saiten. Instrumentensammlung des Metropolitan Museum of Art. Foto: Susan Dederich-Pejovich/Wikimedia commons

Ein Juwel der Harfenliteratur sind die Danses (mit den beiden Teilen «Danse sacrée» und «Danse profane») von Claude Debussy für Harfe und Streichorchester. Die Farben, die Nuancen und die ganz eigene Dynamik, die durch Verschmelzung der gezupften und gestrichenen Saiten entstehen, sind unübertroffen.

Das Werk war 1903 eine Auftragskomposition der Firma Pleyel für ihre damals gebaute chromatische Harfe. Die Idee dazu – in Konkurrenz zur stetig erweiterten Mechanik der Doppelpedalharfe der Firma Erard – ergab sich aus der zunehmenden Chromatik in der Musik jener Zeit, was hiess, dass die Pedalarbeit immer umfangreicher und schwieriger auszuführen war. Pleyel versuchte, das Problem durch den Bau einer Harfe mit gekreuzten Saiten (diatonische und chromatische Saitenreihen) zu lösen und mit Auftragswerken an namhafte Komponisten für dieses Instrument zu werben. Die Werbestrategien gingen bis hin zu einer Klasse für chromatische Harfe am Conservatoire in Brüssel um 1900 und später in Paris.

Debussy nahm den Auftrag an, aber es verging noch ein Jahr, bis die Sache konkreter wurde. Ausschlaggebend dafür waren wohl das Drängen des Auftraggebers und der Wettbewerb der Revue musicale. Debussy hatte den Jury-Vorsitz. Zu den nominierten Werken gehörte eines des Komponisten Lacerda. Es trug den Titel Danse du voile als Teil einer Suite von Danses sacrées.

Mitte Mai 1904 waren Debussys Danses dann fertig. Er hatte etwas Mühe mit dem Instrument und der ganzen Komposition gehabt, wie man aus seinen Briefen erfährt. Die erste Ausführung fand im November 1904 in Paris statt, gelobt vom Publikum, eher kritisch aufgenommen seitens der Kritiker allen voran Fauré, für welchen das Werk «…vom so ganz eigenen Talent des Herrn Debusy nichts enthüllt [hatte], was nicht bereits bekannt wäre».

Die Pedalharfe wird Standard

Die chromatische Harfe, auch bedingt durch den dünneren und trockeneren Klang, konnte sich nicht durchsetzen. Bereits im Nachdruck der Danses 1910 wurde «chromatische oder Pedalharfe» angefügt. Henriette Renié, Harfenvirtuosin und Komponistin, führte das Werk in jenem Jahr auf der Doppelpedalharfe auf, was Debussy nur recht war, hatte dieses Instrument doch mehr Klangfülle und Ausdrucksmöglichkeiten. Als er 1915 seine Sonate für Flöte, Viola und Harfe komponierte, war die chromatische Harfe kaum mehr in Gebrauch. Die Danses waren zu Lebzeiten Debussys eines seiner meistgespielten Werke.

Die Henle-Neuausgabe, ediert von Peter Jost, wird sicherlich in vieler Hinsicht die Erstausgabe von Durand ersetzen können. Der notierte chromatische Harfenpart kann direkt auf die moderne Doppelpedalharfe übertragen werden, die Lesbarkeit ist vorbildlich und viele langjährige Druckfehler sind korrigiert. Das Vorwort (dt/fr/en) fasst gut zusammen, wie es zu diesem Werk kam und welche Bedeutung die chromatische Harfe hatte. Die Bemerkungen (dt/fr/en) sind sehr detailliert und informativ.

Mir liegt die Studienpartitur vor; es ist ferner ein Klavierauszug erhältlich (HN 1584). Angenehm ist, dass der Harfenpart frei von Fingersatz- oder Pedalvorschlägen ist, denn diese werden durch die Harfenisten individuell umgesetzt.

Claude Debussy: Danses, für Harfe und Steichorchester, hg. von Peter Jost, Studienpartitur, HN 7584, € 11.50, G. Henle, München

Bomben und Kursäle

Mathias Gredig beschäftigt sich in diesem manchmal etwas abschweifenden Buch mit der futuristischen Geräuschkunst.

Luigi Russolo (li) und sein Assistent Ugo Piatti mit den Intonarumori, Mailand 1913. Wikimedia commons

Am 21. April 1914 wurden im Teatro Dal Verme in Mailand die futuristischen Intonarumori vorgestellt. Diese Geräuschmaschinen Luigi Russolos stiessen allerdings beim Publikum auf wenig Verständnis. Beim zweiten Stück, Si pranza sulla terrazza del Kursaal, einer vom Titel her doch eher idyllischen Szenerie, kam es zu einem tumultartigen Aufstand. Auch Italien hatte damit seinen Skandal, er blieb jedoch weitaus weniger bekannt als jene bei Strawinskys Sacre oder beim Wiener Watschenkonzert 1913. Ja, er hat etwas Pittoreskes.

Das Thema drängte sich geradezu auf bei einem Musikwissenschaftler, der über Tiermusik promovierte und sich seit geraumer Zeit der musikalischen Umgebung von Hotels und Kurorten widmet: Mathias Gredig. Ausgehend von jenem Skandal fächert er auf, in welchem kontrastreichen Umfeld der Futurismus zu verstehen ist, nicht bloss als grenzensprengende Kunst, sondern auch als eine, die sich als Teil der Tradition versteht. So wehrte sich Russolo etwa vehement dagegen, seine Geräusche naturalistisch zu verstehen. Der Kritiker Agostino Cameroni erhielt dafür eine Ohrfeige.

In siebzehn Kapiteln gelingt es Gredig, Russolos Schaffen zwischen den Extremen einzuordnen, zwischen friedlicher Hotellobby und der Kriegsbegeisterung Marinettis, des Begründers des Futurismus, zwischen angenehmer Klanglichkeit und Geräuschorgie, zwischen Zurückgezogenheit und Provokation. Russolos Radikalität war vielleicht doch nicht so radikal, sondern auch ein Biografem, wie damals nicht ganz unüblich.

Man muss wohl die Kunst der Digression lieben, um das Büchlein ganz geniessen zu können. Gerne schweift Gredig ab, um sich zum Beispiel ins Risottokochen oder ins Bombenwerfen zu vertiefen. Manchmal gerät er ins Spekulieren, manchmal ist er ein wenig schnellzügig unterwegs, da möchte man noch ein paar zusätzliche Erläuterungen, und ein paar Mal ist er doch etwas gar salopp, beispielsweise wenn er von getöteten Musikern schreibt, sie seien im Sarg gelandet. Eine untergründige Ironie ist fast durchwegs spürbar, etwa gegenüber dem anfangs gar nicht so antifaschistischen Toscanini.

Am Schluss steht eine zerstörte Idylle: die zersplitterten Musikinstrumente im Hotel Kursaal Diana in Mailand nach der Explosion am 23. März 1921.

Mathias Gredig: Grandhotels, Risotto und Bomben, Geschichte der futuristischen Geräuschkunst, Fröhliche Wissenschaft 232, 173 S., € 15.00, Matthes & Seitz, Berlin 2024, ISBN 978-3-7518-3012-6

Etüdenzyklen von Camille Saint-Saëns

Letztlich gehören die Stücke aus Opus 52 und 111 wohl eher zur Übe- als zur Vortragsliteratur. Dort aber bieten sie wertvolle Möglichkeiten.

Das Wunderkind Camille Saint-Saëns mit 11 Jahren, als es vermutlich selber Etüden spielte. Anonyme Zeichnung, erstmals publiziert 1846 in «L’illustration». Wikimedia commons

Der Bärenreiter-Verlag hat sich in den letzten Jahren unter anderem auch sehr um das französische Klavierrepertoire gekümmert. So erschienen in rascher Folge zahlreiche Neuausgaben mit Werken von Debussy, Ravel, Satie, Fauré, Chabrier, Vierne und Camille Saint-Saëns. Von Letzterem jüngst nun auch die beiden Etüdensammlungen op. 52 und op. 111.

Jedes Heft umfasst dabei sechs ganz unterschiedliche Nummern, was vielleicht auf das Vorbild Bach verweist, der ja seine Suiten gerne in Sechsergruppen zusammenfasste. Mit der Gesamtzahl zwölf könnte sich Saint-Saëns aber auch an Chopins Etüden op. 10 oder op. 25 orientiert haben.

An Chopin erinnert jedenfalls manches in der pianistischen Aufgabenstellung. Da gibt es in Opus 111 gleich zwei Etüden, die sich umfassend mit Terzläufen beschäftigen (diatonisch und chromatisch/gross und klein/rechts und links). Auch Arpeggien, chromatische Skalen und Doppelgriffe unterschiedlichster Art sind omnipräsent.

Aber auch Bach kommt zu Ehren. Denn immerhin drei Nummern tragen den Titel «Prélude et fugue». Die Schulung des polyfonen Spiels war für den Klaviervirtuosen Saint-Saëns offenbar ebenfalls zentral.

Die abschliessende Etüde eines jeden Heftes ist etwas ausgedehnter und vereinigt verschiedene Spielformeln zu einem längeren Konzertstück. In Opus 52 ist das ein brillanter Walzer, während Opus 111 mit einer Toccata schliesst, die sich an das Finale des 5.Klavierkonzertes anlehnt (des sogenannt «ägyptischen»).

Auf den Konzertpodien erklingen die beiden Etüdensammlungen selten bis nie. Das hat wohl seine Gründe. Denn mit Ausnahme der beiden genannten Schlussnummern sind die Stücke auf die Länge nicht wirklich musikalisch fesselnd. Zu sehr liegt der Fokus auf dem rein Pianistischen. Und auch die Fugen überzeugen in ihrem akademischen Tonfall nicht wirklich. Als Übematerial für bestimmte technische Herausforderungen sind Saint-Saëns’ Etüden jedoch reichhaltige Fundgruben. Besonders Nr. 2 aus dem ersten Heft (Pour l’indépendance des doigts) bietet originelle und knifflige Aufgaben …

In diesem Zusammenhang sind auch seine Etüden op. 135 zu erwähnen, die sich ausschliesslich mit der linken Hand beschäftigen. Zu allen drei Sammlungen hat Herausgeberin Catherine Massip ausführliche und lesenswerte Einführungen geschrieben. Darin geht es um die Entstehungsgeschichte, die Widmungsträger, die Interpretation und die Rezeption der Werke.

Wer dem Komponisten Saint-Saëns musikalisch näherkommen möchte, sollte sich aber vielleicht eher mit seiner Kammermusik befassen.
Seine Violin- und Cellosonaten, vor allem aber auch seine beiden Klaviertrios op. 18 und op. 92 sind wirkliche Meisterwerke, die in unseren Breitengraden immer noch zu wenig gewürdigt werden.

Camille Saint-Saens: Six Etudes pour piano, Premier livre op. 52, hg. von Catherine Massip, BA 11854, € 21.95, Bärenreiter, Kassel

Id.: Deuxième livre op. 111, BA 11855

Französischer Jugendstil

Die beiden Violinsonaten von Camille Saint-Saëns gehören mit denjenigen von Franck und Fauré zu den wichtigsten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Camille Saint-Saëns, gemalt von Benjamin Constant 1898. Musée de la Musique, Paris/Wikimedia commons

Die späten Violinsonaten von Camille Saint-Saëns sind bald nach ihrer Entstehung ins Repertoire der besten Musiker aufgenommen worden. Die erste, 1895 geschrieben, uraufgeführt vom Komponisten mit dem Violinisten Otto Peiniger in England im selben Jahr, ist ausserordentlich virtuos. Sie ist offensichtlich für den Konzertsaal geschaffen, hat manchen träumerischen Moment und wirkt mit ihren vier abwechslungsreichen Sätzen leichtfüssig.

Die zweite Sonate, 1896 während einer langen Reise in Ägypten entstanden, ist tiefgründiger und eignet sich als Kammermusik. Saint-Saëns hat sie zusammen mit seinem Freund Pablo de Sarasate anlässlich seines fünfzigsten Bühnenjubiläums in der Salle Pleyel uraufgeführt. (1846 war er als 10-Jähriger dort erstmals aufgetreten.)

Beide Sonaten fussen noch auf der traditionellen viersätzigen Form, auch innerhalb der Sätze hört man das klassische Schema deutlich heraus, hier aber fantasievoll erweitert. Harmonisch fallen die kühnen Modulationen auf, die sich im Notenbild mit vielen Vorzeichenwechseln manifestieren. Rhythmisch lässt sich Saint-Saëns gern von antiken Sprachmetren inspirieren, und die Zwiegespräche der beiden Parts sind wechselvoll gleichberechtigt singend – perlend.

Hier eine kleine Beschreibung der zweiten Sonate: Dem punktierten männlichen Hauptthema folgt ein wellenförmiges weibliches Gegenthema und ein seufzendes, dann sich aufbäumendes Schlussthema. In der kurzen Durchführung verschränkt Saint-Saëns die drei und steigert sie virtuos zu einem Höhepunkt, aus dem die Reprise donnert, deren neue Überraschungen in eine fulminante Coda münden. Das witzige synkopische Scherzo hat ein ruhiges bachsches Fugato-Trio. Das dreiteilige Andante mit seinem gedehnt mystischen Gesang, der fein-melismatisch begleitet wird, ist aufgelockert mit einem 3/8-Allegretto-Mittelteil. Ein graziöses Rondo-Finale beginnt harmlos, steigert sich zu aufsteigenden Vogelrufen, die die Sonate fröhlich abschliessen, und erinnert im Mittelteil an ein Motiv aus dem ersten Satz.

Der grosse Notensatz ist ganz unbelastet von herausgeberischen Zusätzen und wendefreudlich. Die Vorwörter der Herausgeber (französisch, englisch, deutsch), aus denen ich die Informationen geschöpft habe, sind insofern wertvoll, weil sie viele Briefe von Saint-Saëns zitieren, die auch Tipps für die Interpretinnen und Interpreten enthalten.

Camille Saint-Saëns: Sonate Nr. 1 für Violine und Klavier d-Moll op. 75, hg. von Fabien Guilloux und François de Médicis, BA 10957, € 31.95, Bärenreiter, Kassel

Id.: Sonate Nr. 2 in Es-Dur op. 102, BA 10958, € 28.95

Fesselnde Fahrt ins Blaue

Sechs Jahre nach ihrem letzten Album veröffentlicht das zehnköpfige Luzia-von-Wyl-Ensemble seinen neusten Musikstreich «Frakmont». Ein Hörerlebnis, getragen von ungestillter Neugier.

Luzia von Wyl und ein Teil des Ensembles. Foto: zVg

Luzia von Wyl, geboren 1985, hat in Zürich, Bern und ihrer Heimatstadt Luzern Klavier und Komposition studiert und bringt ihre Projekte am liebsten selbst auf die Bühne. Die Künstlerin wird insbesondere mit dem sogenannten Third Way in Verbindung gebracht, einer Stilrichtung, die Jazz mit Neuer Musik verbindet.

Schon ihr Debüt Frost (2014) veröffentlichte sie gemeinsam mit ihrer Formation, dem Luzia-von-Wyl-Ensemble. Mittlerweile sind weitere Alben dazugekommen, zuletzt 2024 Frakmont. Dessen Titel spielt auf den volkstümlichen Namen des Pilatus an. Aufgezeichnet haben sie sieben Tracks 2021, inmitten der Corona-Pandemie. Das Werk ist in von Wyls neu gegründetem Label LU-Records erschienen, das der in Luzern und New York lebenden Musikerin künstlerische Kontrolle verspricht und ihr auch erlaubt, sowohl Aufnahmen wie auch Partituren zu publizieren.

Herausfordernd und beeindruckend

Bereits beim ersten Track, Thunder, drückt ihr Flair für Rhythmus, ungerade Taktarten und Emotionalität durch: Was mit ein paar Jingle-Takten beginnt, die wie Einspieler aus einer Nachrichtensendung wirken, nimmt rasch Fahrt auf und verfolgt vielschichtige Pfade – vom donnernden Orchester über verträumte Pianopassagen bis hin zum furios gesetzten Schlusspunkt durch das Schlagzeug von Lionel Friedli.

Weitere Kompositionen wie Mulino, bei dem sich Streicher, Akkordeon und eine Marimba sorgsam abtasten, oder das kapriziöse Ronk, das treibende Rockrhythmen mit frei geformten Klavierintermezzi kombiniert, reissen den Zuhörer mit auf eine Fahrt ins Blaue, die durch wechselnde Klanglandschaften zirkelt. Das ist herausfordernd und beeindruckend zugleich.

Das verbindende Element sind die Rhythmen, die stets aufs Neue fesseln, innovativ sind und auch für ein in den Bergen handelndes Filmdrehbuch herhalten könnten. Frakmont ist ein überaus dynamisches Hörerlebnis, das von Luzia von Wyls ungestillter Neugier zeugt und ihre ungebrochene Leidenschaft zeigt.

Luzia von Wyl Ensemble: Frakmont. Luzia von Wyl, Kompositionen und Klavier; Gary Versace, Akkordeon; Amin Mokdad, Flöte; Nocola Katz, Klarinette; Marcel Lüscher, Bassklarinette; Maurus Conte, Posaune; Vincent Millioud, Geige; Karolina Öhman, Cello; Christoph Utzinger, Kontrabass; Fabian Ziegler, Marimba und Donnerblech; Lionel Friedli, Schlagzeug. LU Label LU01

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