Albert Edelmann und seine Instrumente

Albert Edelmann brachte seinen Schülerinnen und Schülern das Toggenburger Liedgut, aber auch das Halszitherspiel näher. Seine Instrumentensammlung wurde im ausgebauten Ackerhaus in Ebnat-Kappel jetzt wieder zugänglich gemacht.

Das Gebäude von 1752 mit dem neuen, mit Schindeln verkleideten Musikraum. Foto: Jost Kirchgraber

Albert Edelmann (1886–1963) verstand es während seiner rund fünfzigjährigen Lehrtätigkeit im Bergschulhaus Dicken bei Ebnat-Kappel, seinen Bildungsauftrag weit zu fassen. Im Werkunterricht reparierte der engagierte Heimatpfleger mit den Schulkindern nämlich ländliche Gebrauchsgegenstände aus dem Toggenburg und Halszithern: Saiteninstrumente aus einem flachen, tropfenförmigen Resonanzkasten und einem griffbrettbelegten Hals. Ida Bleiker, Edelmanns ehemalige Schülerin und langjährige Haushälterin, hatte sich einige Griffe auf dieser volkstümlichen Cister angeeignet und zeigte den Bauernbuben und -mädchen die Spielweise. Und wenn «der Lehrer», wie man den beliebten Schulmeister allgemein nannte, das Spielen und Singen traditioneller Toggenburger Lieder auf einer der sieben Hausorgeln, die man ihm gebracht hatte, begleitete, wurden die jungen Leute musikalisch gefördert, lange bevor die Musikpädagogik in der Volksschule etabliert war.

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Sogenannter Pfingstrosenmaler: Spielerin der Toggenburger Halszither. Bettstatt von 1784 im Ackerhaus. Foto. Jost Kirchgraber

Nach der Pensionierung zogen Albert Edelmann und Ida Bleiker zusammen mit über 2000 volkskundlichen Objekten – unter ihnen über vierzig Halszithern, ein Hackbrett, mehrere Holzblasinstrumente, ein Hammerklavier von Ulrich Ammann (1820) und die erwähnten Orgeln – in ein aus Oberhelfenschwil nach Ebnat-Kappel versetztes Toggenburger Haus von 1752 und richteten sich in einem einzigartigen Wohnmuseum ein. Kurz vor seinem Tod gründete der Hausherr mit ehemaligen Schülerinnen und Schülern die Toggenburger Halszithergruppe, die noch heute einmal im Monat im Ackerhaus zum Singen und Spielen der immer gleichen Toggenburger Lieder – sie liegen mittlerweile in sechster Auflage vor – zusammenkommt.

Nach Lehrer Edelmanns Tod wirkte Ida Bleiker während über zwanzig Jahren als Kustodin und führte mit verblüffendem Detailwissen und natürlicher Lebendigkeit von Exponat zu Exponat, spielte einen Psalm auf der Hausorgel von Melchior Grob aus dem späten 18. und den Miltärmarsch von Franz Schubert auf dem Klavier mit Janitscharenzug aus dem 19. Jahrhundert oder zupfte Vaters Jödeliwalzer auf einer Halszither. Kurz vor ihrer Pensionierung lernte die rührige Frau, die sich in der Gesamtschule nur bescheidene Kenntnisse der französischen Sprache aneignen konnte, Englisch, um auch fremdsprachige Besucher im Heimatmuseum herumführen zu können. Als Ida Bleiker, die 1985 mit dem Kulturpreis des Kantons St. Gallen ausgezeichnet wurde, ins Altersheim zog, sollte ein Stück Schweizer Museumsgeschichte zu Ende gehen. Dem durch eine Stiftung getragenen Ackerhaus drohte in den folgenden Jahren die Schliessung.

Der Historiker Jost Kirchgraber begann vor wenigen Jahren, vorerst im Alleingang, bald aber mit Unterstützung von Mitgliedern des Stiftungs- und Gemeinderates, für eine Erneuerung des Ackerhauses zu kämpfen. Edelmanns stimmungsvolles Musikzimmer wurde abgerissen und durch einen grösseren Kuppelraum ersetzt. In diesem durch lokale Zimmerleute gebauten, akustisch ausgezeichneten kleinen Saal stehen die meisterhaft restaurierten Hausorgeln von Melchior Grob (1793) und Heinrich Ammann (1807) zum Spiel bereit. Die angrenzende Biedermeierstube, Teil des neu gestalteten Lokalmuseums, ist nach Bedarf als Trauzimmer gedacht.

Die tüchtigen Mitglieder der Arbeitsgruppe freuen sich auf heitere Festgemeinden und auf Musikfreunde, die dem Klang der hellen Bauernorgeln und anderen Hauskonzerten lauschen.

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Der im November 2015 eröffnete neue Musikraum mit den Hausorgeln von Melchior Grob (1793, links) und Heinrich Ammann (1807, Mitte). Foto: Stefan Rohner

Mit dem erneuerten Ackerhaus in Ebnat-Kappel, der KlangWelt Toggenburg (Kurse, Naturstimmen-Festival, Klangschmiede und Klangweg) und dem neuerdings um die St. Galler Volksmusik erweiterten Zentrum für Appenzeller und Toggenburger Volksmusik im Roothus Gonten ist es um die Dokumentation, Pflege und Belebung der traditionellen Toggenburger Musik sehr gut bestellt.

Google bietet Kanal zu Konzerthäusern der Welt

Google präsentiert Orchester, Theater und Opernbühnen der Welt in einem eigenen Kanal im Web. Er ermöglicht detaillierte 360-Grad-Einblicke in Architektur und Arbeit von Institutionen wie den Berliner Philharmonikern, der Opéra National de Paris, der Royal Shakespeare Company, Carnegie Hall oder der Metropolitan Opera.

Opéra Garnier, Paris. Foto: zahikel, flickr commons

Die Berliner Philharmoniker laden zu einem Rundgang durch die beiden Konzertsäle sowie durch die Foyers von Philharmonie und Kammermusiksaal ein. Ein aufwendiges 360-Grad-Video lässt den User aus verschiedenen Positionen an einer Probe unter Leitung von Sir Simon Rattle zu Ludwig van Beethovens Neunter Symphonie teilnehmen. Vier digitale Ausstellungen informieren über die Architektur des Konzerthauses sowie die Geschichte und ausgewählte Projekte der Berliner Philharmoniker.

Das Google Cultural Institute, welches das Angebot organisiert, ist laut seinem Direktor  Amit Sood eine Non-Profit-Organisation. Sie will «Bildung und Zugang zur Kultur ermöglichen». Es präsentiert unter dem Namen «Performing Arts» neu 60 kulturelle Einrichtungen aus 20 Ländern. Das Institut ist bereits seit 2011 aktiv, bislang mit mit Bild- und Tonaufnahmen von Kunstwerken, Monumenten und zeitgeschichtlichen Episoden, die es zu kuratierten Online-Ausstellungen aufbereitet.

Link: https://www.google.com/culturalinstitute/project/performing-arts?hl=de

Bundesrat verabschiedet Pro-Helvetia-Ziele

Der Bundesrat hat die strategischen Ziele der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia für die Jahre 2016-2020 verabschiedet. Priorität hat unter anderem die Stärkung der internationalen Präsenz der Schweizer Kultur.

Foto: niyazz – fotolia.com

Neben der Stärkung der internationalen Präsenz betont der Bundesrat die Handlungsachsen «Kreation und Innovation», «gesellschaftlicher Zusammenhalt» und «kulturelle Teilhabe», die in der Kulturbotschaft 2016-2020 definiert sind.

Die strategischen Prioritäten von Pro Helvetia sind laut der Medienmitteilung des Bundes auf die Ziele der Kulturbotschaft abgestimmt worden. Zur Förderung des künstlerischen Schaffens in der Schweiz wird die Stiftung neu auch Werkbeiträge im Bereich der visuellen Künste einführen und unter dem Schwerpunkt «Kultur und Wirtschaft» wird sie die Förderung von Design und interaktiven digitalen Medien weiterentwickeln.

Eine erste Zielperiode von 2012 bis Ende 2015 ist vom Bundesrat bereits im November 2011 verabschiedet worden. Pro Helvetia hat den Auftrag, «die Vielfalt des Schweizer Kunst- und Kulturschaffens zu fördern und bekannt zu machen, die Volkskultur zu fördern und den kulturellen Austausch in der Schweiz und weltweit zu pflegen».

Der Kanton Uri fördert Tino Horat

Das Kuratorium der Urner Kunst- und Kulturstiftung zeichnet den Musiker Tino Horat mit einem mit 7000 Franken dotierten Förderpreis aus. Das New York Atelier hat es den Künstlern Luca Schenardi und Lina Müller zugesprochen, das Urner Werkjahr der Künstlerin Nathalie Bissig.

Foto: zvg

Die Jury war laut der Mitteilung des Kantons mit Blick auf Horat «beeindruckt vom hohen Niveau der erst kürzlich erschienen CD mit einer Auswahl eigenständiger und eingängiger Kompositionen, aber auch von seinen Aufnahmen im experimentellen Musik- und Jazzbereich». Der Künstler spiele versiert, technisch auf hohem Niveau. Er sei als Pianist, Keyboarder, Korrepetitor tätig und habe in der Zwischenzeit international Fuss fassen können. Ein Förderbeitrag sei sinnvoll, so die Jury, damit der in Hamburg lebende Musiker sich noch intensiver den geplanten kreativen Projekten zuwenden kann.

Erfreut war das Kuratorium über das grosse Interesse am New York-Atelier, gleich acht Personen mit überzeugenden Dossiers bewarben sich für den Aufenthalt in der Metropole. Es galt 37 Bewerbungen zu beurteilen, so viel wie noch nie. Angetan war das Kuratorium auch von der insgesamt hohen Qualität der Bewerber.

Nach Rolf Sommer geht der viermonatige Aufenthalt im Jahr 2017 an das Künstlerpaar Luca Schenardi und Lina Müller, die beide in Altdorf leben und arbeiten. Schenardis grossflächig von Hand auf Textil gemalten Teletext-Illustrationen überzeugten das Kuratorium «durch die leidenschaftliche, sperrig-schöne Präsenz». Auch Lina Müller zeige in einer trendigen, aber eigenständigen Bilderserie das Traumhaftsurreale, eine Welt, die anspreche und zugleich irritiere.

Das Urner Werkjahr geht an die bildende Künstlerin Nathalie Bissig. Ein Projektbeitrag von 3000 Franken geht an die in Paris lebende Altdorferin Esther Marty-Kouyate, die als Regisseurin, Schauspielerin, Geschichtenerzählerin und Kostümbildnerin tätig ist.

 

Hans-Jürg Meier gestorben

Hans-Jürg Meier ist am 1. Dezember unerwartet im Alter von fast 51 Jahren gestorben.

Foto: Gruppe für Neue Musik Baden

Hans-Jürg Meier, geboren am 22. Dezember 1964, hat in Basel Blockflöte bei Conrad Steinmann und Komposition bei Roland Moser studiert. Er komponierte seit 1991. Der Grossteil seines Werks ist bei der Schweizer Musikedition greifbar, deren Präsident er war. Klanginstallationen und freie Improvisation gehörten ebenso zu seinem Œuvre. In verschiedenen Ensembles und Gruppen hat er mitgearbeitet, etwa zusammen mit Philipp Meier und Dorothea Rust an der Spitze der Gruppe für Neue Musik Baden.

Weitere Informationen zu seinem Schaffen finden sich auf folgenden Webseiten:

www.musinfo.ch

www.gnombaden.ch

Auf in ferne Länder!

Pro Helvetia bietet Unterstützung für Aufenthalte in China, Indien und Südafrika. Anmeldeschluss für dreimonatige Aufenthalte ist der 1. März 2016.

Foto: Rainer Sturm / pixelio.de

Pro Helvetia schreibt in Zusammenarbeit mit ihren Verbindungsbüros in China, Indien und Südafrika fürs 2017 dreimonatige Studioresidenzen aus. Bewerben können sich Schweizer Künstler und Kulturschaffende aus der Musik, Literatur, den visuellen Künsten, Design und interaktive Medien, dem Theater oder dem Tanz. Eingabeschluss: 1. März 2016. Gesuche werden elektronisch via www.myprohelvetia.ch entgegengenommen.

Für kurze Rechercheaufenthalte (max. 4 Wochen) in denselben Regionen und zusätzlich im arabischen Raum sind Bewerbungen jederzeit möglich. Weitere Informationen auf (www.prohelvetia.ch/Residenzen.871.0.html?&L=0) und den Internetseiten der Verbindungsbüros.

Ein Merkblatt mit weiteren Informationen kann hier heruntergeladen werden.

Die Klavierpädagogin Margit Varró

Ruth-Iris Frey-Samlowski ist bekannt durch ihre zahllosen Berichte von Tagungen und Kongressen. Sie ist viel zu früh am 17. Juni 2014 gestorben. In ihren vierzehn letzten Lebensjahren befasste sie sich intensiv mit dem Leben und Werk der ungarischen Klavierpädagogin Margit Varró, deren Lehrbuch «Der lebendige Klavierunterricht» immer noch aktuell und nützlich ist. 2012 erschien ihre Dissertation.

Ausschnitt aus dem Titelbild

Das Besprechungsexemplar der Dissertation erreichte die Redaktion erst jetzt, aber nicht zu spät angesichts ihrer Bedeutung. Denn was bisher bekannt gewesen ist über Varró, war entweder auf Ungarisch geschrieben oder sehr lückenhaft, ja sogar zum Teil fehlerhaft. Die intensiven Recherchen zu jedem Detail der Dissertation haben sich gelohnt. Und wo sie ergebnislos geblieben sind, gibt die Autorin dies gewissenhaft an. Zwar fiel es ihr schwer, Wichtiges von Unwesentlichem zu unterscheiden. Doch erleichtert sie die Übersichtlichkeit durch 41 Tabellen über Varrós Lehrer, Kommilitonen, Konzerte mit Veranstaltungsorten, Programmen und Mitspielenden, desgleichen Konzerte ihrer Schüler, ihre Kurse, Vorträge und Veröffentlichungen usw. 89 zum grossen Teil bisher unveröffentlichte Abbildungen, auch farbige, schmücken das 471 Seiten starke Buch und machen es leserfreundlich, so dass das Wesentliche leicht zu finden ist.

Margit Varró, geboren 1881 (oder 1882?) wuchs in einer jüdischen Familie mit deutscher Herkunft und Umgangssprache auf und studierte an der Liszt-Akademie in Budapest, an der sie ihre vier Kollegen und Freunde fand, Kodály, Bartók, Dohnányi und Leó Weiner, und bis 1921 Klavierdidaktik unterrichtete. Bei der Konzeption und Ausführung von Bartóks Mikrokosmos war sie als seine Beraterin wesentlich beteiligt. Seit der Veröffentlichung ihres deutschsprachigen Hauptwerks, auf Französisch und Ungarisch übersetzt, bis heute Pflichtlektüre der Klavierdidaktik an deutschsprachigen Musikhochschulen, wurde sie international bekannt und reiste in ganz Europa zu Vorträgen, Kursen und Lehrproben, bis sie 1938 mit ihrer Familie in die USA emigrieren musste, wo sie bis beinahe an ihr Lebensende 1982 im bisherigen Ausmass berufstätig blieb.

Ein kleiner Überblick über ihr Lehrbuch soll hier genügen. Klavierunterricht sei Erziehung des musikalischen Sinnes und Verständnisses, umfasse auch Gehörbildung, Vermittlung von Elementarkenntnissen der Musik-, Harmonie- und Formenlehre, immer im Zusammenhang mit dem gründlichen Erkennen und Erfühlen des klaviertechnisch zu erarbeitenden Lehrstoffes, daneben –entscheidend – Improvisation. Sie propagierte neben dem Einzel- auch Gruppenunterricht. Der Anfängerunterricht beginne am besten ohne Noten mit Singen, Nachspielen und Begleiten von geeigneten Volksliedern; sie denkt natürlich an den ungarisch-rumänischen, damals erforschten Schatz. Bei und nach schrittweiser Einführung des Notenlesens sei das Memorieren aller Unterrichtsliteratur (!) unumgänglich. Beim technischen Teil gibt es einen Abschnitt über die versteckten musik-medizinischen und psychologischen Ursachen von Spielstörungen, ihre Diagnose und Therapie, sowie einen Abschnitt über das Üben, immer mit Lektionsbeispielen. Der psychologische Teil, ein Drittel des Lehrbuches, enthält eine hier nicht ausbreitbare Fülle von Anregungen.

Zurück zur Autorin der Dissertation: Sie studierte das Hauptfach Klavier mit Musikpädagogik, daneben Germanistik und Anglistik (Staatsexamen), im Aufbaustudium Philosophie und Geschichte. Lebenslange Weiterbildung war ihr ein Anliegen. Zuletzt absolvierte sie ein Musikwissenschaftsstudium. Neben Privatunterricht gründete und leitete sie eine Musikschule in Hagnau am Nordufer des Bodensees nach eigenem musikpädagogischem Konzept (Kinder und Erwachsene), in welchem auch der für die Kinderhand günstige ergänzende Unterricht auf Clavichord stattfand. Dort konnte sie jedes Jahr einige besonders Begabte erfolgreich zur Aufnahmeprüfung an Musikhochschulen vorbereiten. Im von Werner Müller-Bech geleiteten Arbeitskreis für Klavierpädagogik Saarbrücken wurde sie regelmässig zur Mitarbeit eingeladen. Dann wurde sie Dozentin für Musikpädagogik, Didaktik und Klassenmusikzieren an den Musikhochschulen Detmold, Frankfurt/M und Zürich. Daneben hielt sie unzählige Kurse und Gastvorträge, gab und organisierte Konzerte im In- und Ausland. Die Liste ihrer Veröffentlichungen umfasst 158 Nummern. Aus ihrer vielfältigen, rastlosen Tätigkeit wurde sie durch eine kurze unheilbare Krankheit gerissen.

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Ruth-Iris Frey-Samlowski, Leben und Werk Margit Varrós. Lebendiger Musikunterricht im internationalen Netzwerk, 474 S., € 59.95, Schott, Mainz 2012, ISBN 978-3-7957-0768-2

Martinůs Mäuse

In diesem Bilderbuch mit CD wird der Mächtigste der Welt gesucht; das Saxofonquartett clair-obscur hilft dabei mit Musik von Bohuslav Martinů.

Ausschnitt aus einer Illustration von Meriel Price

Bohuslav Martinůs Vater war Turmwächter, die Familie lebte in einem Zimmer hoch über der ostböhmischen Stadt Polička. Bis zu seinem siebten Lebensjahr verliess der kränkliche Bohuslav den Kirchturm nur selten. Und von da oben sahen die Leute in den Strassen bestimmt aus wie Mäuse. Ob es daran liegt, dass er uns mit seinem Mäuseballett Wer ist der Mächtigste auf Erden? so manch menschlich-allzumenschliches Verhalten vorführt?

Auch Mäuschen sind vor Grössenwahn nicht gefeit. Vater Maus will seine Tochter nur dem Mächtigsten zur Frau geben, dabei hat diese bereits ein Kullerauge auf den Mäuseprinzen geworfen. Der macht zuerst auch einen guten Eindruck, aber dummerweise geht über der Szene die viel mächtigere Sonne auf. Während sich Herr Sonne die Heirat mit dem Mäusemädchen noch durch den Kopf gehen lässt, verdrängt ihn der Wolkenfürst: Vater Maus hat wieder einen neuen Heiratskandidaten gefunden. So geht es weiter, bis schliesslich eine Mauer als idealer Bräutigam feststeht. Der Mäuseprinz und sein Gefolge haben sie aber bereits so untergraben, dass sie noch während des Antrags einstürzt.

Aus dieser Handlung nach einem englischen Märchen verfasste Martinů 1922 ein komödiantisches Ballett-Libretto und komponierte dazu eine heitere, oft groteske Musik, die die Handlung plastisch hervortreten lässt. Man sieht das Brautpaar einen Shimmy tanzen (eine frühe Anlehnung an den Jazz) und lässt sich von Walzern und Polkas mitreissen. Die Orchesterpartitur hat Christoph Enzel für das Saxofonquartett clair-obscur arrangiert. Und wer jetzt eine gewisse klangliche Monotonie erwartet, dem sei versichert: Selten haben Saxofone so lautenzart, so mäusetrippelnd, so donnergrollend und mauerstürzend geklungen.

Die Bilder sind ganz sparsam in Collagetechnik gefertigt, dabei oft augenzwinkernd: Das Saxofonquartett läuft in der Mäuseprozession mit und für die Verhandlungen mit Herrn Sonne haben sich die Mäuschen brav Brillen aufgesetzt. Kurz: Dieses Buch ist eine mächtige Freude für Kinder und Erwachsene.

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Bohuslav Martinů, Wer ist der Mächtigste auf Erden? Ein musikalisches Märchen, musiziert von clair-obscur und illustriert von Meriel Price, erzählt von Wolfram Berger, Bilderbuch mit CD, Fr. 22.90, NordSüd-Verlag, Zürich 2014, ISBN 978-3-314-10283-7

Aus Finnlands Seen und Wäldern

Zum 150. Geburtstag von Jean Sibelius sind einige Neuausgaben zu verzeichnen. Die Herausgeber übereilen aber nichts. – Zum Glück!

Winterliches Sibelius-Denkmal in Helsinki. Foto: Sami Uskela, flickr commons

Heute kennt man Jean Sibelius (1865–1957) nahezu ausschliesslich als den grossen Sinfoniker, der einen ebenso kräftigen wie langen Schatten auf die Musikgeschichte seiner finnischen Heimat geworfen hat. Dabei ist sein Schaffen weitaus vielfältiger. Denn es finden sich darin gleichermassen Lieder, Chöre und Klaviermusik. Zu letzterer glaubt man gemeinhin auch die bekannte Valse Triste op. 44 (1904) zählen zu können – doch handelt es sich um das Arrangement einer Nummer, die ein Jahr zuvor als Bühnenmusik zum Schauspiel Kuolema entstanden ist.

Diese eigenartig verquere Rezeption durchzieht fast das gesamte Œuvre. Umso dankbarer ist man daher für die in Helsinki von einem kompetenten wissenschaftlichen Herausgeberteam betreute Ausgabe sämtlicher Werke, die seit einigen Jahren Schritt für Schritt bei Breitkopf & Härtel erscheint (übrigens ein schon von Sibelius selbst bevorzugter Verlag). Notwendig wurde dieses Grossprojekt aus gleich mehreren Gründen: Nicht alle Werke liegen gedruckt vor, viele Ausgaben sind längst vergriffen, und zahllose Druckfehler werden bis heute hartnäckig tradiert. Ganz nebenbei rückt aber auch Unbekanntes wieder in den Fokus.

Dies gilt zumal für die Klaviermusik – eine überraschende Seite in Sibelius’ Œuvre, ist sie doch ganz von kurzen und kurzweiligen Charakterstücken geprägt. Man ahnt es vielleicht schon: Sie entstanden vor allem aufgrund finanzieller Interessen, wurden dem Komponisten dann aber auch bald sauer. So wich in Bezug auf die Zehn Klavierstücke op. 58 (1909) eine anfängliche schöpferische Euphorie zunächst einem starken Zweifel («weil diese Klaviertechnik mir nicht geläufig ist») und dieser dann dem Zwang des Portemonnaies: «Die Finanzen zwingen mich, Klavierstücke zu komponieren.» Erstaunlich nur, welch hohe kompositorische Qualität all diese in verschiedenen Opera erschienenen Brot-Werke haben. Die mit ihnen verbundene Last ist an keiner Stelle zu spüren – dies gilt insbesondere für die aktuell in einem handlichen Heft zusammengestellte wohlfeile Auswahl von 18 Stücken aus den Jahren 1887 bis 1920. Die Wiederentdeckung dieser Kleinode lohnt auf jeden Fall.

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Wohl mehr für den auch mit den Augen hörenden Musikliebhaber ist das Faksimile von Luonnotar op. 70 (1913) bestimmt, einer in ihrer musikalischen Bedeutung unterschätzten Tondichtung für Sopran und Orchester. Die drucktechnisch auf höchstem Niveau besorgte Edition umfasst die reinschriftliche autografe Partitur und den von Sibelius selbst angefertigten Klavierauszug, ergänzt durch ein instruktives Vorwort von Timo Virtanen. Als Sonderband der Gesamtausgabe erschienen, stellt sie nicht nur eine willkommene Gabe zu dem an manchen Orten kaum bemerkten Jubeljahr dar.

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Die Gesamtausgabe selbst liess sich aus diesem Anlass glücklicherweise nicht zu einem hemdsärmeligen Output verführen – in Vorbereitung sind erst die Männerchöre a cappella und die beiden Scènes historiques. Da passt es gut ins Bild, dass der Verlag für wenig Geld eine Studienpartitur der erstmals 2006 gedruckten Tondichtung Skogsrået (Die Waldnymphe) anbietet; eine frühe Schöpfung von 1893/95 und vielleicht gerade deshalb von gewissem Reiz.

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Jean Sibelius, Piano Pieces. 18 ausgewählte Stücke, EB 8855, € 15.90, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2015

id., Sämtliche Werke (JSW), hg. von der National Library of Finland und der Sibelius Society of Finland, Sonderband Faksimile-Ausgabe von Luonnotar op. 70. SON 626, € 79.00

id., Skogsrået. Tondichtung für Orchester, hg. von Tuija Wicklund, Studienpartitur, PB 5564-07, € 13.90

Einfach weihnächtlich

Drei Hefte mit Weihnachtsliedern für variables Ensemble, in verschiedenen Sprachen und aus verschiedenen Ländern, durchwegs leicht oder sehr leicht zu spielen.

Foto: nneiole / fotolia.com

Wer Advent und Weihnachten mit Liedgut aus verschiedenen europäischen Ländern feiern will, findet in Europa für Anfänger eine abwechslungsreiche Auswahl besonders schöner Lieder aus fünfzehn Nationen. Aus dem deutschen Sprachraum ist allerdings keines dabei. Der Satz ist für zwei Melodieinstrumente bzw. eine Gesangsstimme und ein begleitendes Obligatinstrument plus Klavier. Der Gitarrenpart beschränkt sich auf die Akkordangaben.

Die Texte sind mit allen Strophen abgedruckt, im jeweiligen Originalalphabet mit einer deutschen Übersetzung. Um die korrekte Aussprache muss man sich allerdings selber kümmern. Die mitgelieferte CD enthält nur die Instrumentalsätze und jeweils einen Track mit dem Klavierpart für das Play-along. Sie wurde akustisch produziert, klingt aber sehr hölzern. Dafür sind alle Stimmen wirklich sehr leicht zu spielen!

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Die Bände der Kammermusikserie Ad libitum der Editio Musica Budapest sind für Formationen mit variabler Besetzung gedacht, sei es für das Musizieren im Familien- oder Freundeskreis oder in Musikschulen. Die Besetzung für diese Weihnachtsmusiken umfasst Klavier, zwei Melodiestimmen (wahlweise auch in B), je eine optionale Gitarren- und Schlagzeugstimme sowie eine Gesangsstimme mit mehrsprachigem Text. Die Auswahl enthält bekannte (Adeste Fideles, Stille Nacht, O Tannenbaum, Es ist ein Ros entsprungen, In dulci Jubilo u. a.) und weniger bekannte Lieder und einige weihnächtliche Instrumentalsätze wie etwa Händels Pastorale (Pifa) aus Messias.

Die durchwegs kurzen Stücke sind leicht und können vom Blatt gespielt bzw. rasch einstudiert werden. In der Gesangsstimme ist jeweils nur eine Strophe des Textes abgedruckt, dafür vier- bis fünfsprachig: auf Lateinisch (wenn so im Original), Deutsch, Französisch, Englisch und Ungarisch. Alles in allem eine gelungene Bereicherung des weihnächtlichen Repertoires für kleine Ensembles!

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Gleich für ein ganzes Salonorchester sind diese Arrangements aus dem Uetz-Verlag geschrieben. Die Gesangsstimme wird von keinem Instrument verdoppelt, ohne Sänger bzw. ein zusätzliches Soloinstrument geht also gar nichts. Dafür werden alle Instrumentalstimmen permanent parallel im Klavier mitgespielt; es macht also nichts, wenn nicht alle da sind! Die Harmonisierung ist manchmal etwas gewagt. Wer es konventionell mag, nimmt lieber das Kirchengesangbuch.

Leider verfügen die recht undankbaren Instrumentalstimmen mit Ausnahme des Klaviers über keine Stichnoten des Gesangs oder der jeweiligen Oberstimme in den Intros. Das bedeutet für die Einzelnen: Pausen und Pedaltöne auszählen und überhaupt den Zusammenhang im Blindflug erfassen wie ein Berufsmusiker. Und genügend proben im Ensemble!

Ausgewählt wurden populäre Weihnachtslieder wie Stille Nacht, Es ist ein Ros entsprungen, Herbei ihr Gläubigen (Adeste Fideles) u. a., aber auch weniger bekannte wie Maria durch ein’ Dornwald ging und Zu Bethlehem geboren. Zwei bis drei Strophen sind jeweils ganz ausgeschrieben in Text und Notensatz, letzterer bleibt sich allerdings immer gleich. Der Klaviersatz ist mittelschwer; die Instrumentalpartien lassen sich zwar leicht spielen, haben aber ausgesprochenen Füllstimmencharakter und setzen deshalb gutes Notenlesen und kammermusikalische Erfahrung voraus.

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Europa für Anfänger, 15 besondere Weihnachtslieder, für 1–2 Melodieinstrumente oder Stimmen und Klavier bzw. Gitarre arrangiert von Dagmar Wilgo und Nico Oberbanscheidt, EW 917, € 19.80. Edition Walhall

Weihnachtsmusik, Ad libitum – Kammermusikserie mit variabler Besetzung, hg. und arr. von András Soós, Z 14946, ca. Fr. 23.00, Editio Musica Budapest

Weihnachtslieder für Salonensemble, Sieben deutsche Weihnachtslieder für Gesang, Klavier, Flöte, Klarinette, zwei Violinen, Viola, Violoncello, Bass, arrangiert von Christian Brüggemann, BU 9092, € 38.00, Musikverlag Bruno Uetz, Halberstadt

Lob auf das Weihnachtswunder

Diese Komposition für Soli, Chor, Bläser und Klavier ist einzigartig im Werk Ottorino Respighis.

Palazzo Chigi-Saracini, Siena. Foto: Carlotta&Luca ItalyzMe, flickr commons

Die Entstehungsgründe der Komposition Lauda per la Natività del Signore sind aus Respighis Biografie bekannt. Während eines Cembalorezitals mit Wanda Landowska im Januar 1928 im Palazzo des Conte Guido Chigi in Siena haben Ambiente und Atmosphäre den Komponisten so inspiriert, dass er für diesen Raum eine «Piccola cantata» komponieren wollte. Als Text wählte er einen Jacopone da Todi zugeschriebenen Lobgesang auf die Geburt Christi: Laus pro nativitate Domini. Wie eine Art Drehbuch stellte sich Respighi die entsprechenden Strophen und Verse zur Vertonung zusammen.

Die Uraufführung der im Sommer 1930 vollendeten Partitur für Soli, Chor, Flöten, Oboe, Englischhorn, zwei Fagotte, Triangel und Klavier fand am 22. November 1930 im Saal der Vereinigung «Micat in vertice» statt zusammen mit einem instrumental gleich besetzten Werk Respighis, der Suite della tabacchiera.

Die vorliegende Kritische Edition des Werkes basiert bewusst auf dem Autograf. Da es zwischen diesem und dem Erstdruck von 1931 einige Abweichungen gibt, wurden auf Anfrage von Riccordi freundlicherweise die Druckfahnen zum Erstdruck sowohl der Partitur als auch des Klavierauszuges zur Verfügung gestellt. Die Durchsicht ergab, dass die handschriftlich eingetragenen Änderungen von Respighi selbst vorgenommen worden waren. Sie lassen insgesamt den Eindruck einer nachträglichen Glättung des Werkes entstehen. Die Versuche, durch Briefe zwischen Verlag und Komponist oder Notizen weitere Aufschlüsse über diesen Prozess zu erhalten, blieben ergebnislos. Detaillierte Hinweise über die Unterschiede zwischen Autograf und Erstdruck finden sich in Teil 1 des Kritischen Berichts.

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Ottorino Respighi, Lauda per la Natività del Signore, hg. von Christine Haustein, Partitur, CV 10.084/00, € 45.00, Carus, Stuttgart 2015

Rückwärts- und vorwärtsgewandt

Eine schwer zu beherrschende Klaviersonate, in der hochexplosive Musik doch noch gebändigt ist.

Skrjabin portätiert von Leonid Pasternak, 1909. wikimedia commons

Skrjabins vierte Klaviersonate von 1903 steht mit einem Bein durchaus noch im 19. Jahrhundert. Im eröffnenden Andante denkt man gelegentlich an Tristan oder auch an die farbenprächtige Chromatik der Violinsonate César Francks. Und das anschliessende Prestissimo volando – so flüchtig hingehaucht es teilweise klingt – entpuppt sich bei näherer Betrachtung als eine ganz klassische Sonatensatzform. Daneben gibt es aber schon deutliche Auflösungstendenzen in der Harmonik und komplexe rhythmische Strukturen, die weit ins 20. Jahrhundert weisen. Gewisse Passagen «swingen» geradezu!

Die Einsätzigkeit aller späteren Sonaten Skrjabins ist hier bereits vorgespurt, erscheint doch am Ende des Werks das Hauptthema des ersten Satzes wieder, diesmal aber in hymnisch überhöhtem Fortissimo. Vielleicht eine Art Klammer, die diese hochexplosive Musik gerade noch zu bändigen weiss?

Valentina Rubcova hat diese kürzeste Sonate Skrjabins (das Meisterwerk dauert nicht einmal acht Minuten!) im Henle-Verlag neu herausgebracht und mit einem sehr lesenswerten Vorwort versehen. Michael Schneidts Fingersätze sind klug und wohldosiert. Wer mit den schwer zu beherrschenden, raschen Pianissimo-Akkorden in der rechten Hand Probleme hat (Prestissimo volando, Takt 1 und ähnliche Stellen), sollte sich im Übrigen nicht schämen, zwei bis drei Noten auch an die Linke abzugeben.

Im Anhang findet sich auch ein programmatischer Prosatext, der offenbar mit Billigung Skrjabins der Sonate beigefügt wurde. Die Autorenschaft ist indes nicht geklärt. Mag jeder selber entscheiden, ob ihn dieses Poem eher zur Musik hin oder aber von ihr weg führt …

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Aleksandr Skrjabin, Klaviersonate Nr. 4 Fis-Dur op. 30, hg. von Valentina Rubcova, HN 1110, € 10.00, G. Henle, München 2015

jubilieren

Meist wirken sie im Hintergrund, zur Zeit aber feiern mehrere Musikverbände ein Jubiläum. Wir unterhalten uns mit den Verantwortlichen. Am Tag der Musik jubiliert die Musik. Eric Tissot erklärt, woher dieser Brauch kommt. Und schliesslich: Runde Geburtstage bestimmen Konzert- und Verlagsprogramme. Ein Essay zum Leid der Gedenktage.

jubilieren

Meist wirken sie im Hintergrund, zur Zeit aber feiern mehrere Musikverbände ein Jubiläum. Wir unterhalten uns mit den Verantwortlichen. Am Tag der Musik jubiliert die Musik. Eric Tissot erklärt, woher dieser Brauch kommt. Und schliesslich: Runde Geburtstage bestimmen Konzert- und Verlagsprogramme. Ein Essay zum Leid der Gedenktage.

Alle blau markierten Artikel können durch Anklicken direkt auf der Website gelesen werden. Alle andern Inhalte finden sich ausschliesslich in der gedruckten Ausgabe oder im e-paper.

Focus

Grund zum Feiern?
Was bewegt die Verantwortlichen schweizerischer Musikinstitutionen
rund um ihre Jubilaen? Eine kleine Umfrage

Jubiläen und kein Ende
Essay über das Leid der Gedenktage

De Paris à La Chaux-de-Fonds : la Fête de la musique
Entretien avec Eric Tissot, president de la Fete de la musique de La Chaux-de-Fonds de 1996 a 2004

… und ausserdem

CAMPUS

HEMU, CL et EJMA : vers un pôle d’excellence de toutes les musiques

Le souffle, source de musique et de vie ? Une méthode respiratoire

Wichtige Impulse für den Musikunterricht in den Dreissigerjahren
Ungekürzter Artikel von Bernhard Billeter

Viel erreicht und noch viel mehr vor — 40 Jahre VMS
Festrede von Helena Maffli
Zur Geschichte des VMS

5. Internationaler Kirchenmusikkongress in Bern

Kirchenmusikwettbewerb: Interview mit Beat Schäfer

Rezensionen Studien- und Unterrichtsliteratur — Neuerscheinungen

klaxon Kinderseite 

 

FINALE

Rätsel — Pia Schwab sucht

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Reformen des Musikunterrichts

Besserer, vielfältigerer Musikunterricht! Dieser Ruf erklang immer wieder. Dem standen Äusserungen skeptischer Musiker entgegen. Clara Haskil meinte, dass Klavierunterricht nicht eine Sache des Lernens sei. Das könne man einfach! Die ungarische Klavierpädagogin Margit Varró hingegen gab ihr Leben lang in unzähligen Vorträgen und pädagogischen Kursen sowie in ihrem Lehrbuch von 1929 «Der lebendige Klavierunterricht», das immer noch aktuell und erhältlich ist, nützliche Anweisungen dazu. Sie besuchte die Schweiz 1938 anlässlich des 3. Kongresses der zwei Jahre zuvor von Leo Kestenberg und Gleichgesinnten gegründeten Internationalen Gesellschaft für Musikerziehung. Mit ihrem Leben und Werk befasst sich die 2012 erschienene Dissertation von Ruth-Iris Frey-Samlowski.

Margit Varró. Foto: Varró-Fundation, Budapest (Mariann Abraham)
Reformen des Musikunterrichts

Besserer, vielfältigerer Musikunterricht! Dieser Ruf erklang immer wieder. Dem standen Äusserungen skeptischer Musiker entgegen. Clara Haskil meinte, dass Klavierunterricht nicht eine Sache des Lernens sei. Das könne man einfach! Die ungarische Klavierpädagogin Margit Varró hingegen gab ihr Leben lang in unzähligen Vorträgen und pädagogischen Kursen sowie in ihrem Lehrbuch von 1929 «Der lebendige Klavierunterricht», das immer noch aktuell und erhältlich ist, nützliche Anweisungen dazu. Sie besuchte die Schweiz 1938 anlässlich des 3. Kongresses der zwei Jahre zuvor von Leo Kestenberg und Gleichgesinnten gegründeten Internationalen Gesellschaft für Musikerziehung. Mit ihrem Leben und Werk befasst sich die 2012 erschienene Dissertation von Ruth-Iris Frey-Samlowski.

Bestrebungen zur Verbesserung des Musikunterrichts an Schulen, Musikschulen und im Privatunterricht sind alt und immer noch aktuell. Der 1893 gegründete Schweizerische Musikpädagogische Verband (SMPV) erstrebt laut Statuten von Anfang an bis heute unter anderem «den Zusammenschluss der … fachmännisch gebildeten und musikpädagogisch tätigen Berufsmusiker … zum Zweck der Förderung der Musikerziehung in der Schweiz». Vor 102 Jahren führte er zu diesem Zweck strenge Diplomprüfungen ein, eine Ausbildung, die heute in der Fachhochschule Kalaidos weitergeführt wird. Die Durchführung von Kongressen, Vorträgen und Weiterbildungskursen in der Schweiz erlebte in den dreissiger Jahren eine Blütezeit. 

Drei Kongresse der ISME

Gleichzeitig wurden solche Bestrebungen unterstützt durch die heute International Society for Music Education (ISME) genannte Institution. Sie führte unter der Leitung von Leo Kestenberg 1936 ihren ersten Kongress in Prag durch, den zweiten 1937 in Paris und den dritten 1938 in der Schweiz. Der versierte Konzertpianist Leo Kestenberg (1882–1962), geboren in Rosenberg, Ungarn (heute Slowakei), hatte sich bereits ab 1900 in der sozialdemokratischen Bildungsarbeit engagiert. Diese war ihm eine Herzensangelegenheit und er organisierte in Berlin, wo er an verschiedenen Konservatorien Klavierunterricht erteilte, Konzerte und Veranstaltungen für die breite Bevölkerung. 1918 nach Kriegsende wurde er zum Musikreferenten im Preussischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung berufen und erteilte weiterhin Klavierunterricht, ab 1921 als Professor an der Hochschule für Musik. Sein Buch Musikerziehung und Musikpflege von 1921 fand grosse Beachtung. Viele Erlasse des Ministeriums zur schulischen und ausserschulischen Musikerziehung entstammen seiner Feder. Er organisierte jährliche Reichs-Schulmusikwochen, bis er schon 1932 (als Sozialist und Jude schon vor der Machtergreifung!) abrupt in den einstweiligen Ruhestand versetzt wurde und nach Prag emigrierte. 1938 flüchtete er nach Paris, wo ihn eine Berufung nach Tel Aviv erreichte.

Es war eine bewegte Zeit. Das Folgende entnehme ich der Dissertation Leben und Wirken Margit Varrós von Ruth-Iris Frey-Samlowski (meine Rezension dieses Buches findet sich hier). Der Prager Kongress wurde von den Achsenmächten Deutschland und Italien sowie von Russland boykottiert. 700 Delegierte und 21 Regierungsvertreter waren eingeladen, aus der Schweiz Emile Jaques-Dalcroze, Walter Simon Huber (der Vater von Klaus Huber), der Zürcher Konservatoriumsdirektor Carl Vogler und Willy Schuh, der einen ausführlichen Bericht für die Schweizerische Musikzeitung verfasste. Darin beschrieb er als Ziel einen «Aufbruch zur musikalischen Aktivierung des ganzen Volkes im Gegensatz zur blossen geniesserischen Passivität einer begrenzten Hörerschicht und der Technisierung und Verflachung des Musiklebens». Margit Varró hatte aus unbekannten Gründen diesen Anlass verpasst, wurde aber von Leo Kestenberg zu einem Vortrag in Prag «Musikalische Begabung und persönlicher Habitus» sowie einer Rundfunksendung in der Karwoche 1937 eingeladen. Er empfing sie persönlich, führte sie durch eine im Aufbau begriffene grosse Musikbibliothek mit Unterrichtsmaterialien im Aussenministerium (der Aussenminister Dr. Kamil Krofta engagierte sich persönlich für Kestenbergs Arbeit) sowie durch das Smetana-Museum. Dies war der Beginn einer lebenslangen, für sie entscheidenden Freundschaft. Ihre Auftritte fanden grosse Resonanz bei zahlreichen Zuhörern und in der Presse.

Nur einen Monat später reiste sie nach Paris, wo der zweite Kongress gleichzeitig mit der Weltausstellung «Art et Technique» stattfand. Ihr Vortrag «La réceptivité musicale de l’enfant et l’adolescent» auf psychologisch erhärteter Grundlage, vom Säugling und Kleinkind an, veröffentlicht auf französisch und ungarisch, weckte grosses Interesse. Auch dieser Kongress mit deutlich weniger, nämlich 95 Delegierten aus 14 Staaten, wurde von Deutschland boykottiert, fand aber international ein breites Echo in der Presse. Aus der Schweiz waren illustre, damals vorübergehend dort wohnhafte Referenten angereist, Walter Damrosch, Ernst Krenek, Alois Hába, Curt Sachs und Jaroslav Krika sowie folgende Schweizer: W. S. Huber, der in der Schweizerischen Musikzeitung und in den Schweizerischen Musikpädagogischen Blättern Bericht erstattete, und Hugo Keller, der ein «Exposé» beisteuerte. «Jugendkonzerte mit altersgerechter Vermittlung» war das Hauptthema des Kongresses, das Margit Varró umso mehr interessierte, als sie selber schon unzählige in Ungarn veranstaltet hatte. Ernst Schelling, der ab 1924 die «Young People’s Concerts», die Kinderkonzerte der New Yorker Philharmoniker dirigiert hatte, Robert Mayer aus London und der Deutschamerikaner Walter Damrosch berichteten über ihre Erfahrungen damit in Konzerten und am Radio, während der Vierteltonkomponist Hába und Krenek sich vor allem für die zeitgenössische Musik einsetzten.

Bereits vor 1930 besuchte Varró die Schweiz. Davon zeugt eine erhaltene Fotografie. 1936 reiste sie nach Bern, wahrscheinlich zu einer Unterrichtsdemonstration. Anwesend war der bekannte Pianist, Musikpädagoge und Musikwissenschaftler Eduard Rüfenacht, dessen Schrift Sinn und Aufgabe der Musikerziehung, Francke-Verlag Bern, sie in die letzte, erweiterte Auflage ihres Lehrbuches 1958 aufnahm. 1937 hielt sie auf ihrer Reise nach Paris einen Vortrag vor der Ortsgruppe Basel SMPV mit demselben Thema wie zuvor in Prag, mit ausführlicher Besprechung in den Schweizerischen Musikpädagogischen Blättern von M. W., wohl Walter Müller von Kulm. Schliesslich weilte sie 1938 länger in der Schweiz, bevor sie am dritten Internationalen Kongress teilnahm, der eine Woche dauerte (23. bis 28. Juni). Vorgängig, das Datum ist nicht bekannt, hielt sie in der Ecole normale de Musique von Paris einen Vortrag über «L’enseignement vivant du piano» und am 20. Juni gleich zwei Vorträge in Brüssel über «Le talent musical» und «Les nouveaux buts de l’enseignement musical».

Vom Schweizer Kongress sind leider keine Programme und Teilnehmerlisten mehr aufzutreiben, ein Tatbestand, der auf wenig archivalische Sorgfalt im SMPV schliessen lässt. Ruth-Iris Frey-Samlowski ist es jedoch gelungen, aus Presseberichten in den 14 teilnehmenden Ländern (darunter diesmal, in der neutralen Schweiz, auch Deutschland!) ein Detailprogramm zu rekonstruieren, das mit seinen rund 50 Referaten und Darbietungen auch heute noch so interessant ist, dass es hier abgekürzt geboten wird:

Der Schweizer Kongress «Musikerziehung und Heilpädagogik»

Zürich, 23. und 24. Juni

  • Grussworte in der Aula der Höheren Töchterschule: Fritz Enderlin, Rektor; Jaroslav Jindra, Ministerialsekretär, Prag; LeoKestenberg, Prof. Dr. Antoine-E. Cherbuliez, Präsident SMPV Ortsgruppe Zürich; Prof. Dr. med. Miroslav Seemann, Karls-Universität Prag.
  • Referate: Prof. Dr. Heinrich Hanselmann, Zürich, «Musikerziehung und Heilpädagogik»;
  • Prof. Dr. György Révész, Amsterdam, «Die psychobiologische Bedeutung der Musikerziehung bei Mindersinnigen (Blinden und Taubstummen)»;
  • Prof. Dr. M. Seemann, «Die Aufgaben des Arztes in der Taubstummenpflege».
  • Praktische Darbietungen: Mimi Scheiblauer und Olga Zollinger, Zürich (Assistenz), «Musikalisch-rhythmische Erziehung bei Taubstummen und Gebrechlichen» in der Taubstummenanstalt Wollishofen sowie am Ausflug in die Anstalt Bühl ob Wädenswil (Geistesschwache) und in das Landerziehungsheim Albisbrunn (Schwererziehbare).

Bern, 25. Juni

  • Grussworte in der Schulwarte, Bern: Kurt Joss, Präsident SMPV Ortsgruppe Bern; Dr. E. Bärtschi, Stadtbernischer Schuldirektor; Prof. Dr. M. Seemann, Prag; Herr Wöldike, Kopenhagen.
  • Referate: Eduard Rüfenacht, Bern, «Die erzieherische Bedeutung der musikalischen Improvisation»;
  • Dr. Ernst Ferand, Hellerau/Laxenburg, «Die psychologischen Grundlagen der Improvisation» (seine Dissertation, Wien 1937, «Die Improvisation in der Musik» enthält deren umfassende Geschichte);
  • Prof. Dr. Henri Vallon, Paris, «Bewegung und Musik, eine physio-pathologische Studie».
  • Gertrud Biedermann, Bern, «Lektion mit Kindern im Bambusflöten-Schnitzen und -Spielen»
  • Gertrud von Goltz, Bern, sprach über ihre Erfahrungen im Gesangsunterricht an der Hilfsschule Bern.
  • Rhythmisch- musikalische Demonstration: Ernst Müller, Vorsteher der Anstalt für schwachsinnige Kinder Weissenheim/Bern,
  • Konzert: Hugo Keller, Bern (Chorleiter) mit den Berner Singbuben und dem Röseligartenchor

Am 26. Juni stand zusätzlich ein Besuch vor Ort auf dem Programm: Blindenanstalt Faulensee/Spiez. Gottfried Kölliker, blinder Musiklehrer hielt ein Referat über den hohen erzieherischen Wert der von ihm an dieser Anstalt betreuten Musikpflege, ergänzt durch ein Chor- und Orchesterkonzert.

Basel, 27. und 28. Juni
Schwerpunkt: musikalische Erziehung bei Geisteskranken und Entwicklungsgehemmten

  • Grussworte im Ratsaal des Halbkantons Basel-Stadt: Dr. Fritz Hauser, Regierungsrat, derzeitiger Präsident des Nationalrates; J. Jindra, Prag; L. Kestenberg; Dr. F. Wenk, Sekretär des Erziehungsdepartements Basel-Stadt (Moderation); Bourgoin, Generalinspektor, Paris; Prof. Dr. Xirau, Regierungsvertreter, Barcelona; Dr. Fr. Wenk, Sekretär des Erziehungsdepartementes Basel-Stadt (Tagespräsident).
  • Darbietungen beim offiziellen Empfang im Foyer des Kunstmuseums Basel: Basler Waisenknaben mit Guggemusig; Ernst Sigg, Leiter des Collegium Musicum der Knabengymnasien; E. Jakob, Lieder der Sissacher Trachtengruppe; Dr. Gustav Güldenstein, Musiktheorielehrer am Konservatorium Basel, Tänze von Mozart und Dvořák.
  • Referate: L. Kestenberg sowie Walter Müller von Kulm, SMPV Basel und Konservatoriumsdirektor (beide ohne Titel);
  • Prof. Alois Hába, Prag, „Heilkräfte der Musikerziehung in unserer Zeit“;
  • Willy Overhage, Kurzreferat.
  • Besuche in und bei Basel: Baselstädtische Anstalt für Geisteskranke Friedmatt mit Referat von Prof. Dr. John Staehelin «Die diagnostischen, prognostischen und therapeutischen Vorteile einer musikalischen Heilpädagogik» und Darbietung von Helene Horsberger, Basel, «Rhythmik mit verschiedenen Gruppen von Geisteskranken»; Anstalt zur Hoffnung, Riehen, mit Darbietung von Melita Kosterlitz, Hellerau/Laxenburg, «Gymnastik mit einer Gruppe schwachbegabter Kinder»; Öffentliche Primarschulen der Stadt Basel, Referate von W. S. Huber, «Überblick über den äusseren und inneren Aufbau der baselstädtischen Schulmusikpflege» und «Wesentliche Forderungen der modernen Schulerziehung», drei Lektionen nach der für die baslerischen Primarschulen verbindlich erklärten «Methode Lechner» sowie Esther Gutknecht, Lehrerin einer Mädchenprimarklasse, Referat mit Einblick in die Lehrweise der Musikerziehung an den öffentlichen Primarschulen und Darbietung eines selbst erarbeiteten Singspiels durch Schülerinnen.
  • Besuche ausserhalb Basels: Goetheanum Dornach, Vortrag von Werner Pache «Aufbau der anthroposophischen Musikerziehung»;
  • Sonnenhof zu Arlesheim, Vortrag Dr. med. Julia Bort, «Die Bedeutung der Musik und der Heileurhythmie in der Heilpädagogik Rudolf Steiners»;
  • «Heim für seelenpflegebedürftige Kinder»

 

Der Kongress beschloss folgende von Goldschmid (wahrscheinlich Pfr. Theodor Goldschmid, Hymnologe und Komponist, Zentralpräsident des Schweizerischen Kirchengesangbundes 1896–1937), Rudolf Schoch, Zürich und W. S. Huber redigierte Resolution:

 «Die Teilnehmer der Internationalen Arbeitskonferenz für Musikerziehung und Heilpädagogik, die vom 23. bis 28. Juni 1938 in Zürich, Bern und Basel getagt hat, danken der Gesellschaft für Musikerziehung in Prag, dem Schweizerischen Musikpädagogischen Verband, dem heilpädagogischen Seminar der Universität Zürich und den Erziehungsbehörden der Tagungsorte für die Durchführung dieses Kongresses, der ihnen Einblick gab in die Möglichkeiten, bei Gebrechlichen, Schwererziehbaren, Geistesschwachen, Blinden und Taubstummen durch die Musik heilpädagogische Erfolge zu erzielen.
Sie geben dem Wunsche Ausdruck, dass die gesammelten Beobachtungen durch vermehrte Versuche vertieft und die Erfahrungen durch Vermittlung der Zentralstelle Prag ausgetauscht werden. Sie haben die Überzeugung gewonnen, dass die pädagogischen und psychologischen Ergebnisse dieser Arbeiten von ausschlaggebender Bedeutung sind für die Gesamterziehung. Sie erwarten, dass der nächste internationale Kongress 1939 in Prag die Probleme der Spezialkonferenz auf dem Boden der allgemeinen Musikerziehung weiter verfolgt wird.»

 

Auch wenn das Thema diesmal spezieller war, so muss doch vom Kongress in der Schweiz eine ungeheure Breitenwirkung ausgegangen sein, nicht nur in der Heilpädagogik, sondern für die gesamte Bedeutung der Musikerziehung. Die beiden Fachorgane und viele Tageszeitungen berichteten ausführlich davon. Der Besucherstrom an allen drei Tagungsorten war überwältigend und übertraf die kühnsten Erwartungen. Einen Begriff davon erhielt ich durch die mit Mimi Scheiblauer in Zürich aufgetretene Rhythmik- und Klavierlehrerin Olga Zollinger. Sie war nach dem Kriege einige Jahre in England tätig und brachte von dort die Idee der sogenannten freiwilligen Schülerprüfungen (Stufentests) nach Zürich, welche von 1965–79 in der Ortsgruppe Zürich SMPV ihre erste Blütezeit erlebten und sich heute weit verbreitet haben, namentlich in Luzern und an der Jugendmusikschule der Stadt Zürich. Das Ziel dieser Stufentests besteht darin, den Kindern im Instrumentalunterricht nicht nur technische Beherrschung des Instruments, sondern eine umfassende musikalische Bildung mit Gehörbildung, allgemeiner Musiklehre, elementarer Harmonie- und Formenlehre sowie Improvisation (Erfindungsübungen) zu vermitteln, also genau der Stossrichtung der drei genannten Kongresse und auch den Forderungen Varrós entsprechend. Während meiner Präsidialzeit dieser Ortsgruppe 1971–82 lernte ich Olga Zollinger gut kennen. Sie berichtete noch damals begeistert von den Impulsen, die sie 1938 und vorher erhalten und nach denen sie sich ausgerichtet hat.

Der geplante Kongress 1939 in Prag fand nicht mehr statt. Die Tschechoslowakei war von Hitlerdeutschland überrannt worden und Kestenberg, der spiritus rector, hatte sich nach Tel Aviv retten können Die ISME musste nach dem Weltkrieg neu gegründet werden, und zwar 1953 in Brüssel unter den Auspizien der Unesco.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich meinem ersten Klavierlehrer Hans Rogner ein Kränzchen winden. Der Wiener war in Zürich sesshaft geworden, war am Konservatorium als Klavier- und Theorielehrer, Dirigent des Berufsschulorchesters und Bibliothekar angestellt und komponierte charmant und bescheiden, zum Beispiel Bühnenmusiken für die Marionettenspiele von Ambrosius Humm, dem Sohn des bekannten Schriftstellers Jakob Humm, der die Texte dazu lieferte. Rogner verwirklichte, was ich erst später realisierte, genau die in den dreissiger Jahren empfangenen Reformideen, nicht zuletzt von Margit Varró, ohne dass ihr Name einmal im Unterricht auftauchte. Er flocht Gehörbildung und allgemeine Musiklehre in den Unterricht ein. Zu letzterem verfasste er humorvoll mit Ernst Hörler zusammen die bei Jecklin erhältlichen «Musica»-Heftchen mit Zeichnungen zum Beispiel des Intervalensees und der hölzernen Ton-Leiter mit den beiden enger stehenden Sprossen pro Oktave. Das war keine graue Theorie, er liess seine Schüler singen, improvisieren und komponieren. Allerdings lässt sich ein so vielseitiger Unterricht in Halbstundenlektionen kaum realisieren. Er zwackte von den 60 Minuten Einzelunterricht zehn Minuten ab, nahm eine Gruppe von sechs Schülern zusammen und gab eine zusätzliche «Theoriestunde» pro Woche.
 

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Erbe, Vielfalt und Zukunft

Am 20. November 2015 feierte der Verband Musikschulen Schweiz seinen 40. Geburtstag in Biel. Festrednerin war Helena Maffli, Präsidentin der Europäischen Musikschulunion. Sie hat der SMZ die Erlaubnis erteilt, die Rede hier im Wortlaut zu veröffentlichen. Herzlichen Dank!

Helena Maffli. Foto: Archiv SMZ
Erbe, Vielfalt und Zukunft

Am 20. November 2015 feierte der Verband Musikschulen Schweiz seinen 40. Geburtstag in Biel. Festrednerin war Helena Maffli, Präsidentin der Europäischen Musikschulunion. Sie hat der SMZ die Erlaubnis erteilt, die Rede hier im Wortlaut zu veröffentlichen. Herzlichen Dank!

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Très chers amis,

Es freut mich ausserordentlich, dass wir heute den 40. Geburtstag des Verbands Musikschulen Schweiz zusammen feiern dürfen, herzlichen Dank für die Einladung! Es ist schon eine besondere Ehre, Gastrednerin dieser Feier zu sein, und diese Aufgabe habe ich sehr ernst genommen. Zum Thema habe ich «Erbe, Vielfalt und Zukunft» gewählt. Dies ist keine originelle Erfindung sondern eine pure Leihgabe – aber es lohnt sich doch, die guten Ideen zu kopieren, oder was meinen Sie?

Dass man in Europa überhaupt zu der guten Idee kam, einen nationalen Musikschulverband zu gründen, ist nicht sehr lange her. Dagegen weiss jeder von uns, dass die Gründung der Konservatorien im Sinne von öffentlichen Einrichtungen der musikalischen Bildung schon über 200 Jahre zurückliegt. Le Conservatoire National Supérieur de Paris kam zuerst, 1795, und in den nachfolgenden Jahrzehnten ging die Gründungsbewegung weiter in die meisten Zentren Europas. In der Schweiz wurde als Erstes Le Conservatoire de Musique de Genève1835 gegründet und in den vierzig folgenden Jahren Bern, Lausanne, Basel, Winterthur und Zürich. In diesen Schulen konnte man generell im gleichen Haus von der Kindheit bis zur Vollendung der Berufsstudien lernen: das Kontinuum der musikalischen Bildung war eine Selbstverständlichkeit.

Die Jugendmusikschulen dagegen sind eine Erscheinung der Nachkriegszeit. Die grossen soziokulturellen Umwandlungen, das neue Identitätsbewusstsein und der allgemeine Wiederaufbau nach dem Krieg begünstigten auch die progressive Entstehung einer viel breiteren musikalischen Bildung als früher. In diesem Zusammenhang ist es auch kein Zufall, dass gerade Frankreich und Deutschland als erste schon in den fünfziger Jahren einen nationalen Musikschulverband gründeten.
In den Sechziger- und Siebzigerjahren nahm die Zahl der Musikschulen rasant zu, sowohl in der Schweiz als auch überall in Westeuropa. Zu diesen Zeiten wurden auch die meisten Musikschulverbände Westeuropas gegründet.
Osteuropa dagegen entwickelte nach dem sowjetischen Vorbild ein anderes Modell, mit zentralisierten Musikschulen und mit dem Ziel eher der Begabten- als der Breitenförderung. Während des kalten Krieges waren die West-Ost-Kontakte äusserst begrenzt, aber nach dem Berliner Mauerfall haben auch die meisten osteuropäischen Länder Musikschulverbände gegründet.

Die Verbindungen zwischen dem Verband Musikschulen Schweiz (VMS) und der Europäischen Musikschulunion (EMU) sind eng und standhaft, und das seit der Gründung der beiden Organisationen, EMU 1973 und VMS 2 Jahre später. Für diese Treue über Jahrzehnte hinweg und für die vielen guten Beispiele seitens des VMS sind wir in der EMU sehr dankbar. Ich komme zurück auf dieses Thema im dritten Teil meiner Festrede.

Héritage, Diversité, Futur. En Suisse, la diversité fait partie intégrante de l’héritage comme dans peu d’autres pays en Europe. Plus de 50% des Suisses ont au moins un grand-parent né à l’étranger, si bien que la diversité se situe dans l’ADN de ce peuple et (je cite) « le multiculturel s’est inscrit dans la réalité suisse au point qu’il a intégré notre subconscient », fin de citation du Neuchâtelois Gabriel de Montmollin. Celui ou celle – comme moi-même – qui vient d’un pays centraliste, met quelques années rien que pour essayer de comprendre ce pays où les us et les coutumes, les dialectes, les menus, l’architecture et tout le reste changent au fur et à mesure que défilent les paysages qu’on admire depuis les trains des fameux chemins de fers suisses !
Mais encore plus étonnant pour moi était de découvrir que dans ce petit pays les façons mêmes de penser l’enseignement ainsi que les traditions et les pratiques pédagogiques sont tout aussi variées, que ce soit à l’école publique ou dans les écoles de musique. Cependant, je dois vous avouer honnêtement que je n’en avais pas vraiment pris conscience dans mes fonctions au Conservatoire de Lausanne, avant de commencer à côtoyer des collègues de toute la Suisse grâce à mon expérience au comité et aux travaux de l’ASEM. Peu à peu, j’ai alors constaté que la Suisse en tant que telle et la Suisse pédagogique sont une mini-Europe, et rien ne m’a plus étonné dans la diversité des réseaux européens.

« L’unité dans la diversité » est à la fois la belle devise européenne, l’idéal de la Suisse et la source de la richesse de notre culture et de notre musique. Mais c’est un contexte tellement exigeant ! Assumer concrètement cette diversité démographique, politique, linguistique et pédagogique est un travail quotidien qui demande beaucoup de volonté et d’efforts. L’ASEM offre une plateforme nationale extraordinaire pour des rencontres et des débats qui peuvent être vifs, mais jamais destructifs. A travers des décennies, il a toujours été possible au sein de l’ASEM de trouver des solutions aux défis des plus divers parce que finalement tout le monde a fait le choix de travailler ensemble à long terme. Cela demande de la patience. J’ai entendu dire qu’en Suisse les moulins tournent lentement (« In der Schweiz mahlen die Mühlen langsam »). Pour moi, le sens de cette phrase un peu moqueuse est positif. Je crois que la Suisse est toujours cette « nation de volonté » (Willensnation) qui est préparée à rencontrer les défis toujours grandissant du monde actuel et capable de trouver des réponses.

« Plus vous saurez regarder loin dans le passé, plus vous verrez loin dans le futur »/« Je weiter man zurückblicken kann, desto weiter wird man vorausschauen » (Winston Churchill). Das 40-jährige Dasein des Verbandes Musikschulen Schweiz enthält viele Aspekte und Problemlösungen die man aus der europäischen Perspektive bewundern kann. Ich sehe folgende wertvolle Elemente:

  • eine starke Vernetzung mit dem gesamten Schweizer Musiksektor, worin der VMS eine proaktive und vorausgehende Rolle erworben hat
  • ein geduldiger und pragmatischer Aufbau der Verbandsorganisation (Erneuerungen ohne Revolutionen)
  • die einzigartige Pensionskasse Musik und Bildung, ein geniales Businessmodell, und das seit 1978
  • das Forum Musikalische Bildung, eine nachhaltig gewordene nationale Plattform
  • -die treibende Kraft vom VMS in der politischen Arbeit, ich denke vor allem an den Werdegang der Volksinitiative Jugend und Musik und an die laufende Umsetzung des Verfassungsartikels, und – last but not least :
  • die dauerhafte internationale Vernetzung des VMS. Sie sollen wissen, dass das 7. Europäische Jugendmusikfestival der EMU 2002 in der Schweiz – eine Riesenherausforderung des VMS – für die europäischen Teilnehmenden zu einem der allerbesten Festivals wurde, dank der Betreuung jeder einzelnen Gruppe von einer Musikschule in einer der Regionen der Schweiz. Da wurde die Schweizer Vielfalt mit all ihren Dimensionen konkret und unvergesslich miterlebt.

Auf der gemeinsamen Reise in die Zukunft ist es heute wichtiger denn je, nach weltweiten Wegweisern zu suchen. Sollte es eine Hoheit über nationale und internationale Bildungsorganisationen geben, kann dies nur die Unesco sein, und hier möchte ich an die zweite Unesco-Weltkonferenz zur künstlerischen Bildung (« arts education ») in Seoul 2010 erinnern. Die Seoul Agenda, das Ergebnis dieser Konferenz, wurde von allen Unesco-Mitgliedstaaten in der ganzen Welt einstimmig verabschiedet. Sie ist ein konkreter Aktionsplan mit praktischen Strategien und Handlungsempfehlungen und sie besteht aus drei Zielsetzungen:

1.Den Zugang zu künstlerischer und kultureller Bildung als grundlegenden und nachhaltigen Bestandteil einer hochwertigen Erneueurung von Bildung sicherstellen.
2.Die Qualität der Konzeption und Durchführung von künstlerischen und kulturellen Bildungsprogrammen sichern.
3.Prinzipien und Praktiken dieser Bildung anwenden, um zur Bewältigung der heutigen sozialen und kulturellen Herausforderungen beizutragen.

Diese drei Ziele sind schwer trennbar und stehen in einer engen Wechselwirkung. Mit den zwei ersten Zielen, Zugang und Qualität, setzen sich alle mir bekannten Musikschulen in Europa fast ständig auseinander. Dagegen bleibt das dritte Ziel, soziale und kulturelle Herausforderungen, viel ferner von den Debatten über die Zukunft der musikalischen Bildung und der Musikschulen. Gründe dafür kann man erraten. Dennoch wächst das generelle Bewusstsein unserer ganzheitlichen Bildungsverantwortung in der Welt der Globalisierung, Migrationen und Unsicherheit. Keiner von uns ist zu klein oder zu gross, dieses dritte Ziel auf seiner Weise und an seiner Stelle umzusetzen, sei es auf der individuellen, schulischen, regionalen, nationalen und internationalen Ebene.

Die Schweiz steht ganz vorne in Europa in vielen musikalischen Angelegenheiten: die Mitgliederzahl des Schweizer Musikrates, die Zahl der Studierenden in den Musikhochschulen und der Lernenden in den Musikschulen (da sind wir Nr.2 in Europa), der Wachstum der Konzertindustrie, die Zahl der Amateurorchester und Chöre usw. Deswegen ist unsere Verantwortung vielleicht noch grösser, alles dafür einzusetzen, alle zusammen, damit die Reise in die Zukunft in die gute und sichere Richtung geht.

40 Jahre ist ein wunderbares Alter: Man hat Erfahrung ohne zuviel Gewicht der Vergangenheit und es bleibt viel zu lernen und zu erleben. Ich gratuliere dem Verband Musikschulen Schweiz mit allen früheren und heutigen Mitwirkenden von ganzem Herzen und wünsche viel Kraft, Freude und Erfolg für die Zukunft.

Vorausgehen – verbinden – unterstützen / anticiper – unir – soutenir : quelle belle vision, qu’elle vous porte toujours plus loin, chers amis !
 


Überblick über die wichtigsten Ereignisse in der Geschichte des VMS

 

Der Artikel Ein «kleines» VMS-Jubiläum aus der Feder des VMS ist auf den Unterseiten des Verbandes Musikschulen Schweiz abrufbar. Bitte klicken Sie hier


Bericht über die Jubiläumsfeier in Biel am 20. November 2015

Das PDF des Berichts aus der SMZ 12/2015, S. 29, können Sie hier herunterladen.

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Das Duo Calva moderierte die Geburtstagsfeier fulminant.

Auch die VMS-Präsidentin und ehemalige VMS-Präsidenten wurden vom musikalischen Witz des Duos Calva umgarnt:

Hector Herzig (1. von links)
Hans Brupbacher (2. von links)
Willi Renggli (1. von rechts)
Christine Bouvard, amtierende VMS-Präsidentin (2. von rechts)

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