Vorstandswechsel bei der Allgemeinen Musik-Gesellschaft Zürich
Ende 2022 hat sich der Vorstand der Allgemeinen Musik-Gesellschaft Zürich neu aufgestellt. Heinrich Aerni wurde zum Präsidenten gewählt.
PM/SMZ
- 25. Jan. 2023
Ende 2022 konstituierte sich der Vorstand der Allgemeinen Musik-Gesellschaft Zürich (AMG) neu. Heinrich Aerni (Zentralbibliothek Zürich) wurde als Nachfolger von Inga Mai Groote (Universität Zürich) zum Präsidenten gewählt, Esma Cerkovnik (Universität Zürich) ist neue Vizepräsidentin. Aktuariat, Archiv und Bibliothek betreut Eva Martina Hanke, das Quästorat Angelika Salge (beide Zentralbibliothek Zürich). Zum Beisitz zählen Enrico Fischer, Veronika Frey, Claire Genewein, Susanne Hess, Ulrike Thiele (Tonhalle-Gesellschaft Zürich) und Andrea Wiesli.
Die AMG entstand im Jahr 1812 aus einem Zusammenschluss von Collegia Musica, die ins frühe 17. Jahrhundert zurückreichten.
Arion auf dem Delphin im unteren Seebecken vor dem Panorama der Stadt Zürich. Radierung von Johannes Meyer, gedruckt auf dem ersten Neujahrsblatt der Gesellschaft ab dem Musiksaal (1685), einer Vorgängergesellschaft der AMG. (Bild: Zentralbibliothek Zürich)
Das 10. Forum Musikalische Bildung
Mit den Dachthemen Digitalisierung und Inklusion widmete sich das 10. FMB vom 20./21. Januar 2023 brennenden Bildungsfragen.
Niklaus Rüegg
- 25. Jan. 2023
Das Trio Pilgram spielte zur Eröffnung des 10. Forums Musikalische Bildung. Foto: Anne Fröhlich FRAME PHOTOGRAPHY
Das Forum Musikalische Bildung (FMB) war 2022 «coronabedingt» – man mag es kaum noch hören – um ein Jahr verschoben worden. Drei Jahre sind also seit der letzten Ausgabe verstrichen. Am 20. und am 21. Januar dieses Jahres war es wieder so weit. Im November 2007 von Hector Herzig, dem damaligen Präsidenten des Verbandes Musikschulen Schweiz (VMS), ins Leben gerufen, fand es bis 2012 jährlich statt, danach alle zwei Jahre (siehe Geschichte des FMB). Der Gründer hatte viel Herzblut und Idealismus in dieses Forum gesteckt und machte es zum Aushängeschild des Verbands. Schade, dass Herzig nicht erschien und sich bei der zehnten Durchführung feiern liess; befremdlich auch die Tatsache, dass er mit keinem Wort erwähnt wurde.
Digitalisierung hat Höhepunkt überschritten
Der neue VMS-Präsident Philippe Krüttli durfte eine stattliche Zahl an Teilnehmenden begrüssen und übergab dann das Wort der Moderatorin des Anlasses, Myriam Holzner. Der erste Keynote-Referent, der Futurist Joël Luc Cachelin, hatte schon am FMB 2018 zum Thema Digitalisierung und Bildung gesprochen. Damals wurde die Digitalität im Unterricht vielerorts noch als etwas Bedrohliches wahrgenommen. Die Pandemie hat auf diesem Gebiet beschleunigend gewirkt, und manches ist inzwischen zum selbstverständlichen Teil des Unterrichtsalltags geworden. Cachelin wollte sich nicht auf eine Überprüfung seiner damaligen Prognosen einlassen. Viel lieber warf er einen erneuten Blick in die Zukunft – oder besser in verschiedene Zukünfte, die er nach Farben kategorisierte. Die pinke Zukunft zum Beispiel fragt nach dem Umgang mit unseren Fähigkeiten, die zunehmend von intelligenten Antwortmaschinen und Chatboxen konkurrenziert werden. In der grünen Zukunft geht es darum, intelligent mit Ressourcen umzugehen und die Nachhaltigkeit zu optimieren.
Und wo stehen wir heute in der Digitalisierung? Gemäss dem Zyklenmodell des russischen Wirtschaftswissenschaftlers Nikolai Kondratjew (1892–1938), führte Cachelin aus, habe die Digitalisierung ihren Höhepunkt bereits hinter sich. Heute gehe es noch darum, unfertige digitale Kreisläufe zu schliessen und die Sicherheit im Netz zu optimieren. Am Wesen der musikalischen Bildung wird sich im Grunde nichts ändern. Kreativität und Selbstwirksamkeit sind hier auch in Zukunft durch nichts zu ersetzen. Neuerungen sieht der Referent hingegen auf dem Gebiet der digitalen Hilfsmittel und beim Zusammenspiel von musizierenden Menschen und Maschinen (neue Instrumente, Robotik).
Netzwerke ersetzen Systeme
Den Begriff «digitale Transformation» gebe es erst seit 2014, erklärte Andréa Belliger, Prorektorin an der Pädagogischen Hochschule Luzern und Direktorin am Luzerner Institut für Kommunikation und Führung in ihrem Referat. Sie wies auf einen grundlegenden Unterschied hin: «Die digitale Transformation ist ein gesellschaftlicher Veränderungsprozess. Er verändert Normen und Haltungen und ist mehr als Digitalisierung.» Die Technologie erlaube eine hohe Konnektivität, welche gerade für das Bildungssystem eine grosse Herausforderung darstelle. Unzählige Do-it-yourself-Lehrpersonen fluteten das Netz mit E-Learning-Kursen. «Flipped classroom», «seemless learning» oder adaptives Lernen seien nur einige der vielen Stichworte dazu. Plattformen wie moog.org oder khanacademy.org böten umfassende Angebote an didaktisch perfekt aufbereiteten, kostenlosen Online-Kursen an, welche ein selbst gesteuertes und partizipatives Lernen erlaubten. Belliger ortete einen Paradigmenwechsel der Lehr- und Lernformen: «Wir stehen im Übergang zwischen System und Netzwerk.» Institutionen, dazu gehörten auch Musikhochschulen, müssten sich unter diesen Prämissen die grundlegende Frage nach ihrer Aufgabe stellen.
VMS-Präsident Philippe Krüttli und Valentin Gloor, Rektor der Hochschule Luzern Musik, führten durch die Diskussion. Foto: Anne Fröhlich FRAME PHOTOGRAPHY
Wie wird in der Schweiz Musik gelernt?
Valentin Gloor, vor vier Jahren noch Vorstandsmitglied des VMS, heute Direktor der Musikhochschule Luzern (HSLU) und Vizepräsident der Konferenz Musikhochschulen Schweiz, gab zusammen mit Philippe Krüttli einen Abriss über das breit angelegte Forschungsprojekt «Musiklernen Schweiz». (Die SMZ hat berichtet) Unter dem Vorsitz von Marc-Antoine Camp, dem Leiter des Kompetenzzentrums Forschung Musikpädagogik an der HSLU, und in Zusammenarbeit mit dem VMS sowie 37 Fachverbänden und Institutionen der Musikbildung wurde die ausserschulische Musiklernlandschaft der Schweiz untersucht.
Gloor brachte das Ziel der Studie auf den Punkt: «Wir wollten wissen, wohin es uns treibt.» Acht Handlungsfelder haben sich am Ende ergeben. Dazu gehören Angebote für Kinder im Vorschulalter, Zusammenarbeit mit der Volksschule, die Talentförderung, musikalische Angebote über alle Altersgruppen hinweg, Erweiterung des musikpädagogischen Berufsprofils. Letzteres wird demnächst in der Neufassung des entsprechenden VMS-Dokuments Eingang finden. In der anschliessenden Diskussion kamen die Zusammenarbeit mit der Volksschule sowie das Berufsprofil zur Sprache. Beim Thema Volksschule herrschte Konsens über ein anzustrebendes Zusammenrücken der Institutionen. Das zweite Thema hängt mit dem ersten zusammen, denn es fehlen weitgehend Ausbildungsgänge, die Instrumentallehrpersonen für den Unterricht an der Volksschule befähigen. Andererseits mangelt es zunehmend an musikalischer Unterrichtskompetenz der neu ausgebildeten Volksschullehrpersonen.
Jeder Mensch hat Beeinträchtigungen
Der zweite Tag war mit fünf Referaten und einer Diskussionsrunde reich befrachtet. Ausserdem wurde noch der Best-Practice-Wettbewerb vom Vortag zu Ende gebracht. Schulleiter Sandro Häsler durfte sein erfolgreiches Kompositionsprojekt für Lernende, «Meine Musik», präsentieren. Laurent Gignoux von der Musikhochschule Bordeaux stellte zwei sozial motivierte Orchesterprojekte an französischen Schulen vor. «Orchestre en classe», eine Art Klassenmusizieren, wird seit 1999 betrieben und umfasst heute 40 000 beteiligte Kinder. 2010 wurde von der Cité de la musique – Philharmonie de Paris «DÉMOS, Dispositif d’Éducation Musicale et Orchestrale à vocation Sociale» gegründet; es richtet sich an Kinder aus sozial oder kulturell benachteiligten Stadtvierteln bzw. ländlichen Gebieten. Das Projekt läuft heute in dreizehn Départements mit insgesamt zirka 10 000 Teilnehmenden.
Babette Wackernagel stellte ihre private Musikschule «Musik trotz allem» für Menschen mit Behinderung vor. De facto seien Menschen mit Beeinträchtigungen heute vom musikalischen Bildungskanon ausgeschlossen, weil es auf diesem Gebiet kaum Weiterbildungen gebe und sich Musiklehrpersonen folglich scheuten, sich auf diese Menschen einzulassen. Wackernagel appellierte an die Unvoreingenommenheit gegenüber dem Unterrichten behinderter Menschen.
Christoph Brunner, Beauftragter für Chancengleichheit und Inklusion an der Hochschule der Künste Bern, relativierte den Behindertenbegriff und machte deutlich, dass auch nicht behinderte Menschen im Alltag auf Schritt und Tritt Beeinträchtigungen erleben und Defiziterfahrungen machen. Er wies darauf hin, dass das Behindertengleichstellungsgesetz der Schweiz und auch die Uno-Behindertenrechtskonvention noch nicht umgesetzt seien.
Einen beeindruckenden Auftritt hatte Felix Klieser. Der international tätige Horn-Solist und Dozent an der Musikhochschule Münster hat keine Arme. Er berichtete von seinem Werdegang zum Berufsmusiker. Ihn stört vor allem die Defizitorientierung im Umgang mit Menschen mit Behinderung. Die Kunst des Unterrichtens bestehe darin, jede Person zu verstehen und herauszufinden, wie ein Problem zu lösen sei. Das gelte genauso für Behinderte wie Nichtbehinderte. Den Begriff «Inklusion» möge er gar nicht, weil er impliziere, dass die Menschen, die damit gemeint sind, etwas nicht können.
Jacques Cordier vom Conservatoire de Grenoble hat sich auf die Konstruktion von Instrumenten spezialisiert, die auch mit starken Behinderungen bedient werden können. Er entwickelt Schnittstellen-Systeme, die zwischen Mensch und Instrument zur Anwendung kommen, zum Beispiel elektromagnetische Schlägel und Tasten, die mit verschiedenen Körperteilen betätigt werden können. Im wie immer hochstehenden musikalischen Rahmenprogramm war mit dem Tabula Musica Orchester ein Ensemble mit behinderten und nicht behinderten Musizierenden zu erleben. Hier wurden solche Konstruktionen live eingesetzt.
(Die Schweizer Musikzeitung ist Medienpartnerin des FMB.)
Das 2017 gegründete Tabula Musica Orchester ist in Bern beheimatet. Foto: Anne Fröhlich FRAME PHOTOGRAPHY
Basel Composition Competition 2023
Vom 9. bis zum 12. Februar findet in Basel die vierte Basel Composition Competition statt. Es sind 12 Kompositionen nominiert.
PM/SMZ
- 24. Jan. 2023
Die drei Preisträger 2021. Foto: Olivia Brown
Die Ausschreibung der vierten Basel Composition Competition hat sich an alle Komponierenden gerichtet, es gab keine Altersbeschränkungen oder Bildungsvorschriften. Die drei besten Kompositionen werden mit Geldpreisen ausgezeichnet (60 000 Franken für den ersten, 25 000 Franken für den zweiten und 15 000 Franken für den dritten Preis).
Lediglich 14% der Einreichungen stammten von Frauen. Deshalb soll ein Vermittlungsprojekt des Wettbewerbs helfen, neue Rollenmodelle zu schaffen. Zudem besteht bereits seit der ersten Competition im Jahr 2017 ein weiteres Vermittlungsprojekt, das Schülerinnen und Schülern mit dem Metier des Komponierens vertraut machen will.
Die Jury besteht diese Jahr aus Michael Jarrell (Präsident), Rebecca Saunders, Isabel Mundry, Andrea Scartazzini, Toshio Hosokawa und Florian Besthorn.
Alle Konzerte können über in einen kostenlosen Live-Stream mitverfolgt werden.
An den Konzerten vom 9. bis 11. Februar sind Werke zu hören von: Masato Kimura, Steven Heelein, Leonardo Silva, Jinhan Xiao, Carlos Satue, Kotaro Morikawa, Masashi Kawashima, Jinseok Choi, John Weeks, Valerio Rossi, Gijsbrecht Roijé, Nana Kamiyama.
«Aufbruch» oder französisch «renouveau» ist das Thema der ersten Nummer im Redesign von Harriet Messing. Die Artikel dieser Ausgabe spüren dem ständigen Aufbrechen in neue Gefilde nach, ebenso der Frage, welche Rolle Musik in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche spielen kann. Das Titelfoto von Holger Jacob zeigt Mario Batkovic.
SMZ
- 18. Jan. 2023
Titelbild Ausgabe 1_2/2023
Inhaltsverzeichnis
Focus
«Ich bin aufgebrochen worden» – Interview mit Mario Batkovic
Die Erneuerung der Gitarre geht weiter – Aktuelle kompositorische und pädagogische Strömungen
Ausbruch oder Aufbruch? – Multimediales Komponieren
Iran: Frauen singen um die Freiheit – Bewahrerinnen des kulturellen Erbes trotz Auftrittsverbot
Musik darf laut sein. Oder leise. Aber bitte immer eindringlich! – Plädoyer für radikale künstlerische Antworten zu Fragen unserer Zeit
(kursiv = Zusammenfassung in Deutsch des französischen Originalartikels)
Urs Joseph Flury ist nicht nur als Geiger und Komponist bekannt, er ist so etwas wie das musikalische Gedächtnis der Schweizer Musikszene des 20. Jahrhunderts.
Ulrich Lips
- 28. Mai 2021
Urs Joseph Flury 2011. Foto: zVg
Die Hauptaktivität von Flurys Vater, dem Spätromantiker Richard Flury (1896–1967), fiel in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts mit unzähligen Kontakten, ja oft Freundschaften zu Komponisten und Interpreten aus dem In- und Ausland. Über diese Erlebnisse pflegte er einen regen Austausch mit seinem Sohn Urs Joseph, geboren 1941. In späteren Jahren war dieser bei vielen Begegnungen selber dabei; besonders geprägt hat ihn die Begegnung mit Pablo Casals.
Deshalb reicht das (hervorragende) Gedächtnis von Flury weit zurück. Und so kommt es, dass er Details aus der Schweizer Musikszene äusserst genau kennt: Wann verliess Scherchen das Winterthurer Orchester, wer von den Orchestermusikern wechselte mit ihm nach Zürich? Welches waren die (pikanten) Begleitumstände von Max Regers Klavierrezital in Lausanne? Wie verlief die tragisch endende Beziehung zwischen Maria Schell (sie ging im Hause Flury ein und aus) und dem Geiger Georg Kulenkampff? – Tausende solcher Details kennt Flury und erzählt sie bei Gelegenheit. Für Fragen aus diesem Zeitraum wird Flury von allen Seiten kontaktiert. Unzählige Male wurde er schon aufgefordert, darüber ein Buch zu schreiben. Denn ausser ihm – und nach ihm – wird das niemand mehr wissen.
Entdecker und Bewahrer
Flury war immer fasziniert und beeindruckt von Künstlern, die in mehreren Sparten tätig waren, «Doppelbegabungen», wie er sie nennt. Darunter sind allgemein Bekannte: E. T. A. Hoffmann, Jean-Jacques Rousseau oder Kaiser Joseph I. von Habsburg. Aber wer wusste schon von der musikalischen Begabung von Arthur Schnitzler, Annette von Droste-Hülshoff, dem Clown Grock, dem Freiheitskämpfer und Aufklärer Tadeusz Kościuszko und vielen anderen, bevor Flury deren Werke ausgrub, aufführte und auf CD einspielte?
Durch diese Entdeckungen bewahrte er unzählige Werke vor dem endgültigen Vergessen. Besonders aktiv war er diesbezüglich bei Solothurner Komponisten: So bearbeitete und edierte er Werke von u. a. Alois Glutz von Blotzheim, Casimir Meister, Edmund Wyss und Dino Ghisalberti, dessen Werkverzeichnis er erstellte. Über sein musikalisches Gebiet hinaus hat Flury mit der Herausgabe eines Gedichtbandes im Jahre 2005 das Werk der Solothurner Lyrikerin Olga Brand (1905–1973) gesichert.
Ganz besonders liegt ihm das Werk seines Vaters am Herzen, das ist sein eigentlicher Lebensinhalt. Unzählige Stücke, zum Teil ihm gewidmet, hat er als Geiger gespielt und uraufgeführt, ebenso viele instrumentiert, dirigiert und auf CD eingespielt. Mit der Gründung der Richard-Flury-Stiftung im Jahr 1996 hat er die Grundlage geschaffen, dass die Förderung dieses Werks breiter abgestützt und nachhaltig betrieben werden kann (www.richardflury.ch).
Eine grosse Leidenschaft Flurys sind historische Aufnahmen, besonders von Geigern. Er besitzt wohl die grösste Sammlung von Einspielungen des Geigers Fritz Kreisler (auch als Pianist!), aber auch von Jacques Thibaud, Aldo Ferraresi, Alfredo Campoli, Gabriella Lengyel und Georg Kulenkampff. Viele Labels verdanken ihm die Herausgabe von Aufnahmen. Der Fonoteca nazionale in Lugano hat Flury Dutzende von historischen Aufnahmen übergeben.
Komponist, Geiger und Dirigent
Urs Joseph Flury 1966. Foto: zVg
Flurys Œuvre (www.ujflury.ch) umfasst Vokal- und Orchesterwerke, Instrumentalkonzerte sowie Kammermusikwerke in den verschiedensten Besetzungen. Mit der Musik zum Märchen Die kleine Meerjungfrau (1979) sind Generationen von Solothurner Kindern aufgewachsen, und es fanden unzählige Aufführungen statt, mit und ohne Ballett. Markante Akzente setzten die geistlichen Werke auf Texte von Beat Jäggi (Soledurner Wiehnechtsoratorium und Passion in Solothurner Mundart) sowie in jüngster Zeit die Auftragskompositionen der Kantorei Solothurn, The frozen people und Vier Lieder zum Jahreszyklus. Als sein bestes instrumentales Werk betrachtet er die sinfonische Dichtung Vineta. Flurys Cellokonzert existiert mit dem Solisten Pierre Fournier auf CD, die Violinsolosonate mit Ruggiero Ricci, das Violinkonzert in D mit Alexandre Dubach. Das Romantische Klavierkonzert (mit Margaret Singer) ist «Dauerbrenner» bei Radio Swiss Classic. Viele Kammermusikkompositionen sind gedruckt.
Schüler von Walter Kägi und Hansheinz Schneeberger, wirkte Flury ab den Sechzigerjahren als gefragter Solist und Kammermusiker. 1966/67 war er Konzertmeister der Camerata Biel und 1965–1968 Mitglied des Basler Kammerorchesters. Als Violinlehrer unterrichtete er 1967 an den Stadtschulen, von 1968 bis 1998 an der Kantonsschule Solothurn. Von 1967–1972 war er Violin- und Theorielehrer am Konservatorium Biel.
Seit 1971 leitet er das Solothurner Kammerorchester, von 1970–2016 stand er auch dem Orchestre du Foyer Moutier vor. In seinen Programmen vermeidet er die «grossen» Werke, die jeder Musikliebhaber bestens kennt und die von einem Amateurorchester in aller Regel nicht wirklich beherrscht werden. Viel lieber setzt er auf Raritäten grosser Meister oder Werke von Solothurner Komponisten, meist als Erstaufführungen und oft für die Erfordernisse des Orchesters instrumentiert oder bearbeitet.
Für seine umfassende musikalische Tätigkeit wurde Urs Joseph Flury 2016 der Kunstpreis des Kantons Solothurn zugesprochen.
Das Walter-Furrer-«Revival»
In den letzten sechs Jahren konnten etliche Werke aufgeführt werden, es entstanden CDs und eine Masterarbeit. Den Startschuss für die neuerliche Beschäftigung mit dem Komponisten gab ein Artikel in der «Schweizer Musikzeitung», treibende Kraft ist Beatrice Wolf-Furrer.
Im Juni 2012 hatte ich, aus einer Art Pflichtgefühl heraus, den musikalischen Nachlass meines Vaters, des Schweizer Komponisten Walter Furrer (1902–1978), der Burgerbibliothek Bern im Rahmen eines Schenkungsvertrages übergeben. Seine musikalische Produktion hatte ihm zu Lebzeiten zwar gelegentliche Anerkennung, aber nie einen Durchbruch im eigentlichen Sinne eingebracht. Nur zwei Jahre nach der Schenkung war mir wie selbstverständlich die Aufgabe zugewachsen, seine Werke zu neuem Leben zu erwecken.
Die grosse Frage: Wie beginnen? Ich war schon seit Längerem im Besitz einer Kopie des autobiografischen Aufsatzes Meine Studienjahre in Paris. Ich las ihn zum ersten Mal genau durch, merkte, dass er gut und dazu mit einer ganz eigenen furrerschen Prise Humor geschrieben war; was lag näher, als ihn der Schweizer Musikzeitung anzubieten! So kam es im November 2014 zur Publikation eines besonders süffigen Ausschnitts. Der Aufsatz als Ganzes wurde ins Netz gestellt. Und er brachte mir sogar einige Reaktionen von Lesern ein, denen Walter Furrer noch ein Begriff war.
Die Schweizer Musikzeitung unterstützte meine Arbeit weiterhin, indem sie die Interviews ins Netz stellte, die ich 2015 mit folgenden Personen führte, die Walter Furrer noch gekannt hatten:
«Wende dich an die Hochschulen der Künste», rieten mir Freunde und Bekannte. Das tat ich schweizweit – ohne Erfolg. Aber ich bekam dabei den wertvollen Tipp, mit dem Berner Kammerorchester Kontakt aufzunehmen. Dadurch lernte ich dessen damaligen Geschäftsführer, Beat Sieber, kennen (heute ist er Intendant der Kammerphilharmonie Graubünden). Schon nach kurzer Zeit – er hatte sich inzwischen in der Burgerbibliothek umgesehen – teilte er mir mit, dass das Berner Kammerorchester im Mai 2017 Walter Furrers Vokalzyklus Sechs Türkische Lieder für Bariton und Kammerorchester (Uraufführung 1971 im Centre de musique contemporaine et de premières auditions, Genf) in sein Themenkonzert Alla Turca einbauen werde.
Das Konzert fand, unter der Leitung von Philippe Bach, am 21. Mai 2017 im Konservatorium Bern statt, die Lieder interpretierte die Mezzosopranistin Claude Eichenberger; die ganze Aufführung wurde von Radio SRF 2 Kultur mitgeschnitten und am 6. Juli 2017 gesendet.
Der Zyklus Türkische Lieder hatte auch in der Folgezeit Glück: Am 15. März 2019 erklang er erneut, und zwar in einem Jubiläumskonzert des Thurgauer Kammerorchesters in Kreuzlingen, am Pult stand der vorwiegend in Deutschland tätige Schweizer Dirigent Tobias Engeli. Wiederum interpretierte eine Sängerin, Barbara Hensinger, die Lieder. Sowohl von der Berner als auch von der Kreuzlinger Erstaufführung existiert eine Netzkritik des Bieler Musikfachmanns Daniel Andres (s. Homepage www.walter-furrer.ch).
Bereits 2015 wurde der Förderverein Komponist Walter Furrer gegründet, mit der Minimalbesetzung von drei Personen: Beat Sieber, Patrick Freudiger und ich. An dieser Form hat sich bis heute nichts geändert. Beat Sieber richtete die genannte Homepage ein, die er seither verwaltet.
Kurz danach besuchte mich der u. a. an der Burgdorfer Musikschule tätige Klarinettist Andreas Ramseier; auch er erwärmte sich für Walter Furrers Musik und half mir, ein erstes Vokalkonzert zu organisieren, an dem neben ihm selbst die Künstlerinnen Barbara Hensinger (Alt), Yvonne Friedli (Sopran) und Barbara Jost (Oboe) sowie der Pianist Andres Joho mitwirkten. Es wurde ab 2017 dreimal in der Schweiz und zweimal in Deutschland aufgeführt; so bot sich auch Gelegenheit, in Plauen im Vogtland, dem Geburtsort des Komponisten, erstmals auf ihn aufmerksam zu machen.
Musikwissenschaftliches Institut der Universität Bern
Im Dezember 2016 hielt Cristina Urchueguía am Musikwissenschaftlichen Institut der Uni Bern das editionsphilologische Seminar «Den Schweizer Komponisten Walter Furrer vor dem Vergessenwerden bewahren»; aus diesem Seminar gingen zwei weiterführende Arbeiten hervor:
• Walter Furrers in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts entstandene kleine Komposition Nahtegal, guot vogellîn für Kammerchor, Viola, Gitarre, Blockflöte und Tamburin (Text: Heinrich von Stretelingen, 1258–1294) wurde von der Lautenistin Irina Döring für Laute, Flöte, Akkordeon und Sopran arrangiert und in dieser Form vom Ensemble Lumières médiévales fünfmal in der Schweiz aufgeführt.
• Eine weitere Teilnehmerin, Tamara Ackermann, griff sich aus dem reichhaltigen Chorœuvre die sogenannten «Arbeiterlieder» heraus, die später zum Thema ihrer Masterarbeit werden sollten.
2018 – Walter Furrers Todestag jährte sich zum 40. Mal – war ein besonders reichhaltiges Jahr:
• Am 17. und 18. März interpretierte die Zürcher Sing-Akademie unter der Leitung von Florian Helgath Walter Furrers seinerzeit im Auftrag des Berner Stadttheaters entstandene und vom Zürcher Musikverlag Hug gedruckte Komposition Drei religiöse Chöre aus Faust I (Goethe; Mater dolorosa, Dies irae, Chorus ad diem festi paschae). Die am 22. Februar 1944 in einer Neuinszenierung von Faust I uraufgeführten Chöre wurden damals zu wenig beachtet und haben nun erst ihre volle Würdigung erlebt (s. Homepage).
• Am 19./20. Juni 2018 kam es bei SRF 2 Kultur zu einer Studioaufnahme, deren Zustandekommen ich dem Musikproduzenten Norbert Graf sowie der Tatsache verdanke, dass Beat Lüthi, damaliger Leiter des Berner Musikverlags Müller & Schade AG, sich zu einer Co-Produktion bereit erklärte. Aufgenommen wurden Teile aus dem genannten ersten Vokalkonzert sowie die Totenklage des Lieschen aus Walter Furrers 1947 am Stadttheater Bern uraufgeführter Oper Der Faun (Ausführende: Yvonne Friedli, Andres Joho).
Den Schluss bildete eine Aufnahme der genannten Chöre aus Faust I, welche die Zürcher Sing-Akademie grosszügigerweise für diese Gedenk-CD zur Verfügung stellte. Diese erlaubt somit einen Einblick in drei wesentliche Bereiche des furrerschen Œuvres: Liedgesang, Oper und Chor-Komposition. Sie kam im Spätherbst 2018 – zusammen mit dem Buch Walter Furrer (1902–1978), ein zu Unrecht vergessener Schweizer Komponist. Ein biografischer Abriss von Beatrice Wolf-Furrer – bei Müller & Schade AG heraus. Noch im gleichen Jahr sendete SRF 2 Kultur unter dem Titel «Zu Unrecht vergessen?» einen Teil der Vokalzyklen, zusammen mit Werken anderer, ebenfalls vergessener Komponisten.
• Ende Augst legte Tamara Ackermann an der Uni Basel ihre Masterarbeit Vision – Die Kompositionsvorstellungen des Schweizerischen Arbeitersängerverbands am Beispiel der Arbeiterlieder von Walter Furrer (1902–1978) vor. Diese Chöre waren seinerzeit vom Schweizerischen Arbeitersängerverband angefordert und zu einem grossen Teil auch verlegt worden. Die Arbeit wird 2021 von der Musikforschenden Gesellschaft der Schweiz gedruckt werden.
• Zu einem ersten durchschlagenden Erfolg in Deutschland kam es am 10. und 12. Oktober 2018 in Reichenbach (Neuberinhaus) und Greiz (Stadthalle): Die Vogtland Philharmonie unter der Leitung von Dorian Keilhack spielte Walter Furrers Scherzo drolatique, das der 1949/52 entstandenen, bisher noch nie aufgeführten zweiten Oper Zwerg Nase (nach dem Kunstmärchen von Wilhelm Hauff) zuzuordnen ist: Es handelt sich um eine 1955 erstellte Konzertbearbeitung des Küchenjungen-Balletts aus dem 4. Bild, die im 20. Jahrhundert mehrfach von schweizerischen Rundfunksendern ausgestrahlt und zudem 1973 in Aachen öffentlich aufgeführt worden war.
• Am 12. Oktober 2018 wurde – zeitgleich mit dem Konzert der Vogtland Philharmonie in Greiz – in der Schwartzschen Villa in Berlin-Steglitz zum fünften und letzten Mal das mehrfach genannte Vokalkonzert aufgeführt.
Aber auch für die Jahre 2019 und sogar 2020 gibt es in Sachen Walter Furrer Nennenswertes zu berichten. Zunächst fand am 6. Juni 2019 in der Burgerbibliothek Bern eine gut besuchte Soiree statt: Im ersten Teil berichtete ich über die bisherigen Aktivitäten, im zweiten erläuterte Tamara Ackermann die Kernpunkte ihrer Masterarbeit und im dritten informierte Andreas Barblan an Beispielen über die furrerschen Archivalien.
In der ersten Hälfte des Jahres 2019 lernte ich den Organisten Matthias Wamser kennen. Er ist als Organist hauptsächlich an der Antoniuskirche Basel tätig, leitet mehrere Chöre, veröffentlicht musikwissenschaftliche Texte und setzt sich aktiv für vergessene Komponisten und Komponistinnen des 19. und 20. Jahrhunderts ein. Die Geistlichen Kompositionen Walter Furrers – es sind, rechnet man Drei religiöse Chöre aus Faust I nicht dazu, nur drei, die dennoch im Gesamtwerk eine signifikante Stelle einnehmen – gefielen ihm spontan, wobei es zunächst nur um das 1973 entstandene Le chiese di Assisi. Nove visioni musicali per organo ging. D
urch mehrfache Besuche in der umbrischen Stadt Assisi lernte der Komponist deren neun Kirchen immer besser kennen und zog ihn die franziskanische Spiritualität zusehends in ihren Bann. Am 13. Oktober 2019, 46 Jahre nach der Uraufführung in der Cathédrale de Lausanne, wurden die Chiese in der Basler Antoniuskirche zu neuem Leben erweckt: Matthias Wamser hatte sie in das Konzert «Orgelmusik auf dem Weg zu Franz von Assisi» mit Werken von César Franck, Charles Tournemire, Franz Liszt und Hermann Suter eingebaut. Am 9. Juli 2020 spielte er sie erneut, und zwar im Rahmen des von Heiko Brosig geleiteten Plauener Orgelsommers in der monumentalen St. Johanniskirche.
Matthias Wamser hatte sich inzwischen auch mit den beiden Psalmen befasst, und so kam es am 22. November 2020 zur Aufzeichnung der drei geistlichen Werke in der Basler Antoniuskirche: der Chiese di Assisi, des Psalm 102 und 27 für Alt, Oboe und Orgel und des Psalm 142 für Sopran und Orgel (Mitwirkende: Barbara Hensinger, Alt; Chelsea Zurflüh, Sopran; Matthias Arter, Oboe; Matthias Wamser, Orgel; Gerald Hahnefeld, Tonaufnahmen, Schnitt und Mastering; Beatrice Wolf-Furrer, Produktion & Copyright). Die CD ist Ende Januar 2021 herausgekommen und kann bei mir über marnac@besonet.ch zum Preis von 20 Franken bezogen werden.
Konzerte
2019 organisierte ich, diesmal selbstständig, ein zweites Vokalkonzert. Es enthielt vier Zyklen (Sechs türkische Lieder für Bariton und Klavier, Sieben Lieder für Sopran und Klavier, Six fables de Lafontaine pour baryton et piano, Sources du vent. Sept mélodies pour soprano et piano), von denen drei im Original von Kammerorchester, einzelnen Instrumenten oder grossem Orchester begleitet sind und nur einer ursprünglich für Stimme und Klavier geschrieben ist. Der Komponist hat allerdings im Hinblick auf kleine Säle für alle drei Klavierversionen eingerichtet, um sie schneller bekannt zu machen. Die beiden Zyklen nach Texten französischer Autoren waren mir wichtig, damit ich auf seine Affinität mit dem französischen Sprach- und Kulturkreis hinweisen konnte: Der zweijährige Kontrapunktunterricht, den Walter Furrer in den Zwanzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts an der Pariser Ecole normale de musique bei Nadia Boulanger absolviert hatte, bestimmte die Entwicklung seiner Kompositionsweise ein für alle Mal.
Dieses zweite Vokalkonzert hatte am 6. Oktober im Basler Schmiedensaal Premiere (Mitwirkende: Delia Haag, Sopran; Benjamin Widmer, Bariton; Tomasz Domanski, Klavier). Es folgten weitere Aufführungen am 6. November 2019 im Bieler Farelsaal (Mitschnitt durch das Tonstudio Gerald Hahnefeld) sowie am 15. März 2020 in Kirchlindach (reformierte Kirche; Walter Furrer ist auf dem dortigen Friedhof begraben). Den Sopranpart hatte inzwischen die Bieler Nachwuchssängerin Chelsea Zurflüh übernommen.
Und dann brach Corona über uns alle herein, und die beiden folgenden Konzerte am 22. März und am 26. Mai 2020 wurden untersagt. Ich verhandelte wochenlang über neue Termine und Lokale – umsonst! Bis es mir schliesslich doch noch gelang, die beiden Veranstaltungen unter strikten Bedingungen (zahlenmässig beschränktes Publikum, Maskenzwang) am 1. November im Langenthaler Bären und am 5. Dezember 2020 im Konservatorium Bern zu «absolvieren». Übrigens mit Bravour! Das jeweils sozusagen handverlesene Fachpublikum wusste es der Künstlercrew zu danken.
Das Jahr 2021 wird vorwiegend folgenden Projekten gewidmet sein:
• der bereits erwähnten Drucklegung von Tamara Ackermanns Masterarbeit;
• der Herstellung von Werbematerial zur Oper Zwerg Nase. Parallel dazu wird eine konzertante Darbietung eines Querschnitts durch die Oper (mit Klavierbegleitung) einstudiert. Beides hat den Zweck, Theater in der Schweiz sowie in Deutschland für das Werk zu interessieren. Es wird erwogen, die genannte Darbietung nach Möglichkeit auch als dramatisches Vokalkonzert aufzuführen;
• der Herausgabe eines Ergänzungsbandes zu meinem Biografischen Abriss. Diese Veröffentlichung wird nur Quellentexte enthalten wie z. B. Äusserungen Walter Furrers über seine Kompositionen, seinen ungekürzten autobiografischen Aufsatz Meine Studienjahre in Paris, aber auch Korrespondenzen, sofern sie die kompositorische Arbeit betreffen, etc. Der Berner Musikverlag Müller & Schade AG – nunmehr von Urs Ruprecht geleitet – verlegt den Band.
Hubert Harry: Begnadeter Lehrer und phänomenaler Interpret
Als Pädagoge schuf er am Konservatorium Luzern eine «Isle joyeuse», als Interpret setzte er in seinen Konzerten verbindliche Massstäbe: Erinnerungen an den am 12. Juni 2010 verstorbenen Hubert Harry.
Patrizio Mazzola
- 23. Juni 2020
Hubert Harry. Foto: hubertharry.com
Geboren und aufgewachsen in der englischen Region Cumbria, seine Mutter war Sängerin, sein Vater Organist und Chorleiter, begann Hubert Harry schon im Alter von zweieinhalb Jahren Klavier zu spielen, und bereits als Vierjähriger präsentierte er Rachmaninows berühmtes Prélude cis-moll. Als Jugendlicher wurde Hubert in seiner englischen Heimat mit diversen wichtigen musikalischen Aufgaben betraut, bis er mit nur 19 Jahren in die Schweiz kam, um beim berühmten Pianisten Edwin Fischer zu studieren. Dieser führte eine Meisterklasse am Luzerner Konservatorium, das zu dieser Zeit erst seit vier Jahren bestand (gegründet 1942, während des Krieges, u. a. vom Luzerner Juristen und Musikkenner Walter Strebi). In Luzern resp. am Vierwaldstättersee in Weggis/Hertenstein durfte Hubert Harry damals noch Rachmaninows Witwe kennenlernen, was ihm als grossem Verehrer dieses Komponisten eine besondere Ehre und Freude war.
Pädagoge
Durch Harrys Leben in Luzern und Kontakt zum dortigen Konservatorium wurde er bereits wenige Jahre später selber Lehrer an diesem Institut, dem er jahrzehntelang beispiellos die Treue halten sollte. Zahllose Klavierstudierende (zu denen auch ich selber gehörte) gingen durch Harrys Schule, die im Laufe der Zeit immer weiter über Luzern hinaus auszustrahlen begann. In seiner Klasse fühlte man sich musikalisch und menschlich so sehr aufgehoben, dass man sich beim Verlassen dieser «Isle joyeuse» erst wieder im profanen übrigen Leben eingewöhnen musste. Auch seine Frau, Heidi Harry, ebenfalls treffliche Pianistin, leistete ihren wesentlichen pädagogischen Beitrag dazu, etwa durch die Betreuung der Methodikkurse. (Sie war u. a. auch Lehrerin der pianistisch ausgebildeten Bundesrätin Sommaruga.)
Interpret
Obwohl das Hauptgewicht von Hubert Harrys musikalischer Tätigkeit in der Pädagogik lag, gab es gelegentlich grosse Konzertanlässe, vorzugsweise in der Schweiz. Diese Konzerte wurden durch ihren Seltenheitswert zu besonderen Höhepunkten, ja oftmals Sternstunden. Glücklicherweise ist vieles davon in gelungenen Aufnahmen dokumentiert und zugänglich. Harrys Programme widmeten sich zur Hauptsache der grossen internationalen Konzertliteratur. Seine Interpretationen der vielgespielten Literatur haben aber den Vergleich mit (sogenannt) weltberühmten pianistischen Grössen nie scheuen müssen – eher das Gegenteil ist der Fall … Mit einzelnen Darbietungen gelang es Harry, verbindliche Massstäbe zu setzen, die kaum mehr erreicht, geschweige denn übertroffen wurden.
Wirkung
Das hier Gesagte mag nun überraschen, wo doch Harrys Wirken eigentlich so eingeschränkt blieb und nie die verdiente umfassende Breitenwirkung erreichte – wohl auch, weil dies für Harry kein Anliegen war in seiner echten Demut und Hingabe an die Musik. Aber wahre grosse Kunst wird sehr häufig vorerst kaum als solche erkannt und erst posthum geschätzt (womit sich Harry freilich in guter Gesellschaft befindet). Ob Harrys verdienter Weltruhm, so er ihm denn wichtig wäre, noch eintrifft, wird sich weisen. Bei den heutigen technisch-digitalen Möglichkeiten wäre es denkbar. Bis dahin bleibt der immerhin wachsende Kreis seiner Gefolgschaft eine privilegierte Gemeinde von Eingeweihten.
Aktuell
Am Samstag, 4. Juli, 11 bis 16 Uhr, veranstaltet die Hochschule Luzern – Musik auf Dreilinden einen Anlass zum Abschied vom dortigen Ort, bevor sie ins neue Gebäude im Südpol Luzern/Kriens umzieht. Patrizio Mazzola wird zum Gedenken an Hubert Harry und Caspar Diethelm, die beide sehr lange an der Schule wirkten, entsprechende Werke spielen und kommentieren.
Ingvar Lidholm, einer der grössten schwedischen Komponisten des 20. Jahrhunderts, starb am 17. Oktober 2017 im Alter von 96 Jahren. Er war nicht nur eine der wichtigen Figuren des schwedischen «Chorwunders», es lassen sich auch Berührungspunkte mit der Schweiz feststellen.
Markus Utz
- 10. Nov. 2017
Der Komponist Ingvar Lidholm ist vor allem in Chorkreisen auch hierzulande bekannt. Er gehörte der Montagsgruppe an, die den Weg bereitete für das sogenannten schwedische Chorwunder. Anregungen holte sich die Gruppe auch in Basel.
Ingvar Lidholm, einer der grössten schwedischen Komponisten des 20. Jahrhunderts, starb am 17. Oktober 2017 im Alter von 96 Jahren. Nach dem Tod von Knut Nystedt (1915-2014) und Einojuhani Rautavaara (1928-2016) geht mit Lidholm ein weiterer, hochbedeutender skandinavischer Komponist des 20. Jahrhunderts.
Lidholm war über 70 Jahre lang eine zentrale Figur im schwedischen Musikleben und schrieb bahnbrechende Werke für Chor, Kammermusik und Orchester. Sein Wirken hat wesentlich zum sogenannten «Schwedischen Chorwunder» beigetragen, der Entstehung und Bewegung von Chören, die sehr schwierige Stücke aufführen können. Zu diesen Stücken gehört auch Laudi, welches Lidholm im Alter von 26 Jahren komponierte, inspiriert von einem Chor, der von seinem Freund Eric Ericson geleitet wurde. «Beinahe unmöglich aufzuführen», urteilten angeblich die Choristen, als sie 1947 die Noten in die Hände bekamen.
Lidholm schrieb A-cappella-Werke, Solowerke für Klarinette, Oboe und Violoncello, aber auch Orchesterwerke wie Kontakion (1978) und Ritornell (1955) und Opern wie Der Holländer, für die er1968 den Preis der Salzburger Oper erhielt, oder Ein Traumspiel (Ett drömspel, 1990). Andere Kompositionen Lidholms sind im Chorwesen inzwischen zu Klassikern geworden, etwa Canto LXXXI (1961), Libera me (1995) und a riveder le stelle (1973).
(Ausführliche Biografie und Verzeichnis der Chorwerke siehe weiter unten.)
Die Montagsgruppe
Einige schwedische Komponisten, Musiker und Musikwissenschaftler taten sich 1944 zusammen und trafen sich bis ca. 1950 regelmässig montags, um über Komposition zu diskutieren. Der informelle Leiter der Gruppe war Karl-Birger Blomdahl (1916-68). In der Wohnung seiner Familie, umsorgt mit Kaffee von seiner Mutter, fanden in der Drottninggatan in Stockholm die Treffen statt.
Da durch den Zweiten Weltkrieg die internationalen Kontakte abgebrochen waren, gab es einen grossen Bedarf, Erfahrungen auszutauschen. Unter anderem diskutierte man Satz- und Formenlehre bei Komponisten wie Hindemith, Bartók, Strawinsky, Schönberg und Berg. Der Kern der Gruppe bestand, neben Blomdahl selbst, Klas-Thure Allgén, Sven-Erik Bäck, Sven-Eric Johansson, Hans Leygraf, Claude Génetay, Eric Ericson und Ingmar Bengtsson und eben auch Ingvar Lidholm.
Im Jahr 1946 reisten mehrere Mitglieder der Gruppe (Sven-Eric Bäck, Eric Ericson und Lars Edlund) nach Basel ans «Lehr- und Forschungsinstitut» für Alte Musik, um bei Ina Lohr zu studieren. Ina Lohr spielte als Assistentin von Paul Sacher beim Aufbau der heute unter dem Namen Schola Cantorum Basiliensis bekannten Institution eine bedeutende Rolle. Ihre ganze Arbeit war getragen von einer tiefen Religiosität. Sie war an der schweizerischen Singbewegung sowie an der Einführung des Probebands des neuen Kirchengesangbuches beteiligt. Gleichzeitig suchte die Bewegung der Alten Musik allmählich grössere Professionalisierung, wollte sich befreien vom Etikett des Dilettantismus, der die Hausmusik substantiell definierte, was unter anderem dazu beitrug, dass Ina Lohrs Name heute kaum mehr bekannt ist.
Als die Montagsgruppe sich dann ab 1947 wieder traf, wurden auch mehrere Teilnehmer neu aufgenommen, darunter Göte Carlid, Magnus Enhörning, Nils L. Wallin und Bo Wallner.
Paradigmenwechsel im Musikleben
Die Ausrichtung der Montagsgruppe war und wurde mit der Zeit immer stärker die radikal modernistische Musik. Das ursprüngliche Ziel war, die eigenen Kompositionen parallel zur Entwicklung der europäischen Kunstmusik zu verbessern. Man wollte aber auch darauf hinwirken, mehr Verständnis für die eigene, oft bespottete Musik zu gewinnen. Man hatte in Schweden gegen das traditionalistische Musik-Establishment zu kämpfen, in dem die Spätromantik und der Neoklassizismus vorherrschende Stilideale waren. Zur Distanzierung gegenüber der Spätromantik gehörte auch das Interesse für Barockmusik und ihrer Aufführungspraxis bei vielen Mitgliedern der Gruppe.
Die Mitglieder der Montagsgruppe beteiligten sich rege an den Debatten über Neue Musik, sie bekamen Schritt für Schritt mehr Aufmerksamkeit und mehr Einfluss. Und so besetzten allmählich (nachdem sich die Gruppe schon aufgelöst hatte) einige ihrer Mitglieder, zuvorderst Blomdahl, Bäck und Lidholm zentrale Positionen innerhalb des schwedischen Musikbetriebs. Die Montagsgruppe ist deshalb von zentraler Bedeutung in der schwedischen Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts und verantwortlich für den deutlichen ästhetischen und stilistischen Paradigmenwechsel im Musikleben während der 1950er- und 1960er-Jahre. Sowohl Blomdahl als auch Lidholm wurden Professoren für Komposition an der Königlichen Musikhochschule in Stockholm. Besonders die Chormusik hat in Schweden nach dem zweiten Weltkrieg entscheidend zur allgemeinen Entwicklung der dortigen Neuen Musik beigetragen.
Die enorme Entwicklung der zeitgenössischen skandinavischen Chormusik selbst, die auch als «schwedisches Chorwunder» bezeichnet wird, ist vor allem mit der Chorleiterlegende Eric Ericson verbunden. Dieser regte nicht nur Komponisten zum Schreiben derartiger neuer Werke an. Er bildete vor allem auch Chorleiter ausbildete, die keine «Angst» mehr vor neuen Klängen und ungewöhnlichen Partituren hatten. Damit setzte er für folgende Generationen einen Kreislauf in Gang, in dem sich leistungsfähige Chöre, hervorragend ausgebildete Chorleiter und Komponisten befruchten konnten.
Dieser Einfluss wird heutzutage als positiv und negativ bewertet. Andere Komponisten, die die Ideale der Gruppe nicht teilten oder auf traditionellere Weise komponierten, wurden weitgehend ausser Acht gelassen bei den Institutionen wie dem schwedischen Radio, geleitet von Mitgliedern der Montagsgruppe oder deren Freunden und «Alliierten». Dies schilderte unter anderem der Komponist Erland von Koch in seinem Buch Musik och Minnen [Musik und Erinnerungen], Stockholm 1989.
Geboren in Jönköping, in der südschwedischen Provinz Småland, am 24. Februar 1921. Als Abiturient in Södertälje bekam er Violinunterricht bei Hermann Gramms und Orchestration bei Natanael Berg. Von 1940 bis 1945 studierte er an der Königlichen Musikhochschule Stockholm bei Axel Runnqvist Violine und bei Tor Mann Dirigieren; von 1943 bis 1945 auch Komposition bei Hilding Rosenberg. Er war Viola-Spieler an der Oper in Stockholm von 1943 bis 1947.
Der Preis der Jenny-Lind-Fellowship ermöglichte ihm, seine Studien in Frankreich, der Schweiz und Italien fortzusetzen. Er war Musikdirektor der Stadt Örebro (1947–1956) und der erste Schwede, der bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik Darmstadt im Jahr 1949 teilnahm. 1956 wurde er Programmdirektor für Kammermusik beim schwedischen Radio. Ab 1965 unterrichtete er Komposition an der Königlichen Musikhochschule Stockholm, um 1975 als Planungsdirektor für Neue Musik zum Radio zurückzukehren. Zudem fungierte er ab 1967 als Herausgeber des Journals Neue Musik. Von 1947 bis 1951 und von 1963 bis 1965 war er Vorstandsmitglied der Schwedischen Komponistengesellschaft. Ausserdem war er Vize-Präsident der Königlichen Musikhochschule Stockholm von 1963 bis 69 und Präsidiumsmitglied des Internationalen Schwedischen Komponistenverbandes.
Er bekam 1958 den Christ-Johnson-Preis, 1965 den Internationalen Kussewitzki-Preis. 1968 wurde er mit dem Preis der Salzburger Oper für seine Komposition Der Holländer ausgezeichnet. Er selbst sagte über sein Komponieren: «Ich versuche mir immer im Bewusstsein zu halten, dass es mein Beruf ist, Noten zum Sprechen zu bringen … Lasst uns versuchen, wieder Musik zu formulieren, die den Hörer stark und unmittelbar anspricht, Musik für Menschen unserer Zeit.»
Ingvar Lidholms frühe Werke enthüllen eine subjektive, skandinavische Romantik (Gullberg-Gesänge 1944), noch bevor lange Elemente wie bei Hindemith oder Bartók ins Spiel kommen (Concerto 1945, Music for strings 1952). Die Chorkomposition Laudi kombiniert frühe Vokalpolyfonie mit moderner Harmonie. Lidholms Tonsprache ist reich und vielseitig, die Zahl seiner Werke bemerkenswert und ihr Stil wandlungsfähig.
Der internationale Durchbruch kam mit dem Orchesterstück Ritornell. Von seinen anderen Stücken für Orchester müssen besonders das Ballett Riter (1959), Mutanza und vor allem Poesis (1964 zum 50-jährigen Jubiläum der Stockholmer Philharmoniker) erwähnt werden. Letzteres ist ein unkonventionelles Stück für ein Jubiläum, mit brutalen, unterschiedlich gefärbten Klangblöcken, dynamischen Kulminationspunkten und absurden Solo-Kadenzen für Klavier und Kontrabass. Greetings from an old world wurde 1976 komponiert für die Clarion Musikgesellschaft New York aus Anlass des zweihundertjährigen Jubiläums der Vereinigten Staaten von Amerika.
«Ich mache Gebrauch von der Tradition – mit klar verständlichen Klangmodellen mit gestischem, virtuosem oder melodischem Charakter.» Eine wichtige Zutat des Stückes ist Heinrich Isaacs Wanderlied Innsbruck, ich muss dich lassen. Das dazu passende Schwesterwerk ist Kontakion (1979), das anlässlich einer Sowjetunion-Tournee entstand und orthodoxe Traditionen klanglich verarbeitet. Wahrscheinlich wurde kein Werk von ihm mehr verbreitet als Stamp Music. Er hat es geschrieben im Zusammenhang mit der Erstellung einer Briefmarke zum zweihundertjährigen Jubiläum der Königlichen Musikhochschule Stockholm.
Liste der Chorwerke
Laudi (1947) Vier Chöre (1953) Zwei Gesänge (1945-1955): 1. Saga (Männerchor) 2. Jungfrulin (Frauenchor) Canto LXXXI (1956) Motto (1959) Zwei griechische Epigramme (1959). 1. Kort är rosornas tid (3st. Männerchor), 2. Phrasikleia (Sopran-Solo und Frauenchor) Drei Strindbergweisen (1959): 1. Välkommen åter snälla sol 2. Sommerafton 3. Ballad Nausikaa allein (1963): Szene für Solosopran, Chor und Orchester a riveder le stelle (1971) Die Perser (1978): Dramatische Szene für Rezitation und grossen Männerchor Skaldens natt (1958/1981): Für Sopransolo, Chor und Orchester De profundis (1983)
aus der Oper Ett drömspel (Ein Traumspiel): Vindarnas klagan (1981), Troget och milt (1990) Inbillningens värld für Männerchor (1990/1996) Libera me (1993–94)
aus der Oper Ett drömspel (Ein Traumspiel): Vokalsymphonie (1997), Zwei Madrigale (1981) beide mit Orchester Madonnans vaggvisa für Solostimme und gemischten Chor (1943/2001) Grekisk gravrelief (2003)
Eigenart, Stil und Bedeutung erläutert an zwei Sonaten.
Bernhard Billeter
- 09. Nov. 2017
Porträt von Leopold Koželuch von W. Ridley. Quelle: Wikimedia commons
Bereits sieben früheste handschriftlich erhaltene und deshalb nicht datierbare Sonaten – im Band IV der Neuausgabe Nr. 44–50, wohl vor 1773 – sind eindeutig nicht für Cembalo gedacht, sondern dem sich damals auf dem Siegeszug befindlichen «Fortepiano» auf den Leib geschrieben. Sie können es an Erfindungskraft und Tiefe der Emotionalität mit frühen Haydn-Sonaten aufnehmen. Eine davon in Es-Dur, Nr. 47, weist im ersten Satz, Adagio, noch eine zweiteilige Sonatenhauptsatzform auf (ohne Durchführung) wie in Mozarts Es-Dur Sonate KV 282. Mozart hat sie vermutlich Anfang 1775 in München während der Uraufführung des dort bestellten dramma giocoso La finta giardiniera geschrieben; ein Einfluss von Koželuch ist wohl auszuschliessen. Das ist ein Überbleibsel der Frühklassik.
Zwei ausgereifte, grosse Sonaten der mittleren Schaffensperiode verdienen es, näher beschrieben zu werden. Diejenige in A-Dur op. 35 Nr. 2 von 1791 ist dreisätzig und besteht wie die meisten aus einer Sonatensatzform, einer zusammengesetzten Liedform und einer Rondoform. Das Notenbeispiel 1 zeigt den Vordersatz des Hauptthemas in der Form der Periode; der Nachsatz ist erweitert auf 12 Takte.
Notenbeispiel 1
Nach dem allmählichen Übergang zur Dominanttonart bleibt der Dominantseptimakkord vier Takte lang stehen. Hier (Notenbeispiel 2) auf Takt 35 könnte also der Seitensatz beginnen. Überraschenderweise erscheint in e-Moll statt in E-Dur das Anfangsmotiv des Hauptthemas.
Notenbeispiel 2
Das Notenbeispiel 3 zeigt in Takt 49 einen Trugschluss und den übermässigen Quintsextakkord zur Dominante und im Auftakt zu Takt 53 den Beginn des mit 26 Takten relativ kurzen Seitensatzes. Von einer «Schlussgruppe», die in manchen Formenlehren herumgeistert, kann ohnehin, wenn schon, erst bei Beethoven gesprochen werden. In der Durchführung verarbeitet der Komponist in weitflächigem Quintfall lauter Hauptsatz-Motive. Vier vollständige Takte des Anfangs in D-Dur könnten die Hörer dazu verleiten, einen Reprisenbeginn zu vernehmen.
Notenbeispiel 3
In den Takten 111–117 bewährt sich zur leichten Anreicherung mit polyphonen Verfahren die zweistimmige komplementäre Führung der rechten Hand (Notenbeispiel 4).
Notenbeispiel 4
Statt die Reprise mit längerem Stehenbleiben auf der Dominante vorzubereiten, bedient sich Koželuch eines viel drastischeren Mittels, nämlich einer eintaktigen Generalpause. Den bemerkenswerten Vergleich zwischen Exposition und Reprise mit verkürztem Hauptsatz und verlängertem Nebensatz und zahlreichen Detailunterschieden überlassen wir dem Spürgeist einer geneigten Leserschaft, falls sie sich die Noten beschafft. Es lohnt sich!
Eine kleine Bemerkung verdient der Schluss dieses Satzes: Hier fehlen die Wiederholungszeichen, die sonst in frühklassischen und meist in klassischen Sonaten zur Wiederholung von Durchführung und Reprise üblich waren, auch bei Mozart. Koželuch bricht hier und in allen folgenden Klaviersonaten mit dieser Tradition. Wir kommen darauf zurück. – Leichter wird es fallen, die übrigen zwei Sätze zu beschreiben, beide mit einem Minore-Teil in der Mitte und beide von sprühendem Einfallsreichtum. Das ausdrucksstarke Adagio erschliesst sich, wenn die genau aufgeschriebenen Auszierungen (im 18. Jahrhundert «willkürliche Veränderungen» im Gegensatz zu den «wesentlichen Manieren» genannt) als solche erkannt werden. Das Rondo bietet viel mehr als einfach einen Kehraus. Sein Hauptthema –oder sagen wir sachkundiger: – sein Refrain zeigt sich nur dreimal, das zweite Mal stark abgekürzt, dafür auch als Rahmen des Minore und wirkt deshalb nie abgedroschen. Weil das Allegro des ersten Satzes zeitweise sich einer Alle-breve-Taktierung nähert und das Allegro des Rondos im Zweivierteltakt notiert ist, sollte ersteres zügig und letzteres etwas langsamer genommen werden. So wird die Zuhörerschaft über die blendende Virtuosität einer Darbietung staunen, auch wenn der Schwierigkeitsgrad wegen der handgerechten Schreibweise des Klavierpraktikers für einen gewiegten Amateur durchaus zugänglich ist (etwa Stufe 8-9 gemäss Klaus Wolters).
Fünf Sonaten in den beiden ersten Bänden und sechs in den Bänden III und IV beginnen mit einem Satz in Moll. Das ist zwar – wie bei Mozart – eine kleine Minderheit, die jedoch besondere Beachtung verdient. Koželuch experimentiert in ihnen mit polyphonen Elementen, zum Beispiel am Anfang der Sonate op. 26 Nr. 2 in a-Moll von 1788 (Notenbeispiel 5).
Notenbeispiel 5
Der Seitensatz beginnt ganz normal mit einem zwölftaktigen Thema in der Paralleltonart C-Dur. Doch wenn dasselbe Thema nach fast zweitaktiger Generalpause ohne jede Modulation in Es-Dur erscheint, ist die Überraschung perfekt. Schubert lässt grüssen. Die Generalpause bedingt übrigens ein zügiges Allegrotempo.
Noch interessanter, auch in der ungewöhnlichen Satzfolge, erweist sich die Sonate op. 30 Nr. 3 in c-Moll von 1789. Sie beginnt mit einem umfangreichen langsamen Satzteil, viel zu umfangreich für eine Einleitung, auch wenn er unabgeschlossen auf der Dominante stehen bleibt.
Notenbeispiel 6
Die ersten 8 Takte (Notenbeispiel 6) sehen aus wie der Vordersatz einer Periode. Die punktierten Sechzehntel mit Zweiunddreissigsteln evozieren einen Trauermarsch.
Notenbeispiel 7
Attacca beginnt das Allegro in Sonatensatzform. Auch hier entspricht der Anfang, das heisst das Hauptsatzthema (Notenbeispiel 7) einem Vordersatz. Er ist durch Wiederholungen des Halbschlusses auf 14 Takte verlängert. Statt eines Nachsatzes kommt ein Überleitungsteil zur Durparallele mit nur 16 Takten. Auch der Seitensatz (Notenbeispiel 8) ist mit 36 Takten extrem kurz gegenüber anderen Sonaten von Koželuch und seinen Zeitgenossen.
Notenbeispiel 8
Am Ende der Exposition steht wie üblich das Wiederholungszeichen. Aber wo soll die Wiederholung beginnen, mit dem Largo oder mit dem Allegro? Das gibt der Komponist nicht an, weil selbstverständlich: mit dem Allegro! Die Durchführung wäre mit 32 Takten wieder sehr knapp. Aber beginnt hier wirklich in Takt 142 die Reprise, und zwar in der Tonart g-Moll? Nein, es ist wie in der A-Dur-Sonate eine Scheinreprise. (Notenbeispiel 9).
Notenbeispiel 9
Denkbar kurz mit drei Takten ist die «Korrektur» nach c-Moll (Notenbeispiel 10). Schubert geht ja noch viel weiter: In den beiden fast gleichzeitig entstandenen zwei Klaviersonate in a-Moll und C-Dur («Reliquie») verschleiert er absichtlich völlig den Reprisenbeginn, über den sich die Musiktheoretiker trefflich streiten mögen. Es ist bei Schubert ein Aufbruch zu neuen Ufern. Sollen wir einen solchen auch Koželuch in bescheidenerem Rahmen zugestehen?
Notenbeispiel 10
Mit einer weiteren, oben bereits angesprochenen Tradition bricht Koželuch am Ende der Reprise, nämlich mit der Wiederholung von Durchführung plus Reprise. Sie wäre schon deshalb nicht möglich, weil Allegro und das den Satz abschliessende Largo untrennbar miteinander verzahnt sind. Auf der in der Bärenreiter-Ausgabe wiedergegebenen Faksimileseite des Erstdrucks, also der einzigen Quelle sieht man das besonders eindrücklich: Kein Doppelstrich, nur das neue Taktzeichen 2/4 sind zu sehen. Doch auch ohne Faksimileseite ist die Verzahnung klar ersichtlich: Der Anfangsakkord des Largo bildet den Abschluss der Kadenz am Ende des Allegro. Daraus erwächst die Frage, ob Koželuch durch diese ja zwei Jahre vor der oben besprochenen A-Dur-Sonate entstandene c-Moll-Sonate angeregt worden ist, die zweite Wiederholung einer Sonatenhauptsatzform zu überdenken. Das ist ja in der Aufführungspraxis eine heiss umstrittene Frage. Mozart verzichtet, wenn auch selten, auf die zweite Wiederholung in Sonatensatzformen.
Schweifen wir kurz ab: Bei Mozarts Klaviersonaten betrifft dies nur seine zwei letzten, KV 570 in B-Dur und 576 in D-Dur. Allerdings ist bei der in B-Dur die Quellenlage ungünstig, der Fall ist aber eindeutig. Bei den Sonaten für Klavier und Violine ist es nur eine: KV 481 in Es-Dur, bei den Klaviertrios keines, bei der Streichquartetten eines: KV 575 in D-Dur. Das bedeutet: Mozart setzt sie bewusst ein. Also sind sie dort, wo sie Mozart geschrieben hat, auch wirklich zu spielen. Allerdings bekommt man sie in Klavier- und Kammermusikabenden sowie auf Tonträgern, auch von prominenten Interpreten, leider selten zu hören. Koželuch, im Gegensatz zu Mozart, bleibt ja konsequent bei diesem Entscheid bis an seinem Lebensende.
Wieder attacca beginnt der zweite Satz der nur zweisätzigen Sonate, ein Rondo im befreienden C-Dur. Der Refrain erscheint einmal in G-dur stark verändert und einmal in c-Moll als kurze Erinnerung an den ersten Satz.
Alles in allem: Die Beschäftigung mit Koželuch lohnt sich nicht nur für Pianisten, sondern auch als interessante Beispielsammlung für das Fach Formenlehre, nämlich das Fach, das alle übrigen Fächer der sogenannten Musiktheorie in sich vereinigt und geeignet ist, einen Bogen zwischen Theorie und Interpretationspraxis zu schliessen.
Das Intakt-Team 2016 mit Patrik Landolt, links aussen. Foto: Michelle Ettlin
Könnten wir von dir zum Anfang bitte einen kurzen Abriss von der Geschichte von Intakt Records bekommen? Patrik Landolt: Man kann so anfangen: 1984 habe ich das Taktlos-Festival mitveranstaltet mit Bern zusammen. Da gab es einen Schwerpunkt, Irène Schweizer mit internationalen Gästen wie Joëlle Léandre, Maggie Nicols, George Lewis aus New York, Günter «Baby» Sommer aus Dresden. Ein freies Festival war das, und drei Tage lang hat Radio DRS alles aufgenommen. So hatten wir die Bänder von dem Festival. Wir dachten, am besten machen wir eine Platte um Irène herum. Denn Irène war sehr unterdokumentiert damals. Sie hatte bei FMP Sachen herausgegeben, aber die waren zum Teil in der Schweiz nicht einmal erhältlich. So machten wir die Platte, Irène live at Taktlos, mehr weil die Bänder sonst niemand wollte. Das war der Anfang. Die zweite Platte kam dann relativ schnell. Auch das war eine internationale Sache mit dem gesamten Londoner Jazz Composers Orchestra mit Anthony Braxton.
Warum haben solche Leute ihre Platte von einem Amateur in Zürich herausgeben lassen?
Es war immer so, dass die freie kreative Musikwelt von den grossen Multis nicht herausgegeben wurde. Ein Multi hat in den 70er-Jahren die Loftszene in New York mit einer Serie dokumentiert. Sie hiess Wild Flowers. Die dachten, das wird das grosse Geschäft, und es wurde DER Flop. Sie haben nicht mehr als ein paar hundert von den Boxen verkauft. Das war einer der historischen Momente, wo sich das Big Business vom Jazz verabschiedet hat. Sie merkten, mit dem kann man kein Geld verdienen. Heute ist es klar, die drei verbliebenen Majors haben sich weitgehend von dieser Musik verabschiedet. Was sie schon gar nicht machen, ist Aufbauarbeit von neuen Künstlern. Diese Aufgabe lag schon immer bei kleinen Independents. Vielleicht haben wir dann auch noch besonders vertrauenswürdig ausgeschaut! Es war schon erstaunlich, erstes Album Irène, zweites Album mit LJCO mit Braxton und so, war tolle Sache gewesen.
Du warst kein Rock-Fan?
Das war ich doch auch. Das hat sich nicht ausgeschlossen gegenseitig. King Crimson, da war ich ein totaler Fan. Aber schon im Gymnasium habe ich mich intensiv mit Jazz beschäftigt. Miles, Coltrane, Roland Kirk. Da war ich 15, 16 Jahre alt. Das Roland Kirk-Album mit Beatles-Covers – unglaublich!
Wenn ich mich richtig erinnere, hast du Intakt dann lange Zeit eher als Hobby betrieben, oder?
Genau, als ein Hobby, das sich immer mehr verbreitete. In den frühen Zeiten habe ich noch als freier Journalist gearbeitet, Tagi, Radio, verschiedene Zeitungen. Dann bin ich 20 Jahre Redaktor bei der WoZ gewesen, auch in der Geschäftsleitung. Das hat mir ein bisschen die Energie vom Festival-Organisieren weggenommen. Nach 10 Jahren Taktlos bin ich dort ausgestiegen.
Lang war alles bei dir zuhause. All die Platten sind in deiner Wohnung herumgestanden.
Die ersten Jahre war Intakt im Keller. Ich war jung, hatte kein Geld und darum auch kein Lager. Man musste auch selber alles zuerst lernen und entdecken. Alles war Trial-and-Error. Wir sind die Sache sehr schweizerisch angegangen – sich ja nicht verschulden, ganz kleine Schritte, ein langsamer aber sicherer Aufbau. Langsam wurde ein Back-Katalog entwickelt, und so ist eine gewisse ästhetische Richtung entstanden. Die Vielfalt und Fülle entstand durch langen Prozess, nicht durch einen Businessplan. Heute würde man an einer Hochschule das Entwerfen eines Businessplan erlernen. Bei uns ging es ganz allein von einer Riesenleidenschaft aus. Die ist bis heute geblieben. Alles andere hat man sich mit einer Schweizer Solidität erarbeiten müssen. Buchhaltungskurse absolvieren und so, an der Migros-Abendschule, damit man eine Bilanz verstehen und lesen konnte. Wir hatten von Anfang an auch eine sehr gute Buchhalterin, die hat auf höchstem Niveau gearbeitet. Das ist auch eine Stärke von uns. Das ganze Backoffice ist sehr solid. Musikerabrechnungen müssen transparent sein. Ein wichtiges Kriterium. Ist im Geschäft sehr unüblich.
Wenn du das alles selber erarbeitet hast, hast du sicherlich einiges an Lehrgeld bezahlen müssen. Kannst du dich an frühe Fehler erinnern?
Die allererste Platte steht verkehrt im Gestell. Wir haben sie falsch geleimt. Natürlich zahlt man immer Lehrgeld. Die meisten Fehler sind passiert aus einer Euphorie heraus, dass man zum Teil zu grosse Auflagen gemacht hat aus dem Gefühl heraus, «diese Platte ist so wahnsinnig gut, die wollen alle kaufen». Aber man lernt, dass man Euphorie nicht immer auf die Marktverhältnisse übertragen kann.
Kann man eine Rezeption überhaupt planen?
Vieles kann man nicht planen kann. Auch das war eine wichtige Erfahrung. Gerade im Musikbusiness gibt es viel Kontingenz und Zufälligkeiten. Was ich etwas Positives finde. Man kann Erfolg nicht planen. Auch die grossen können das nicht – fast nicht.
Wie gross waren am Anfang die Auflagen?
Von der ersten machten wir am Anfang glaub ich 2000. Das war noch Vinyl. Mit CD ist es einfacher. Da macht man meistens zwischen 1000 und 2000 Exemplare und druckt dafür mehr Drucksachen. Dann kann man in Tranchen nachpressen. Mit den Drucksachen geht es in 1000er-Schritten, mit CDs in 300er-Schritten. So kann man laufend nachpressen. In der Stadt sind Lager ja unbezahlbar.
Irène Schweizer ist das starke Rückgrat von Intakt?
Sie war von Anfang an dabei, ja. Wir haben ihre Biografie und ihr Leben begleitet über all die Jahre. Wir wohnen auch in der gleichen Stadt. Das finde ich auch noch wichtig, dass wir alle drei hier verwurzelt sind. Darum arbeiten wir auch oft mit Künstlern von hier. Pierre Favre. Lucas Niggli stiess noch früher zu uns als Pierre. Man versucht auch mit Jungen im Gespräch zu sein. Das ist etwas ganz wichtiges, eine gewaltige Herausforderung. Man ist dauernd in Bewegung. Muss sich dauernd mit neuen Sachen auseinandersetzen.
Wie stark ist diese Herausforderung mit der rasanten Entwicklung der Technologie verbunden?
Es ist auf jeden Fall so, dass einen nur schon die ganze Technologie dazu zwingt, am Ball zu bleiben. Wenn man bedenkt, was in der Musik passiert ist in den letzten 30 Jahren! Von Vinyl über CD über Downloads, dann Download in MP3-Qualität, gefolgt von CD-Qualität und jetzt sogar HiFi-Qualität. Rein schon die technologische Entwicklung zwingt einen zu einer unglaublichen Wachheit und Auseinandersetzung.
Wie gross ist der Anteil von Streaming bei den Verkäufen von Intakt? Ich könnte mir vorstellen, dass das Intaktpublikum ein klassischer Fall ist von einem Publikum, das noch etwas in der Hand haben will.
Ja, aber es läuft alles parallel. Allein in Amerika haben wir glaub ich 70 000 bis 80 000 Verkaufskontakte, und dazu gehören auch Streams. In den USA läuft unser Vertrieb über Naxos und Naxos Archive. Dieses kann man benützen, wenn man einen monatlichen Betrag zahlt. Wenn sich da jemand etwas von uns anhört, wird es auch als Kontakt registriert. Auf der anderen Seite haben wir in den letzten Jahren auch vom Katalog her einen Generationenwechsel durchgemacht. Wir verlegen heute viele viel jüngere Künstler, auch aus grenzüberschreitendenden Bereichen am Rande von Rock und Elektronik.
Ist die Verwurzelung von Intakt in Zürich auch dafür verantwortlich, dass diese stark ist?
Ja, man hat diese Musik hier vielleicht ein bisschen mehr gepflegt. Das hat auch einen Nachteil. Andere meinen, sie müssten nichts mehr machen, weil wir es machten.
Hat die Szene ihre Stammlokale?
Jahrelang hat das die Rote Fabrik gemacht. Das Unerhört Festival, an welchem Intakt beteiligt ist, findet in verschiedenen Locations statt, im Theater am Neumarkt oder im Rietberg. Auch in Altersheimen und verschiedenen Schulen organisieren wir Konzerte. Die älteren Semester sind zum Teil bestens informiert, sie haben Ansprüche, da kann man nicht einfach einen Studenten von der Jazzschule schicken! An den Gymnasien ist es dasselbe. Da bringen wir das Beste. Die merken sofort, wenn etwas nicht stimmt.
Wie viele junge Musikfans kommen an diese Veranstaltungen?
Im Stadelhofen kommen 300 bis 500. Es hängt von den Lehrern ab. Es ist ihnen freigestellt, aber zum Teil kommen ganze Klassen. Zum Beispiel hat eine Geschichtslehrerin vor dem Auftritt von Oliver Lake und William Parker zu den Schülern gesagt, der Besuch sei ihnen freigestellt, sie könne ihnen auch eine Aufgabe geben. Sie selber werde das Konzert bestimmt besuchen, denn von diesen Männern erfahre sie mehr über amerikanische Geschichte als aus allen Büchern.
Heute ist Intakt international zwischen New York und London und Deutschland extrem gut vernetzt. War es nicht wahnsinnig schwierig, von Zürich aus nützliche Beziehungen anzuknüpfen?
1988 nahm ich ein Sabbatical von der WoZ, fünf Monate New York. Da bin ich natürlich an all die Konzerte gegangen. Habe den Vertrieben einfach angeläutet. Habe mit meinem rudimentären Englisch versucht, ein Gespräch zu führen, bin sie dann auch besuchen gegangen.
Kann man sowas allein machen?
Es ist sicher eine lebenslängliche Leidenschaft, die man nur als Team machen kann. Wichtig ist an diesem Team, dass es dich quasi perspektivisch überdauert. Wenn man diese Wand anschaut mit all den CDs, da stehen ja unglaubliche künstlerische Werte. Die Urheberrechte. All die Aufnahmen. Jetzt sind wir bei 280 Titeln. Das sind 280 Werke, die es vorher nicht gegeben hat. Wir helfen mit, Musik zu schaffen und Realität zu schaffen. Und die steht dann da. Das Ziel ist natürlich, dass man als Verlag Verbreitung schafft und in die Zukunft trägt. Eine Irène Schweizer wurde letztes Jahr 75 Jahre alt und hat einen grossen Teil ihres Werkes bei Intakt veröffentlicht. Damit ist eine Riesenverantwortung verbunden. Was passiert, wenn ein Künstler gestorben ist? Wie bei Werner Lüdi, von dem wir auch eine wunderschöne CD haben, die immer noch im Katalog ist. Das ist eine grosse Verantwortung, die öfters einen einzelnen Verlag überfordert, wofür man vielleicht irgendwann die Hilfe einer Öffentlichkeit oder von Stiftungen braucht, damit die Pflege der ästhetischen Werte und die Verbreitung der Musik weiter garantiert werden kann.
Ich glaube du hast Preise gewonnen? Was für Preise?
Der erste war von der Suisse Culture, Dachverband aller Kulturschaffenden, ein sehr grosser Preis, ein ehrenvoller Preis. Denn dieser Verband zeichnet Kulturvermittler aus. Traditionell gibt es da immer Reibungen zwischen Künstlern und Vermittlern. Bei Labels erst recht, wenn man früher die Geschichten gehört hat wie die Schwarzen ausgenützt wurden. Sie haben einen Vertrag unterschrieben und damit alle Rechte abgegeben und dafür vielleicht 50 Dollar bekommen. Oder eine Flasche Whisky.
In der Schweiz ist die Förderung von Musik in der Art von Intakt ziemlich gut organisiert, oder täusche ich mich da? Ich habe den Eindruck, man wird etwa von den Engländern in dieser Hinsicht ziemlich beneidet?
Von aussen mag das wohl so aussehen. In meinen Augen ist die Infrastrukturförderung nicht gut. Im Bereich Buch hat der Bund erkannt: Wir müssen die Buchproduktion fördern, sonst geht plötzlich eine seit mehreren Jahrhunderten gewachsene Kultur zu Grunde. Im Bereich Musik-Produktion ist man noch nicht so weit. Gerade ist bekannt geworden, dass nun auch noch die Migros ihre Labels eingestellt hat. Hinter der Haltung steckt ein falsches Denken. Es reden immer alle von einer CD-Krise. Dabei gibt es diese gar nicht. Es gibt nur eine Krise vom Mengengeschäft. Es werden heute mehr CDs produziert und verkauft denn je. Aber heute hat man nicht mehr die 100 000er Auflagen. Die Vielfalt ist dafür massiv gestiegen. Kommt noch dazu, dass die CD bloss eine Form von Tonträger ist, nebst Vinyl, Downloads in verschiedener Qualität, und Streams. Die Bedeutung ist massiv vorhanden. Die Art der Verbreitung aber hat sich ausdifferenziert in ganz verschiedene Formen. Es wird heute gleich viel Musik gehört wie in den 90er-Jahren, als das CD-Geschäft boomte. Wer sagt, die CD habe heute an die Bedeutung verloren versteht nichts vom Geschäft. Und es gibt viele Förderstätten, die sagen, wir streichen die CD-Unterstützung, denn die steckt ja in einer Krise. Dahinter steckt eine vollkommene Verkennung von Musikproduktion. Musiker müssen immer noch ins Studio zum Aufnehmen, zum Schneiden und Mastern, und auch wenn man die Resultate als Download verbreitet, braucht es immer noch Marketing und Werbung.
Fast alle Alben, die Du herausgegeben hast, sind noch im Katalog. Gibt es Platten, die Du bereust und darum herausgenommen hast?
Nein, selbst wenn ich selber sie vielleicht nicht mehr anhöre. Es ist sowieso immer noch ein Zeitdokument. Oder es ist für den Künstler ein Teil der Biografie. Und das ist ja ganz wichtig, dass man das Werk und den Wert der Arbeit eines Künstlers immer im Zusammenhang des Gesamtwerks anschaut. Eine Irène Schweizer kann man nur verstehen, wenn man das Gesamtwerk anschaut. Wenn man nur ein Soloalbum nimmt, vor allem noch eines der ganz frühen, wo sie ganz frei spielt, da begreift man den künstlerischen Wert späterer Werke nicht. Man muss den Kontext anschauen und die einzelne Produktion im Werkkontext sehen. Das ist heute wichtiger denn je.
Wie ist die internationale Rezeption von Irène Schweizer heute?
Letztes Jahr in Schaffhausen ist sie anlässlich ihres 75. Geburtstages live aufgetreten, das kam in der Tagesschau. In Amerika würde sie wohl grosse Räume füllen, aber sie reist nicht gern. Und dann muss man noch Arbeitsvisa haben. Es ist für den Schweizer und europäische Künstler nicht einfach, in den USA aufzutreten. Was der Trump heute programmiert mit der Abschottung des Marktes ist schon seit eh und je so.
Wie ist das Verhältnis von Schweizer und internationalen Künstlern, die auf Intakt erscheinen?
Zwischen einem Drittel und der Hälfte sind Schweizer Künstler. Das reflektiert die Stärke der Szene. Aber wir streben eine Balance an. Auch Gender und Race sind ein Kriterium. Schwarze African-Americans wollen wir haben, denn das ist die Basis der Musik. Gerade diese neue Platte hier vom Trio 3, da hört man schon den Gesichtern die Musik an. Die Geschichte ist ihnen ins Gesicht geschrieben. Es ist uns auch wichtig, viele Musikerinnen im Programm zu führen. Das sieht man auch dem Londoner Festivalprogramm an.
Wie hat sich dein Geschmack und der Geschmack der Szene verändert über die 33 Jahre Intakt hinweg? Kann man Phasen mit anderen Auswahlkriterien unterscheiden?
Man folgt natürlich den Künstlern. Sie sind unsere Botschafter und auch unsere Verwandten. Sie sind viel unterwegs, es kommt immer mal wieder einer und sagt: Hast du das gehört? Und dann sind wir ein Team. Der Einfluss von Anja und Flo ist im Katalog hörbar. Und wir sind auch Kinder des Zeitgeistes. Wir sind zwar nicht modisch, aber es gibt schon auch Stimmungen, die wir absorbieren. Ich möchte glaube ich nicht mehr einfach so ein Free Jazz-Konzert wie in den 60er- und 70er-Jahren auf CD herausgeben. Weil das nicht mehr so zur heutigen ästhetischen und geistigen Verfassung passt.
Kannst Du das genauer erklären? Was ist anders geworden?
In den 60er- und 70er-Jahren ging in Zürich alles um elf Uhr zu. Man durfte nicht im See baden. Alles war so reglementiert und bürgerlich verklemmt. So waren in der Zeit in der Avant-Garde Faktoren wie Provokation, Tabu-Bruch, Collage, das Neue finden, ganz wichtige Elemente. Ein Lucas Niggli ist ganz anders. Einer wie er kann das auch, Provokation, Geräusche, Neues und alles. Aber im Gegensatz zu den Vorgängern muss er nicht mehr das Alte zerstören, um auf eine neue Ebene zu kommen. Dazu kommt heute hinzu, dass Gestaltungsmittel, die damals von der Ästhetik der Avant-Garde angewandt wurden, von der extremen Rechten benützt werden. Ein Trump macht ja nichts Anderes als Schock und Provokation. Köppel. Die Nationalisten, die SVP, sie leben von der Provokation, von Tabu-Bruch. Die Ästhetik hat das schon vor 15 Jahren reflektiert, dass das nicht mehr der Weg ist, das Neue zu verbreiten. Heute ist vielleicht auf der Bühne der gewaltfreie Diskurs, der freundliche Umgang miteinander mehr im Mittelpunkt als eine Provokation.
Wie viele CDs gibst du pro Jahr heraus?
18 waren es letztes Jahr, heuer 19 oder 20.
Sind alle Künstler exklusiv an Intakt gebunden?
Es gibt auch Künstler, mit denen wir eine Abmachung haben, dass wir bestimmte Projekte mit ihnen verfolgen. Künstler sind ja heute sehr produktiv, das müssen sie auch sein. Konzertkünstler brauchen vier, fünf Parallelprojekte zum Überleben. So teilen wir viele Künstler mit anderen Labels und anderen Projekten. Mit der Exklusivität ist es nicht mehr wie früher.
Welche Projekte erfüllen Dich mit besonderem Stolz?
Viele! Es wäre einfacher, über Jahrgänge zu reden. Letztes Jahr war es sicher die deutsche Saxofonistin Angelika Niescier mit ihrer New Yorker Band. Oder Barry Guy mit Blue Shroud, der Versuch, eine politische Reflexion zu machen, eine Antikriegsproduktion eigentlich, aber nicht plakativ, sondern auf höchstem ästhetischen Niveau. Und das Gesamtwerk von Irène Schweizer natürlich. Die acht oder neun Alben, die wir dem London Jazz Composers Orchestra gemacht haben. Und hier, das ist eine CD, auf die wir auch ganz stolz sind. Sie stammt vom Trio Heinz Herbert. Das sind die Jüngsten bei uns, denen ist ein ganz toller Wurf gelungen. Da merkt man, es sind wahnsinnig gute Jazz-Musiker, aber sie haben auch eine Ästhetik von Sound und Elektronik. In Willisau haben sie abgeräumt!
Nochmal zurück zu den vielen Parallelprojekten, die ein Künstler braucht – besteht da nicht die Gefahr, dass durch die pure Menge die Konturen verloren gehen?
Das hat sicher mit der Ästhetik der Zeit zu tun. Im Jazz hat’s früher einen klaren linearen Ablauf gegeben. Coltrane, dann Miles Davis, dann Fusion, dann Free Jazz. Heute herrscht eher eine Parallelität der Diversität. Wir haben in der Schweiz sechs Jazz-Schulen auf Hochschulniveau. Jedes Jahr ergibt das 150 Masters-Studentenabschlüsse, 150 Berufs-Jazz-Musiker. In zehn Jahren 1500. Das heisst, das Niveau ist wahnsinnig gestiegen. Es hat eine wahnsinnige Vielfalt von guten Musikerinnen und Musikern. Dass die produzieren wollen ist klar. Wir haben im Jahr mehr als 1000 Anfragen für Publikationen! Es gibt kaum mehr Verlage mit internationalem Netz, weil der Markt das nicht trägt. Dabei ist interessant, dass wir als Europäer auch noch die besten Amerikaner produzieren. Es gibt in den USA viel zu wenig Möglichkeiten mehr. In den USA ist alles so stark auf den Markt ausgerichtet, wenn es der Markt nicht trägt, macht es niemand.
Wie ist das Verhältnis heute von Verkäufen, CD, Vinyl, Download?
Julian Sartorius hat von seinem Album eine kleine Vinyl-Auflage von sich aus gemacht. Der digitale Verkauf ist massiv am Steigen. Ich würde sagen, in den letzten 3, 4 Jahren ist er von 3% auf 10% gewachsen. Das Problem besteht darin, dass die Verkäufe zu billig weggehen. Downloads sind zu billig. Der Zwischenhandel, das sind ja nur noch Maschinen, bekommt zu viel. Letztlich bleibt zu wenig beim Verlag und beim Künstler. Beim Streaming ist das erst recht so. Das ist legalisierter Diebstahl.
Ist es nicht unabdingbar für die Musikwelt im Allgemeinen, dass ein Weg gefunden wird, Streaming auf eine Art und Weise zu monetarisieren, die für Künstler, Produzenten und Labels fair ist?
Das ist die Hoffnung. Ich bin mir da nicht so sicher. Vielleicht wird es ähnlich laufen wie bei den Printmedien, wo wir eine wahnsinnige Ausdünnung erleben. Wo vieles eingeht und damit enorm viel Wissen verschwindet. Es findet eine Kulturzerstörung statt, die vielleicht in der Zukunft ganz neue Finanzierungsformen erzwingt. Die Gesellschaft muss sich überlegen: Wollen wir überhaupt noch Musikproduktionen? Eine Oper würde auch nicht stattfinden. Wenn sich eine Oper selber bezahlen müsste, gäbe es vielleicht noch eine Oper in Amerika und auch die würde nicht vom Markt, sondern von Sponsoren und Mäzenen finanziert. Das Marktprinzip, das immer proklamiert wird, ist eine ganz grosse Lüge und funktioniert in diesen Sachen auch überhaupt nicht. Es ist auch unsere Aufgabe als Verleger, Künstler, Lehrer, von Schulen und Förderungsinstitutionen, nachzudenken: Was wollen wir an Musikproduktionen? Wie können wir es finanzieren? Wie können wir es uns leisten? Auch Pro Helvetia hat meiner Meinung nach darüber zu wenig nachgedacht. In erster Linie wird der Künstler unterstützt. Das finde ich eigentlich auch richtig, aber es ist das aristokratische Modell. Der Fürst streichelt dem Künstler über den Kopf, sagt, du bist der Grösste, und gibt ihm Geld. Dann kommt der Künstler zu uns und sagt, ich sollte jetzt eine Platte machen. Wunderbar, aber wie bezahlt man das?
Wäre die Verwendung von Crowd-Funding eine Lösung?
Das geht für einzelne Projekte. Wir bieten ein Abonnement an, das ist auch eine Form von Crowd-Funding. Die Kunden zahlen einen bestimmten Betrag und bekommen dafür im Jahr sechs CDs im Jahr. Im Moment haben wir mehrere 100 Abonnenten. Das bildet für uns eine wichtige finanzielle Basis.
Wie hast Du die Programmauswahl fürs Vortex-Festival getätigt?
Wir haben einerseits versucht, schweizerische und englische Künstlerinnen und Künstler in Verbindung zu bringen. Andererseits ist die Dramaturgie daraufhin ausgelegt, dass jüngere Acts an der Seite von bekannteren Künstlern auftreten. So gibt es immer zwei Acts pro Abend. Der Vermittlungsaspekt war uns sehr wichtig. Dass Musiker sich kennenlernen. Dass Julian Sartorius mit Steve Beresford spielt ist wirklich ganz toll. Oder Omri Ziegele mit Louis Moholo – grossartig!
Der Klarinettist Antony Morf (1944-2016) und der Komponist Walter Furrer (1902-1978) dürften sich anlässlich der Jahresversammlung des Schweizerischen Tonkünstlervereins 1974 kennengelernt haben.
Beatrice Wolf-Furrer
- 25. Jan. 2017
Antony Morf 2015. Foto: zVg
Auf das Deckblatt des Manuskripts Nahtegal, guot vogellin – es handelt sich um eine kleine Komposition für Kammerchor sowie vier Instrumente (Viola, Gitarre, Blockflöte, Tamburin) nach einem mittelhochdeutschen Text des Berner Minnesängers Heinrich von Stretelingen, die am 24. Mai 1975 von Studio Radio Bern ausgestrahlt wurde – hat Walter Furrer die handschriftliche Widmung «Für Herrn Morf» gesetzt.
Darauf aufmerksam gemacht hat mich die Lautenistin Irina Döring. Sie war Teilnehmerin des vom Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Bern im Wintersemester 2016 veranstalteten Seminars Den Schweizer Komponisten Walter Furrer vor dem Vergessenwerden bewahren (Leitung: Frau Prof. Dr. Cristina Urchueguía; Schwerpunkte: Musik nach 1600 / Editionsphilologie) und befasste sich mit dem genannten Werk.
Allein schon wegen der Seltenheit des Namens war es nicht allzu schwer, herauszufinden, wer sich dahinter verbarg. Nach einer Anfrage bei dem Berner Musikerehepaar Adrian und Helene Wepfer stand fest, dass es sich um Antony Morf handeln musste, der einige Jahre Erster Klarinettist des Berner Symphonieorchesters war. Da er in dieser Funktion später u. a. auch in Basel wirkte, setzte ich die Recherche beim Sinfonieorchester Basel fort und gelangte über einige Umwege schliesslich zu Herrn Cardinaux, einem Schüler Antony Morfs, und über diesen schliesslich zu Frau Dorothee Morf, der Witwe des Künstlers.
Während eines Gesprächs, das ich am 1. Dezember 2016 in Basel mit ihr führte, erhielt ich Einblick in die Biografie von Antony Morf und erfuhr auch, dass er und Walter Furrer einander begegnet sind. Allerdings muss ich schon jetzt einschränkend festhalten, dass diese Informationen ziemlich summarisch sind und somit keine charakteristischen Einzelheiten aufweisen. Das hängt damit zusammen, dass Antony Morf, obwohl ein gefragter, weit herum bekannter Orchester- und Solomusiker, von einer prononcierten Bescheidenheit war und daher bewusst nichts für die «Nachwelt» aufbewahrte. Hinzu kommt, dass auch im Nachlass Walter Furrers, von der erwähnten Widmung abgesehen, bisher keine schriftlichen Vermerke zu Antony Morf aufgetaucht sind.
Antony Morf wurde am 16. Juni 1944 in Genf geboren, besuchte dort das Gymnasium und hatte schon früh Klarinettenunterricht: So war er von 1958 bis 1963 am Genfer Konservatorium Schüler des holländischen Klarinettisten Léon Hoogstoël. Dort erwarb er das Lehrdiplom und gewann den Ersten Virtuosenpreis, anschliessend war er eine Zeitlang Privatschüler von Ferenc Hernad (Lugano). In der Folge erspielte er sich bei internationalen Musikwettbewerben mehrere Preise, so 1967 den Dritten Preis in Genf und 1970 den Ersten Preis in Budapest.
Von 1965 bis 1970 war er Mitglied des Quintette à vent romand. Er wirkte als Erster Klarinettist in mehreren Schweizer Sinfonieorchestern mit, von 1968 bis 1972 in Bern, anschliessend in Zürich sowie in Genf. 1978 wechselte er zum Sinfonieorchester Basel, wo er bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2006 tätig war. In der Saison 1972/73 wurde er als Solist der Abonnementskonzerte in Bern und Lausanne gefeiert. Dazwischen führten ihn viele Konzertreisen – als Solist sowie als Orchestermusiker – nach Paris, Monaco, Salzburg (Festspiele), Prag und Budapest. Er arbeitete mit den führenden Dirigenten seiner Zeit – Armin Jordan, Charles Dutoit u. a. – zusammen und wurde auch durch zahlreiche Plattenaufnahmen – so zum Beispiel bei der Firma Erato – bekannt; die Platteneinspielung von Igor Strawinskys Histoire du soldat wurde mit dem Grand Prix du disque ausgezeichnet. Antony Morf starb am 26. Mai 2016 in Basel.
Das Zusammentreffen mit Walter Furrer sei, so Frau Morf, am 18. Mai 1974 anlässlich der Jahresversammlung des Schweizerischen Tonkünstlervereins, dem Walter Furrer seit 1952 angehörte, zustande gekommen. Antony Morf gewann damals den mit 5000 Franken dotierten Ersten Preis. Irgendwie müssen die beiden einander spontan sympathisch gewesen sein. Wie mir Frau Morf sagte, verfügte ihr Mann, ebenso wie Walter Furrer, über eine fundierte literarische Bildung sowie – und darin liegt eine ausgesprochene Wesensverwandtschaft – über einen angeborenen Sinn für skurrile Komik; Honoré Daumier zählte zu seinen Lieblingskünstlern.
Somit dürften sich die beiden Musiker ungeachtet des Altersunterschiedes von vornherein gut verstanden haben. Ich füge aus eigener Kenntnis hinzu, dass Walter Furrer wegen seiner zweiten Heirat mit seinem eigenen Sohn, der die neue Frau nicht akzeptierte, zerstritten war. Er litt sehr unter dieser Entfremdung, und es wäre durchaus denkbar, dass er den jungen Klarinettisten als eine Art «Wahlsohn» erlebte. So gesehen, könnte man die eingangs genannte Widmung als eine spontane Sympathiekundgebung einstufen.
Ich danke Frau Morf herzlich für das Gespräch und die dabei vermittelten wertvollen Informationen. Mein Dank geht auch an den Schweizerischen Tonkünstlerverein in Lausanne, wo ich mir am 22. Dezember 2016 mit Hilfe des Geschäftsführers Johannes Knapp zusätzliche Notizen zu Antony Morf machen konnte
Musik mitteilen: offene Kompositionen von Max E. Keller
Einige frühe Stücke von Max E. Keller eignen sich als Beispiele für offene Kompositionen für mitschaffende Musikerinnen und Musiker. Der dänische Musikwissenschaftler Carl Bergstrøm-Nielsen zeigt ihre Strukturen, Notationsweisen und Zusammensetzungen auf und weist Bezüge zu späteren Werken nach.
Neue Musik nach dem zweiten Weltkrieg war anfänglich detailliert auskomponiert, wenigstens bei uns in Europa. Es dauerte jedoch nicht lange, bis verschiedene Formen von Offenheit in der Aufführung kamen. Die Entwicklung bei Stockhausen ist ein anschauliches Beispiel dafür und bietet einen ganzen Katalog von Verfahrensweisen: Zeitmasse von 1956 operiert mit «Unschärfegraden» im Tempo. Klavierstück XI von 1958 besteht aus vielen kleinen Abschnitten, die in nicht zuvor festgelegter Folge gespielt werden müssen, und ihre Inhalte sind auch variabel gemäss dem zuletzt gespielten Abschnitt.
In den späten Sechzigerjahren wurde die Offenheit radikal: Prozession von 1967 und eine Reihe weiterer Werke bedienten sich einer einfachen Notation, aus Plus- und Minuszeichen bestehend. Sie stand für bis vier frei gewählte, jedoch konsequent durchzuführende, gleichzeitig stattfindende Parameteränderungen. Schliesslich bestanden die beiden Sammlungen Aus den Sieben Tagen und Für kommende Zeiten (1968 und 1976 publiziert) hauptsächlich aus Texten. Verbale Mittel können Material be- oder umschreiben, traditionelle Formsequenzen oder auch individuelle, zyklische Formeln festlegen und vieles mehr.
Wer vorbringen will, dass es damals zwar eine Fülle von solchen Experimenten gegeben habe, sie seien aber eine Kuriosität der Geschichte geblieben ohne grosse praktische Bedeutung, der irrt sich. Zwar können die Sechziger- und Siebzigerjahre als «goldenes Zeitalter» dafür erscheinen, doch weitergehende Konsequenzen zeigten sich erst allmählich, jenseits von Sensation und Mode. (1 Anmerkungen siehe unten) Einige Komponisten machten daraus eine Spezialität. John Zorn etwa wurde in den Achtzigerjahren zur Kultfigur mit seinen Game Pieces, Cobra insbesondere. Sie waren vor dem Hintergrund von Christian Wolffs Kompositionen entstanden, die u. a. auf Interaktion zwischen den Spielern bauten. (2) Das Gesamtbild der Strömungen wurde komplexer. (3)
Obwohl improvisatorische Aufführungspraxis in Neuer Musik nicht überall üblich ist, sind doch Ensembles wie das Berliner Splitter Orchester (4), Zeitkratzer oder das Ensemble Modern bekannt. Die Literaturhinweise zu diesem Artikel deuten schon an, dass seitdem auch etwas geschehen ist, kompositorisch wie in der Forschung. Die Notenbeispiele von insgesamt 165 Autoren im Buch Notations 21 wurden sogar meistens im neuen Jahrtausend geschaffen. (5) Neuere Besprechungen sind Nonnenmann (2010) über Mathias Spahlingers Doppel Bejaht, und Neuner (2013).
Improvisation hat sich als eine experimentelle Praxis neben der Komposition ausgebreitet. Das gilt einerseits im Konzertleben: Eine gar stürmische Debatte trug sich zu in der Schweiz im Jahre 2010. (6) Andererseits wird Improvisation jetzt auch in den Musikhochschulen implementiert. (7) So kommt denn auch dem ganzen Zwischenbereich von Übungen, Absprachen, Konzepten ein erneuertes Interesse zu. Oder sagen wir einfacher: der offenen Komposition. Es geht ja um die Verwendung kompositorischer Verfahren in einem neuen Kontext von Aufführungspraxis. (8) Das Neue an der historischen Situation, jetzt, 60 Jahre nach Stockhausens Zeitmasse, könnte sein, dass die Integration von Improvisation und Komposition üblicher geworden ist. Der Komponist ist nicht mehr das einsame Genie. Teamwork, ein gewisses kollektives Räsonnieren und Handeln, ist selbstverständlicher geworden, wie ja auch in der Gesellschaft überall.
Neulich wurde in MusikTexte ein Artikel über die Kompositionen von Max Eugen Keller publiziert. (9) Die frühen Kompositionen für Improvisatoren wurden da indessen nicht behandelt. Den vorliegenden Artikel kann man daher als eine Ergänzung lesen oder einfach als eine Präsentation von Beispielen offener Kompositionen vornehmlich aus der Zeit um 1970. Es findet sich bei Keller eine Fülle von Strukturen, Notationsweisen und Zusammensetzungen, wie ich im Folgenden auszuführen versuche. Es werden im folgenden nur die Spielpläne wiedergegeben und einiges mehr referiert – die vollständigen Versionen mit sämtlichen Erklärungen kann man bei IIMA im Internet lesen: http://intuitivemusic.dk/iima/mk.htm
Der Ausführende soll während dem Spielen frei zwischen den 22 beschriebenen Verhaltensweisen wechseln. Die 4 grossgeschriebenen Wörter geben Ausgangspunkte an, die z. B. nützlich für den Anfang sein können. Grossformal haben wir es hier also mit einem aleatorischen, kaleidoskopischen Verlauf zu tun. (10) Es gibt eine endliche Zahl von Elementen, die von allen benutzt werden, unabhängig voneinander und in unvorhersehbarer Reihenfolge. Doch ist eine oft vorkommende Wiederkehr von Elementen wahrscheinlich.
Viele Instruktionen beschreiben musikalisches Verhalten, geben dabei nichts konkret Klingendes an, sondern beschreiben Relationen. Sie sind oft anderen Musikern entgegengesetzt, viele beschreiben aber auch das Unterordnen. Einige wenige befinden sich in einem quasi neutralen Mittelbereich, so besonders «Vermittle zwischen Kontrasten».
Der ästhetische Fokus richtet sich auf Konflikte und Kontraste, deren Formen in der Musik systematisch zugelassen und erforscht werden. Das Element «Pendle zwischen Kontrasten, ohne zu vermitteln» kann emblematisch dafür stehen. Die herkömmliche Praxis von Melodie und Begleitung wird nicht abgeschafft, aber sie bekommt die Möglichkeit des Kontrastierens zur Seite gestellt. Das kann man als eine Wiederentdeckung von Polyfonie bezeichnen. Sie wurde ja historisch vom harmonischen Denken in Akkorden, Melodie und Bass verdrängt. Ein Begriff wie «Imitation» deutet doch auf Formen menschlicher Kommunikation hin. Emotionalität kommt hier auch unvermeidlich ins Spiel, vergleiche auch den Titel des Stückes. Aber nicht um das einsame, expressionistische Individuum geht es hier: Affekt wird umgedeutet ins Soziale.
Die 22 Elemente lassen sich in ein Kontinuum oder, vielmehr, in mehrere einordnen, je nach Interpretation. Das könnte ein Kontinuum sein zwischen Selbstbehauptung und Unterordnung, zwischen –Gegensatz und Angleichung oder auch anderem. Das Denken in Kontinua war historisch eine Entdeckung der Serialisten. Wie Melodien Skalentöne umstellten, so konnte man dieses Prinzip auch in anderen Dimensionen verwenden. Das gilt zum Beispiel in Gesang der Jünglinge von Stockhausen für den Klang, der sich auf einer vorgestellten Linie, einem Kontinuum, zwischen elektronischen Klängen und Knabenstimmen scheinbar ganz zwanglos und «frei» bewegt. Die Methode dient so der Differenzierung und Integration des Materials.
Eine weitere Instruktion in den Erklärungen zu Psychogramm, die auch zur Differenzierung beiträgt, schreibt vor, dass die Spieler kontinuierliche Übergänge oder auch Sprünge zwischen den Elementen machen dürfen.
Die Grossform hier ist nicht aleatorisch, sondern sequenziell und bogenartig. Nach dem freien Spiel werden zuerst weitere Sektionen mit unterschiedlichem Material definiert, insgesamt 13. Dabei erreicht der Prozess ein Maximum an detaillierter Bindung in K und endet danach in N wieder im «freien» Spiel.
Der Prozess beruht auf Heterofonie: Das heisst hier, dass alle denselben Ablauf spielen, jedoch jeder in seiner eigenen Ausformung und in seinem eigenen Tempo, so dass die Übergänge fliessend werden. Strategisch ist es, dass die Sektionen klar unterschiedlich sind. Nur durch hörbares Feedback unter den Musikern wird die Koordination möglich.
Die Grossform entwickelt sich fort aus einer anfänglich als relativ einheitlich erkennbaren Mischung, «thematische Struktur» genannt (die innerste Zone mit a), b) und c)). Die Entwicklung unterliegt zuerst Regeln, die eine Einheit im Übergang von der einen zur jeweils nächsten Zone gewährleisten, daher werden in Zone 2 und 3 neue Regeln eingeführt. Nur das letzte Stadium, Zone 4, ist ganz ad libitum. Der Prozess wird zunehmend differenziert oder auch labyrinthisch. Eine bogenartige oder zyklisch-formelhafte Rückkehr zu früher gespieltem Material ist auch möglich, gewissen Regeln und den Pfeilen folgend.
Heterofonie ist hier wieder ein strukturell tragendes Prinzip (= alle bewegen sich in ähnlicher Weise mit Variationen). Sie wird aber auch überlagert vom Labyrinthischen, das aus dem Gebrauch unterschiedlicher, aleatorischer Elemente resultiert (= alle können einander in den späteren Stadien kontrastieren). Immerhin sind die aleatorischen Elemente innerhalb ihrer drei Kategorien in den zwei ersten Zonen einander deutlich ähnlich, so dass vorab eher eine Variation des schon Dagewesenen als völliger Kontrast erzeugt wird.
Wie in Psychogramm wechseln die Spieler hier individuell zwischen Elementen, die in diesem Stück aber frei grafisch notiert sind. Doch zeigen die Nummern über den Elementen die Dauer an: 1 = möglichst kurz, 5 = möglichst lang. Der Kontinuums-Gedanke ist auch hier am Werk und verhindert, dass die Elemente eine standardisierte Länge bekommen. Für eine ähnliche Variation der Pausenlängen ist auch gesorgt: Nach jedem Element macht der Spieler eine Pause, deren Länge dem Kreis entnommen wird. Die Nummern darin werden auf der gleichen Weise wie zuvor gedeutet. «A» und «E» zielt auf Zusammenfälle mit Anfang oder Ende von Elementen anderer Spieler, sofern «einigermassen zwanglos» möglich. Ausserdem gilt generell: «Das klangliche Ergebnis soll eine sehr dünne, durchsichtige Musik sein».
Minima ist relativ einheitlich im Klang und kontrastiert dadurch die anderen Stücke. Aber Variation in der polyfonen Dichte ist strategisch sehr wichtig. Der Komponist sichert sich durch die systematisch variierte Festlegung der Längen von Elementen und Pausen, dass nicht alle zur gleichen Zeit spielen und dass Pausen so oft und so variiert vorkommen, dass die Zahl der aktiv Spielenden ständig variiert. Dabei kann man auch damit rechnen, dass selbst bei derselben Dichte verschiedene Konstellationen von Spielern auftreten, was auch zur Variation beiträgt.
Zusammenfassende und perspektivierende Bemerkungen
Kompositorische Analyse und Ausarbeitung
Diese kleine Auswahl von vier Stücken umfasst Extreme von klanglich vehementen Interaktionen in Psychogramm bis hin zu den dünnen, durchsichtigen Klängen aus dem Reduktionismus von Minima. Dagegen sind Stück für Improvisatoren sowie cum processio … eher eklektisch im Material. Menschliche Interaktionsformen, Wechsel von Stadien, die von allen Spielern «karawanenartig» durchwandert werden, labyrinthischer Prozess und sensitive Variation in der polyfonen Dichte sind ausgewählte kompositorische Aspekte. Die Stücke sind nicht auskomponiert im Sinne von Detailliertheit auf der Mikroebene – wohl aber in dem Sinne, dass sie auf Ideen beruhen, die kompositorisch ausgewertet und dann systematisch ausgearbeitet wurden. Die 22 Interaktions-Elemente in Psychogramm und die 27 grafische Elemente in Minima sind immerhin Beispiele einer Detailliertheit, die weitgehend genügt, um eine Fülle von Möglichkeiten deutlich zu suggerieren.
Notation und wie sie die Form mitdefiniert
Text spielt eine grosse Rolle in der Notation dieser Auswahl. Mit verbalen Mitteln kann man bestimmte Klänge bezeichnen, auch solche, die jenseits der zwölf Töne liegen, z. B.: «Zw. zwei Farben kontinuierlich abwechseln.» Man kann aber auch Relationen beschreiben zwischen Klängen oder zwischen Musikern, wie dies so prominent der Fall in Psychogramm war. Anders als mit Wörtern hätte man sie doch kaum definieren können. Und mit Noten wären zwar Nachahmungen von Affekten und Reaktionen möglich – aber um den Preis der Lebendigkeit.
Freie Grafik ist auch in zwei Stücken von Bedeutung (Minima und cum processio). Freie Grafik verstehe ich hier im Unterschied zu formalisierten Zeichensystemen. Man denke etwa an die Plus-Minus-Notation von Stockhausen, was das Formalisierte betrifft. (11) Doch ist es hier auch relevant zu bemerken, dass schon das Layout ein wichtiges Mittel zur Formalisierung ist. Die einfache, lineare Sequenz in Stück für … wird den gleichberechtigten, aleatorischen Elementen in Psychogramm und Minima und zugleich der konzentrischen Struktur in cum processio gegenübergestellt.
Detaillierte oder konzise Vorlage
Weil diese vier Stücke eine weitere Entfaltung durch improvisatorische Mitwirkung seitens der Musiker voraussetzen, sind sie kurz und konzis, leicht zu lesen und zu überblicken – egal, ob sie nun «Konzepte» oder «offene Kompositionen» heissen sollen. (12) Wenn eine in allen Details ausgearbeitete Version nicht mehr gefordert wird, dann kann das Werk, wie der französische Komponist Jean-Yves Bosseur formuliert, zu «einem starken Organismus, mit seinen vollen Potenzialen» werden. (13) Eine in allen Details ausgearbeitete Version würde nach diesem Gedankengang «weniger» bieten, weniger Diversität der möglichen Versionen. (14) Der österreichische Komponist Christoph Herndler (2011) ist hiermit ganz auf einer Linie: Wenn es um die schriftliche Form geht, ist es sein Ziel, «die Musik nicht nur festzuhalten, sondern auch mitzuteilen».
Materialbegriff und Aufführungspraxis historisch
Die Aufführungspraxis wandelt sich historisch auch in unserer Zeit. (15) Aus der Perspektive der grossen Linien gesehen, kann das nicht losgelöst vom Materialbegriff in der Neuen Musik betrachtet werden. Mit einer Bezeichnung, die von Levaillant (1996) stammt, gehen wir grundlegend vom «rohen Klangmaterial» aus (Le fait sonore brût), sowohl im frühen Serialismus als auch in freier Improvisation. Nicht nur die klanglichen Begrenzungen der Notenschrift, auch das Wünschenswerte darin, die Entitäten, womit man komponiert, in allen Hinsichten frei definieren zu dürfen, fordern dazu auf, nach Lösungen jenseits der Kompromisse des traditionellen Notenschreibens zu suchen. Und schon gar nicht zu sprechen von gewissen interessanten menschlichen Erfahrungen. (16)
Allmählich verblasst die Autorität alter Theoretiker wie Dahlhaus und Adorno, für die ein Delegieren seitens des Komponisten nichts anderes als ein Mangel an Verantwortung bedeutete. Kopp (2010) berührt die historische Dimension, indem er noch gegen die beiden genannten Autoren argumentiert. Jahn (2006) ist hingegen für die traditionelle Schrift. Er führt eine eigenständige These aus, indem er gegen zu grosse «Freiräume» in Kompositionen auf psychologischer Grundlage argumentiert. Dabei illustriert er seine Ansicht mittels der Metapher einer Leitplanke an der Autobahn – die Leitplanke repräsentiert, was notiert ist, die Musik selber ist alles, was nicht notiert ist. Wieso nun das sehr geregelte Fahren auf der Autobahn ein so hohes Ideal für das ästhetische Streben werden kann, habe ich nie ganz verstanden, doch jedem das Seine!
Die Bedeutung von Interaktion und die Folgen für die Formbegriffe Psychogramm zeigt eine originelle Verwendung von Interaktion als kompositorisches Material. Das Stück ist ein frühes Beispiel für eine systematische Ausarbeitung differenzierter interaktiver Rollen – interessanterweise noch vor der Publikation des Artikels von Vinko Globokar über Das Reagieren(17), der ganz ähnliche Rollen beschreibt. Siehe hierzu auch noch den Artikel von Keller selbst (1973) über die Bedeutung sozialer Prozesse und Erlebnisse von Gemeinschaft, auch seitens der Hörer.
Generell ist, wie oben bei der Besprechung dieses Stücks angedeutet wurde, Polyfonie, und zwar eine direktere, wiederentdeckte, bei improvisatorischer Aufführungspraxis von Relevanz. Es leuchtet ein, dass das strikt Homofone abhängig von einer äusseren Koordinierung ist. Heterofonische Techniken liegen auf der Hand – in Stück für Improvisatoren erzeugt dieses Prinzip wegen der karawanenartigen Anlage sowohl vertikale wie horizontale Diversität bei den Übergängen zu neuen Sektionen und ebenso Stellen, die von Konsens geprägt sind. Der Komponist kann lineare Verläufe in gröberem oder feinerem Umriss festlegen, doch weil der interaktive Prozess leicht zu unvorhergesehenen Entwicklungen tendiert, kann Aleatorik einen neuen Stellenwert bekommen, und zwar für die Form. Sie sorgt in Psychogramm und Minima dafür, dass der Musiker ständig freie Wahlmöglichkeiten hat. Hier sind wir weit entfernt von den feingeschnittenen, herumwirbelnden Strukturen bei Penderecki und anderen polnischen Komponisten, die sich ja auf einer Detailebene abspielen. Es gibt noch viel zu erforschen, wie Musiker durch ihre Wahl im Spiel den Formverlauf beeinflussen oder bestimmen können.
Schlussfolgerung
Die vier Stücke von Keller machen Gebrauch von einer beträchtlichen Reihe kompositorischer Methoden und Griffe: eingehende Analysen des Materials, Aleatorik auf Form bezogen, Polyfonie, Heterofonie, sequenzielle Form, Labyrinthform, Relationen als musikalisches Material, nichtetablierte Notationsformen. Sie tragen dazu bei, herkömmliche Komposition mit einer noch relativ neuen Form von Aufführungspraxis zu verbinden. Interaktion beeinflusst die Form der Zusammenarbeit. Es werden konzise Notationen verwendet, welche die Idee des Komponisten unmittelbar mitteilen und somit ein Minimum an analytischer Entzifferung braucht – sowohl für Musiker als für interessierte Hörer.
Appendix: Spätere offene Werke Kellers
Musik wird innerhalb verschiedener Traditionen unterschiedlich hervorgebracht. Die weitaus am meisten gespielte klassische Musik wird heutzutage aufgeführt, ohne dass improvisatorische Fähigkeiten dazu nötig wären. Doch sie verlangt weitgetriebene technische Fertigkeit und eine effektive Produktionsweise. Blattlesen ist dabei wichtig, so dass die Probezeit auf ein Minimum gekürzt werden kann. Viele Komponisten ziehen die Konsequenz, auch für Neue Musik eine hauptsächlich traditionelle Schrift zu verwenden, um sich den Zugang zum Publikum nicht zu versperren. Für Keller waren darüber hinaus auch Texte und Botschaften mit politischen Inhalten wichtig. (18)
In der Pädagogik geht es weniger um effektive Kulturproduktion als darum, sich in Inhalte zu vertiefen und sie kennenzulernen. Das können wir eine andere Methode nennen und sie als «workshopähnlich» bezeichnen. Die Musiker entdecken oder entwickeln gar allmählich das Feld und bestimmen das Resultat mit. In 5 Improvisationsmodelle für Jugendliche (1995) (19) und im gleichnamigen 5 Improvisationsmodelle für Jugendliche (2008) treten Strukturen auf, die den frühen Kompositionen ähnlich, jedoch einfacher sind. Es gibt auch herkömmliche, lineare und einfache Partituren. Es folgt nun indessen ein Beispiel, Zündschnur aus der späteren Sammlung, das heterofone und formelhafte Strukturen exemplifiziert. Diesmal ist die Notation ausschliesslich verbal:
Die workshopähnliche Methode ist unter Ensembles verbreitet, welche die Freiheit haben, sich ihre eigene Arbeit selbst zurechtzulegen. Die oben analysierten frühen Stücken entstanden denn auch im Umfeld der von Keller gegründeten Gruppe für Musik. Damals arbeitete er auch improvisatorisch mit Gerhard Stäbler und Wah Schulz.
Von 2003 stammen einige Improvisationskonzepte, geschrieben für eine Gruppe mit Stefan Wyler (trp), Alfred Zimmerlin (vcl) und Dani Schaffner (perc). Keller selbst spielte auf Klavier und Synthesizer. Elektronische Klangumwandlung konnte bei allen eingesetzt werden. Die Kompositionen gehören in eine «Grauzone». Sie sind nur für die betreffenden Musiker formuliert und haben die vollständigen Erklärungen nicht, die für die oben analysierten Stücke charakteristisch waren. Sie können aber Beispiele dafür sein, wie man unter sich Kompositionen schnell realisieren kann, mit Stichwörtern und wenig Aufwand. Ausser Spielanweisungen sind in diesen Konzepten eine Menge technische Angaben zur Einstellung der Apparatur. Diese zu verallgemeinern wäre sicher eine besondere Aufgabe gewesen, eine andere, velleicht etwas weniger schwierige wäre es, von den spezifischen Instrumenten zu abstrahieren. Könnte z. B. «Cello» durch einen anderen Streicher ersetzt werden oder durch irgendein anderes Instrument? In ihrem spezifischen Kontext müssen solche Fragen indessen gar nicht beantwortet werden.
Aus Im Metall hier eine Spielregel, die auf der Interaktion der Musiker beruht und Erfahrungen der Neunzigerjahre mit «dirigierter Improvisation» integriert:
Aus Ohn End ein Partiturausschnitt – für Aussenseiter würden die Stichwörter wohl ziemlich abstrakt erscheinen. Denkbar auch, dass «free» ein gewisses Einverständnis unter den Musikern einschliesst, besonders wenn die Stücke zuvor erprobt waren. Zumindest ist zu vermuten, dass sie mit den Spielweisen der anderen etwas vertraut waren.
Improvisation und experimentelle Aufführungspraxis tauchen auf in einem Werk mit politisch orientierten Texten aus letzer Zeit, nämlich Mobile für 1–5 Instrumente ad libitum von 2013.
Die Elemente in den Kästen können frei kombiniert werden. Doch das «Floskel-Feld» soll zum Beginn stehen und mindestens zweimal im Laufe des Stückes aufgegriffen werden. Texte können verschiedenartig vorgeführt werden gemäss Anweisungen. Zusammen mit den instrumentalen Elementen haben wir also hier wahrhaftig eine Collage: Sätze können sich chaotisch übereinander lagern. In ihnen geht es um ernste Probleme, die keineswegs zueinander in Beziehung stehen, sondern schroff einander gegenüberstellt werden. Ebenso schroff steht das hochdifferenzierte Spielen den prominenten «Floskeln» gegenüber. Das Stück kommt aber dem Blattlesen entgegen dadurch, dass Tonhöhen und Rhythmen detailliert auskomponiert sind. Dabei bedeutet [G], dass der Ton geräuschhaft sein kann. Wiederum diplomatisch für die klassisch ausgebildeten Musiker kann dies aber ausgelassen werden.
Kellers offene Kompositionen seit 1970/71 bauen auf Entdeckungen, die eingehend in frühen Stücken untersucht wurden: erweitertes Material, anschauliche Notation, Interaktion als wesentliche Dimension, schaffende Zusammenarbeit. Sichtbar werden aber auch originelle pädagogische Arbeiten sowie eine informelle kompositorische Arbeitsweise. Und ein Beispiel für einen Brückenschlag zwischen den sonst getrennten Arbeitsmethoden von Blattlesen oder Workshop.
Carl Bergstrøm-Nielsen ist ein dänischer Komponist, Improvisator und Musikforscher.
1
Zu Konsequenzen ausserhalb des Konzertlebens sei hier nur kurz angedeutet, dass die Musikpädagogik neu gestaltet wurde und dass die neuere Musiktherapie als Fachdisziplin ins Leben gerufen wurde.
2
Siehe Bergstrøm-Nielsen (2002ff), Sonderkategorien über Wolff und Zorn G2.5 und G2.3 (sowohl alte als neue Abteilung), auch Gronemeyer et al (1998). Vitkova (2005) attestiert, dass Wolff nicht nur in den Sechzigerjahren so komponierte, sondern auch später, z. B.in For John (2007).
3
Polaschegg (2007) und (2013) enthalten ausführliche Signalemente davon.
4
Reimann (2013)
5
Sauer (2009)
6
Zündsatz dieser Explosion schien der Artikel Meyer (2010) zu sein. Die Diskussion setzte sich fort in Dissonance (2010) und Kunkel (2010) mit mehr als 35 Teilnehmern. Nachher wurde Nanz (2011) veröffentlicht. – Schon Meyer (2007) berichtete vorher von regen Diskussionen über Improvisationsfragen.
7
In Luzern kann man einen Bachelor of Arts in Music mit Schwerpunkt Improvisation erwerben. Mäder et al (2013) enthält eine Dokumentation und didaktisch-inhaltliche Reflexionen. Jeremy Cox, Leiter der Association Européenne des Conservatoires schätzte ein, dass 90% der zirka 200 Mitglieder Improvisationsunterricht eingeführt haben. Siehe Cox (2012). Andere wichtige Orte, wo freie Improvisation gelehrt wird, sind beispielsweise Gent, Belgien; Den Haag, Holland; Oslo, Norwegen.
8
Siehe die Diskussion bei Mäder et al (2013) p.38f.
9
Amzoll (2015)
10 Aleatorisch, nach latein alea=Würfel, bedeutet zufallsbezogen, doch innerhalb eines definierten Rahmens.
11
Siehe Müller (1997)
12
Eine Diskussion dieser Begriffe findet sich am Ende des Artikels Bergstrøm-Nielsen (2002).
13
Bosseur (1997), Übersetzung des Verfassers
14 Als Komponist kann ich darüber hinaus persönlich bestätigen, dass es ein grosses Vergnügen sein kann, ganz unterschiedliche Versionen desselben Werkes zu hören zu bekommen. Die Interpretationsweisen können sich sogar über die Jahrzehnte wandeln.
15
Müller (1994) vertritt die These, dass für die Analyse indeterminierter Musik (das umfasst nach seiner Auffassung auch Stockhausens Prozession) die alleinige Betrachtung von Methode seitens des Komponisten und von Rezeption nicht ausreicht. Wenn der Komponist die gestalterische Arbeit mit einem Interpreten teilt, dann muss die Aufführungspraxis als solche untersucht werden. Kopp (2010) führt einen ähnlichen Gedankengang aus.
16
Ochs (2000) deutet auf die Vorteile der kreativen Zusammenarbeit hin: «… the decision to use (structured) improvisation … to create the possibility of even more … than the composer imagined possible … Or, at the very least, to allow for the possibility of different or fresh realizations … with each performance» (p.326).
17
Globokar (1970)
18
Siehe Amzoll (2015) für eine allgemeinere Orientierung über Kellers Schaffen
19
Eine Auswahl davon ist im Nimczik/Rüdiger (1997) publiziert.
Literaturhinweise
Amzoll, Stefan (2015):
Farbenfahrten. Der Schweizer Komponist und Improvisator Max E. Keller. MusikTexte 147, November.
Bergstrøm-Nielsen (2002): Offene Komposition und andere Künste. ringgespräch über gruppenimprovisation, Juni. Online: www.intuitivemusic.dk/iima/ – siehe Bergstroem-Nielsen.
Bergstrøm-Nielsen, Carl (2002ff):
Experimental improvisation practise and notation.
An annotated bibliography. With addenda. Online: www.intuitivemusic.dk/iima/ – siehe Bergstroem-Nielsen.
Bosseur, Jean-Yves (1997): Le Temps de le Prendre. Paris (Editions Kimé).
Cox, Jeremy (2012):
Mündliche Kommunikation anlässlich des Vortrags QUO IMUS?: a «premeditated improvisation» on ideas stimulated by the Symposium and their implications for European music academies. Symposium Quo vadis, Teufelsgeiger?, Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, 28.Januar 2012.
Globokar, Vinko (1970):
«Réagir», musique en jeu 1, 1970. Deutsche Version in Melos 1971,2 (ohne Musikbeispiele). Online: http://intuitivemusic.dk/iima/ – siehe Globokar.
Gronemeyer, Gisela; Oehlschlägel, Reinhard (1998): Christian Wolff. Cues. Writings and Conversations / Hinweise. Schriften und Gespräche, in: Edition MusikTexte 005.
Herndler, Christoph (2011):
Wegmarken beim notieren unvorhersehbarer Ereignisse, in: «31» – Das Magazin des Instituts für Theorie, Nr. 16/17, S. 126 ff. ISSN 1660-2609 (Schweiz).
Jahn, Hans-Peter (2006): Zur Qualität des Gedächtnisverlusts. Fesseln der Notation, MusikTexte 109, Mai.
Keller, Max E (1973):
Improvisation und Engagement, Melos 4.
Kopp, Jan (2010):
Vom Handlungssinn der Schrift. Die Erfahrung des Musikers als Gegenstand von Komposition. MusikTexte 125, Mai, S. 32-43.
Kunkel, Michael (ed.) et al (2010):
Diskussion…. Dissonance, Schweizer Musikzeitschrift für Forschung und Kreation 111, Dezember, S. 64-77. Online: http://www.dissonance.ch/de/hauptartikel/82
Levaillant, Denis (1996): L’Improvisation Musicale. (Biarritz, Editions Jean-Claude Lattès 1981). Teil einer Serie: Musiques et Musiciens. New edition: Arles 1996
Mäder, Urban; Baumann, Christoph; Meyer, Thomas (2013): Freie Improvisation – Möglichkeiten und Grenzen der Vermittlung. Serie: Forschungsbericht der Hochschule Luzern – Musik 5. Elektronisches Dokument. Online: https://zenodo.org/record/31339/files/2013_5_Maeder-Baumann-Meyer.pdf
Müller, Hermann-Christoph (1994): Zur Theorie und Praxis indeterminierter Musik. Aufführungspraxis zwischen Experiment und Improvisation. Regensburg (Gustav Bosse Verlag). Kölner Beiträge zur Musikforschung (Niemöller, Klaus Wolfgang ed.) Band 179.
Müller, Hermann-Christoph (1997):
plus minus gleich. Karlheinz Stockhausens «Prozession», MusikTexte 67/68, Januar.
Nanz, Dieter A. (Hrsg.) (2011):
Aspekte der freien Improvisation in der Musik. Hofheim (Wolke Verlag).
Nanz, Dieter A. (2007): Improvisieren und Forschen. Gedanken am Rande der Basler Improvisationsmatineen. MusikTexte 114, August, S.83-84.
Neuner, Florian (2013): Auf der Spitze des Eisbergs. Die Berliner Komponistin und Verlegerin Juliane Klein. MusikTexte 139, p.5-13, November.
Nimczik, Ortwin/Rüdiger, Wolfgang (1997): Einstimmige vielstimmigkeit. Drei Improvisationsmodelle von Max E. Keller (1995), Musik und Bildung 1, Januar/Februar.
Nonnenmann, Rainer /(2010):
Wider den Utopieverlust. Mathias Spahlingers «doppelt bejaht» beschreitet neue Bahnen. MusikTexte 124, Februar.
Vitková, Lucie (2015): Learning to Change with the Music of Christian Wolff, in: Rothenberg, David (ed.): vs. Interpretation. An Anthology on Improvisation, Vol.1. Prague (Agosto Foundation), p.51-62.
Ochs, Larry (2000):
Devices and Strategies for structured improvisation, in: Zorn, John (ed.): Musicians on music. New York (Granary Books/Hips Road). P. 325-335.
Polaschegg, Nina (2007):
Verflechtungen. Zur Neubestimmung des Verhältnisses von Komposition und Improvisation, MusikTexte 114, August.
Polaschegg, Nina (2013):
Gegenseitiges Befruchten und Durchdringen. Zum Spannungsfeld von Komposition und Improvisation. MusikTexte 139, November 2013.
Reimann, Christoph (2013): Kollektives Individuum. Das Berliner Splitter Orchester. MusikTexte, August, 29-35.
Glaubt man dem ersten deutschsprachigen «Musicalischen Lexicon» von Johann Gottfried Walther (1728), so war der Barockkomponist Albicastro (1662?–1730) «ein Schweitzer». Ein Nachweis oder Gegenbeweis war allerdings Jahrhunderte lang nicht zu finden.
SMZ/Otmar Tönz
- 20. Okt. 2016
Die Unterschrift von Johann Heinrich Weissenburg alias Albicastro. Foto: zVg
Dokumente, die erst in diesem Jahr aufgetaucht sind, verweisen nun mit grösster Wahrscheinlichkeit auf Klosterneuburg bei Wien als Herkunftsort. Gefunden hat sie der niederländische Philosoph und Genealoge Marcel Wissenburg, der im Interview in der Musikzeitung von Oktober/November 2016 (S. 10 ff) darüber berichtet. Wo der Komponist seine musikalische Ausbildung erhielt – er war offenbar ein virtuoser Geiger –, wie er in die Niederlande kam, das Land, in dem er den grössten Teil seines Lebens verbrachte, warum er ausgerechnet in der umtriebigsten Zeit seiner Militärkarriere die meisten seiner Werke schrieb und warum er dann plötzlich zu komponieren aufhörte, ist aber immer noch unklar.
Otmar Tönz, emeritierter Professor und ehemaliger Chefarzt der Kinderklinik Luzern sowie passionierter Musikforscher, begann 2006, nach dem Herkunftsort Albicastros zu suchen. 2010 berichtete er zusammen mit dem Musikwissenschaftler Rudolf Rasch in einem Artikel der Schweizer Musikzeitung über die Forschungen (SMZ 4/2010, S. 19 ff.)
Die ausführlichen Forschungsergebnisse der bis dahin letztlich ergebnislosen Suche haben Rudolf Rasch und Otmar Tönz auch in einer 65-seitigen Publikation zusammengefasst: Otmar Tönz, Rudolf Rasch, Henrici Albicastro, 2., überarb. und erw. Auflage. [Fachhochschule für Musik], Luzern 2011.
Albicastro hat 51 Sonaten für Solovioline (mit B.c.), 2 für Viola da Gamba, 60 Triosonaten und 12 Concerti (Quartette) komponiert; zudem die Soprankantate Coelestes angelici chori. Von den 11 Sonatensammlungen sind 2 gänzlich und 2 teilweise verschollen, Opus II vermutlich erst seit dem zweiten Weltkrieg.
Kurzbiografie Albicastros und kleine Werkschau
Autor: Otmar Tönz (1926-2016)
Wissenstand 2015
Kurz nach der Mitte des 17. Jahrhunderts wurde im europäischen Kulturraum ein Knabe namens Joh. Heinrich Weissenburg geboren; zwar ohne offiziellen Eintrag in einem Taufregister, d.h. die Nachwelt kannte weder den Namen der Mutter, noch den Beruf des Vaters, weder das Taufdatum des Knaben, noch der Ort seiner Herkunft. Nicht aus Akten, sondern aus dem weiteren Verlauf seiner retrospektiv erfassten Lebensgeschichte erfahren wir, dass dieser Knabe ein ausserordentliches Talent besass: Er beherrschte früh das Geigenspiel auf hohem Niveau und auch Musiktheorie und Kompositionslehre erlernte er mühelos.
Das erste und einzige Dokument, das wir besitzen stammt vom bereits erwachsenen, jungen Weyssenburg, der die Stelle eines Musicus Academiae der Universität Leyden in den Niederlanden erhielt. Wie es ihn in die Niederlande verschlug, ist nicht bekannt. Auf dem genannten Dokument der Universität ist ausser der Anstellung ein sehr wichtiges Faktum wiedergegeben: Er bezeichnet sich bezüglich Herkunft als Viennensis (aus Wien). Wahrscheinlich haben ungezählte Albicastro-Fans seither die kirchlichen und weltlichen Akten in Wien durchforscht, aber – wie wir – ohne Erfolg.
Verwirrung schaffte dann das später erschienen Lemma «Albicastro» im ersten Deutschsprachigen Musiklexikon von J.G. Walther (1728): «Albicastro (Henrici) ein Schweitzer, Weissenburg eigentlich genannt … » nun fokussierte sich das Interesse auf die Schweiz, bis heute. Seine Werke wurden in der Reihe «Schweizerische Musikdenkmäler» ediert und vom Bund finanziert. Die ersten wissenschaftlichen Arbeiten wurden auch hierzulande gemacht. Der Schweizer Violinist und Bayerische Kammermusiker Walter Probst hat das gesamte, damals noch nicht gedruckte Werk in sehr schöner Handschrift kopiert und gleichzeitig den Bass ausgeschrieben. Schliesslich entdeckte Prof. Kurt Fischer in den 1970er-Jahren die Solokantate Coelestis angelici chori im Brüsseler Konservatorium.
Von der Kindheit und Jugend Albicastros wissen wir also nur, dass er ein frühreifes musikalisches Genie bezüglich des Violinspiels und der Komposition von ein- und mehrstimmigen Sonaten, vorwiegend im italienischen Stil (Vorbild: Arcangelo Corelli), war. Leider wissen wir nichts über seine schulische und musikalische Ausbildung. Die Lateinschule (und den Italienischunterricht) besuchte er wahrscheinlich nur auf einer untersten Stufe; zu häufig sind seine orthografischen und grammatikalischen Fehler, z. B. der Gebrauch des Genitivs für seinen Vornamen.
Militärische und musikalische Laufbahn
In den Niederlanden trat Weissenburg auch in die Armee ein, wo er in einer langen und erfolgreichen Karriere zehn Ränge aufsteigt, vom Unteroffiziert bis zum Rittmeister. Er diente in Niederländischen Regimentern, die im Spanischen Erbfolgekrieg eingesetzt waren. Ab 1706 signiert er seine musikalischen Werke ausschliesslich mit Henrici Albicastro, seine dienstlichen und privaten Papiere seit 1686 mit (Johan) Hendrick van Weyssenburgh.
Mit etwa 40 Jahren erfolgte ein tiefgreifender Bruch in seiner Lebenslinie: Er legte seine Violine beiseite und konzentrierte sich ausschliesslich auf seine militärische Laufbahn bei den berittenen Truppen. Der Berufswechsel ist wohl als Ausdruck seines Ehrgeizes zu verstehen. Eine Gruppe von Schweizer Grafologen sieht seinen persönlichen Traumplatz auf dem «Feldherrenhügel».
Familiäre Verhältnisse
1705 heiratete er Cornelia Maria Coeberg, eine Kaufmannstochter aus Grave, einer Festungs- und Garnisonstadt an der Maas. Nach der Geburt seines ersten Kindes gründeten sie einen eigenen Hausstand an der gleichen Strasse (Klinkerstraat), schräg vis à vis ihrer Eltern. Das erste Kind hiess Gerhardus Alexander, der in den Fussstapfen seines Vaters ebenfalls eine militärische Laufbahn einschlug, aber leider schon mit 22 Jahren verstarb. Dann folgt die Tochter Johanna Allegundis, tüchtig, arbeitsam und intelligent, die den Gutsverwalter des Fürstenhauses Hohenzoller-Sigmaringen – Petrus Johannes Hengst – heiratet und eine kinderreiche Familie hinterliess, deren letzte Nachkommen bis heute leben.
Dann folgte wieder ein Knabe, Johannes Michaelis, der ebenfalls, wie Gerhard die Lateinschule bei den Karmelitern in Boxmeer absolviert hatte. Diesem gelang dann die militärische Karriere endgültig. Aber trotz seiner zehn Kindern versiegt der Stamm der von Weissenburgs bei seinen Grosskindern, sodass dieses Geschlecht in den Niederlanden ausgestorben oder ausgewandert ist. Schliesslich folgt als viertes noch die Tochter Everdina Alexandrina. Nur bei ihr besitzen wir den Taufbucheintrag. Sie wurde 1713 in Grave geboren und ist 1734 als Krankenschwester dem Karmeliterorden beigetreten.
Zu einem Hinscheiden seiner Frau fehlt jeder Hinweis. Jedenfalls heiratete der 61-jährige Witwer am 15. Februar 1722 ein zweites Mal. Die Erkürte war Petronella Baronessa Rhoe d’ Oppsinnigh, eine Baronin, die vielleicht seinem Traum vom Feldherrenhügel zu entsprechen vermochte, aber deren Lebensstil die finanziellen Möglichkeiten des Rittmeisters bei Weitem überstieg. Zunächst mussten zwei Pferde plus Kutsche und eine entsprechende Stallung angeschafft werden. Das luxuriöse gesellschaftliche Leben und weitere Kosten führten nicht nur in die Armut, sondern zu einem grossen Schuldenberg, den die Kinder aus erster Ehe und die Witwe der zweiten Heirat abzutragen hatten.
Kompositorisches Werk
Wenn Albicastro beim Eintritt in die militärischen Schulen seine Geige abgelegt hat, so gilt das nicht für sein Kompositionsheft. Paradoxerweise begann da seine musikalisch produktivste Phase seines Lebens. Es ist fast unglaublich, dass er in den Jahren seiner militärischen Ausbildung und ersten Karriereschritte genau 100 Sonaten komponiert hat, meist 4-sätzige, in allen Dur- und Moll-Tonarten, technisch zum Teil sehr anspruchsvoll: voller Doppelgriffe und ausgedehnter fugierter Sätze. Das Schreiben allein ist eine Riesenarbeit. 100 Sonaten sind für andere ein Lebenswerk. Rechnen wir die früheren und späteren und verschollenen Werke dazu, so kommen wir auf etwa 130 Kompositionen, vor allem Sonaten.
Eine Sonderform sei hervorgehoben, die Folia, ein Thema mit «ausgelassenen» Variationen. Auch Corelli hat eine Folia geschrieben; op. V / Nr. 6. In Ehrerbietung zu seinem geistigen Lehrer reiht Albicastro die seine ebenfalls als op. V / Nr. 6 ein. Ein Vergleich ergibt: Der Römer schreibt nach den Regeln der Kunst, hält die historisch vorgeschriebenen Takt- und Satzzahlen ein, lebhaft, aber nicht ausgelassen, künstlerisch sehr sauber. Bei Albicastro ist es eher wild, die Sätze unterschiedlich lang, zum Teil sehr hohe Tempi, emotional stärkere Ausbrüche und ein rauschende Finale in den Schlusstakten.
Die einzige vokale Komposition Albicastro ist Coelestes angelici chori, eine geistliche Solokantate für hohe Stimme, Streicher und Basso continuo. Vielleicht das letzte Musikstück von Albicastro? Ein wunderschönes Gesangswerk, das mit einem brillanten, reich kolorierten Hauptsatz eröffnet wird. Dann folgt ein unglaublich schönes Rezitativ (wie man es fast nur von Bach kennt), gefolgt von einem zart fliessenden Adagio, in welchem weiche Solo-Violinen den Gesang umweben. Dann schliesst ein festliches Halleluja die Kantate ab.
Am 18. Juni 2016 hat Pierre-Alain Monot sein Abschiedskonzert als Leiter des Nouvel Ensemble Contemporain in La Chaux-de-Fonds gegeben. Im Gespräch mit Gianluigi Bocelli spricht er über diesen wichtigen Moment des Aufhörens, seinen Werdegang und seine Pläne.
Interview: Gianluigi Bocelli; Übersetzung: Pia Schwab, 28.06.2016
- 28. Juni 2016
Foto: Pablo Fernandez
Über zwanzig Jahre hat Pierre-Alain Monot mit seinen musikalischen Grenzgängen die Geschicke des Nouvel Ensemble Contemporain (NEC) geprägt. In dieser Zeit ist das Ensemble zu einer der wichtigsten Formationen im Bereich der zeitgenössischen Musik in der Schweiz und im Ausland herangewachsen.
Pierre-Alain Monot, erzählen Sie uns etwas über diesen Abschied?
Ein Kreis schliesst sich. Was irgendwann anfängt, muss auch irgendwann wieder enden. Und in der Kunst ist es am besten, wenn das auf dem Höhepunkt geschieht, mitten im kreativen Fieber. Die Bedingungen für eine Stabübergabe sind günstig: Im vergangenen Jahr hat das NEC sein zwanzigjähriges Jubiläum gefeiert, das wollte ich nicht verpassen. In der Saison 2015/2016 konnten wir diesen Übergang dann reifen lassen. Die Farbgebung der Programme wird sich ändern, das ist normal. Aber es sind alle Elemente vorhanden, damit sich das NEC natürlich und kontinuierlich weiterentwickeln kann. Antoine Françoise, einer der Pianisten des Ensembles, wird neuer künstlerischer Leiter. Einen Chefdirigenten wird es nicht mehr geben.
Mit welchen Gefühlen machen Sie diesen Schritt?
Natürlich kommt Wehmut auf, Melancholie, denn ich habe hier langjährige Freunde. Ich wohne im Kanton Zürich, die örtliche Distanz wird sich also bemerkbar machen. Aber ich bin nicht traurig. Ich wäre es, wenn ich das Ensemble in einer schlechten Phase oder mit Problemen verlassen würden, aber es geht alles so gut!
Und was haben Sie nun für musikalische Pläne?
Oft wird man nur als Dirigent gesehen, ich bin aber Musiker. Ich werde weiterhin als Solo-Trompeter beim Musikkollegium Winterthur tätig sein und dort auch ab und zu zeitgenössische Stücke – mein Spezialgebiet — auswählen und dirigieren können. Ebenfalls in Winterthur bin ich künstlerischer Leiter einer Konzertreihe mit einer multimedialen, fesselnden Ausrichtung. Ich werde weiterhin als Gastdirigent auftreten, etwa beim Nouvel Ensemble Moderne in Montreal. Und ich werde mich wieder ans Komponieren machen, wozu mir bislang keine Zeit blieb.
Würden Sie Ihren breitgefächerten künstlerischen Werdegang kurz umreissen?
Mit zwölf habe ich mein erstes Stück geschrieben. Und seither habe ich immer wieder komponiert, gänzlich autodidaktisch. Ich bedaure das, denn die Methode fehlt mir ein bisschen, aber vielleicht war es doch richtig, Interpret zu werden. Als Trompeter habe ich lange in einem Blechbläserquartett gespielt, dem Quatuor Novus, mit dem ich Aufnahmen zwischen Alt und Modern gemacht habe. Wir waren anachronistisch in unserer Suche nach schwierigem Repertoire, aber wir haben einen Stil und einen Klang gefunden, der historisierend war und die Musik zum Leuchten brachte.
Zum Dirigieren bin ich zufällig gekommen. Schon als Kind hätte mir das gefallen, aber ich hatte keine Gelegenheit dazu – bis zur Gründung des Nouvel Ensemble Contemporain. Das Ensemble wollte eines meiner Werke aufführen, und plötzlich haben sie mich gefragt, ob ich nicht die Leitung übernehmen wolle. Ich habe einfach mal angefangen, ohne mir allzu viele Fragen zu stellen, und es wurde, was ich am liebsten mache. Mir gefällt vor allem, eine Idee ins Auge zu fassen und sie mit anderen gemeinsam weiterzuentwickeln. Das finde ich toll.
Und warum widmen Sie sich so sehr der zeitgenössischen Musik?
Die Nischen, das Alte und das Moderne, haben mich seit jeher besonders interessiert. Dann habe ich mich auf das Zeitgenössische konzentriert und daraus ging die Zusammenarbeit mit den NEC hervor. Leider trägt man immer schnell eine Etikette und wird dann auch nur noch in diesem Bereich angefragt. An der zeitgenössischen Musik liebe ich das Abenteuer. Man kann dort noch den Fuss auf unbekanntes Terrain setzen. Das ist in der heutigen Welt ein seltenes Privileg.
Gibt es Momente oder Werke, die Ihnen auf diesem abenteuerlichen Weg besonders nahegegangen sind?
Das Gefühl, wenn man die Partitur von Boulez’ Marteau sans maître auf das Pult legt, bevor man sich in diese Dreiviertelstunde mit unglaublicher Musik begibt, die mit der grössten Präzision ausgeführt werden muss. Und Maître Zacharius ou l’horloger qui avait perdu son âme von Leo Dick, ein Musiktheaterstück. Da hatten wir eine ausserordentliche Inszenierung des Komponisten über die Beziehung von Mensch und Maschine. Ein seltenes Glück ist auch, wenn ein zeitgenössisches Stück zum Repertoire wird, etwa bei Gérard Griseys Quatre chants pour franchir le seuil, das zum Monument geworden ist, oder die Turm-Musik von Heinz Holliger.
Allgemeiner gehört es zu den schönsten Momenten, wenn der Komponist eines Werks im Konzert sitzt und den Interpreten am Schluss für ihre Texttreue dankt. Das bedeutet dann, dass der Austausch, der die Grundlage unseres Berufes ist, zustande gekommen ist, dass Musiker, Komponist und ich selbst an einem Stang gezogen haben.
Nochmals zu Ihrem Abschiedskonzert mit dem NEC. Hatten Sie etwas Spezielles vorgesehen, ein besonderes Programm?
Die Vorbereitung war dieselbe wir für alle Konzerte: Man muss das Programm perfekt beherrschen, das ist alles. Wir hatten nichts Besonderes gewählt, schon gar nichts Sentimentales. Es war ein ganz normales Konzert für unser ausserordentliches Publikum in La Chaux-de-Fonds. Parts von Hanspeter Kiburz, ein grosses Werk, das man kennen muss, das dem Publikum im Gedächtnis bleibt und das jedes Ensemble einmal gespielt haben sollte. Und mit Garden of earthly desire von Liza Lim haben wir die Linie von Romitelli fortgesetzt, der im Januar auf dem Programm stand. Sie gehören zur gleichen Generation. Ich wollte schon länger etwas von Liza Lim spielen.
Ich bin sehr zufrieden, denn beide Werke sind überaus orchestral und so geschrieben, dass sie das Können des Ensembles ins beste Licht rücken.