Freunde beidseits des Eisernen Vorhangs

Meinhard Saremba zeichnet in seinem Buch die Künstlerfreundschaft von Britten und Schostakowitsch nach.

Berliner Mauer am Bethaniendamm in Berlin-Kreuzberg 1986. Foto: Thierry Noir/Wikimedia commons CC BY-SA 3.0 unported

Das Wagnis hat sich gelohnt, die beiden Komponisten aus dem Schatten der Politik zu holen, den englischen, Benjamin Britten (1913–1976), in der Zeit des Niedergangs eines Weltreiches, und den russischen, Dmitri Schostakowitsch (1906–1975), in der schreckenerregenden Sowjetzeit. Die 1960 eher zufällig sich ergebende Bekanntschaft, welche sich über die schier unüberwindliche Grenze des Kalten Krieges hinweg zur Freundschaft entwickelte, wird in den verschiedensten Facetten von künstlerischen und menschlichen Bezügen dargestellt. Allen Widerwärtigkeiten zum Trotz konnten sie sich sechs Mal treffen, sowohl in Aldeburgh wie in Moskau und auf der gemeinsamen Reise in Armenien (Sommer 1965).

Dabei bemüht sich der Autor, politische Grossereignisse wie die Kubakrise 1962, den Einmarsch der Warschaupakt-Staaten in die Tschechoslowakei 1968 und die hitzige Diskussion in Grossbritannien um das Festival sowjetischer Musik 1972 in die Auseinandersetzungen um die Entwicklung der Neuen Musik einzubauen, ohne den Fokus auf die beiden Künstler als bedrohte Existenzen zu vernachlässigen. Denn unter diesem Aspekt wurden sie vor und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als Komponisten völlig kontrovers beurteilt, und die Diskussionen in Ost und West setzen sich heute unvermindert fort, da beide kaum je der Avantgarde zugezählt werden konnten und ihre Werke deshalb oft unter ihrem Wert be- und abgeurteilt wurden.

Zitate in Überfülle aus englischen und russischen Quellen – in weit über tausend Anmerkungen ausgewiesen – ersetzen oft eine vom Autor erwartete Stellungnahme. Primär aber geht es ihm nicht darum, die Werke neu zu beurteilen, sondern er beleuchtet die teilweise vergleichbaren schwierigen Umstände, unter denen die Werke entstanden sind, neu. Da sich beide Komponisten mit den politischen Ereignissen beschäftigen mussten und dadurch oft, aber nicht immer, ungewollt zu Mitbeteiligten wurden, erforderte dies umfangreiche Recherchen im privaten Umfeld. Der «Bedeutungswandel von Werten und Worten» oder Details zum Kulturaustausch-Abkommen zwischen Grossbritannien und der UdSSR im Jahr 1959 führen weit darüber hinaus, eröffnen aber oft Einblick in schon vergessene Vorkommnisse in der Zeit des Kalten Krieges.

Solche Überblicksbetrachtungen bergen allerdings die Gefahr, dass die geopolitischen Aspekte, aus der eingeengt kulturellen Perspektive begriffen, einer gesamthistorischen Beurteilung nicht immer standhalten. Hingegen ist es verdienstvoll, dass der Autor versucht, auch die problematischen Seiten der in Aussenseiterrollen gedrängten Individualisten zu beleuchten.


Meinhard Saremba: Keeping the cultural door open. Britten und Schostakowitsch. Eine Künstlerfreundschaft im Schatten der Politik, 518 S., € 28.00, Osburg-Verlag Hamburg, Eimsbüttel 2022, ISBN 978-3-95510-295-1

Übersicht und Detailreichtum

Elisabeth Schmierer trägt in ihrer Darstellung «Die Musik des 18. Jahrhunderts» eine Fülle an Material zusammen.

Opernprobe. Ölgemälde von Marco Ricci, um 1709 (aufgehellt). Yale Center for British Art/Wikimedia commons

Eine Epoche wie das 18. Jahrhundert, die eigentlich gar keine Epoche ist, in einem Buch zusammenzufassen, scheint schier unmöglich. Zu weit ist der politische, ideengeschichtliche, künstlerische und auch musikalische Bogen, den es spannt. Die Darstellung von Elisabeth Schmierer – sie forscht und lehrt an der Folkwang-Universität der Künste in Essen – fokussiert deshalb nicht auf einzelne Persönlichkeiten, sondern folgt durchaus schlüssig den Entwicklungen verschiedener Gattungen, die sie wiederum vor dem jeweiligen gesellschaftlichen Hintergrund beleuchtet. Wie entwickelt sich die Kirchenmusik in Zeiten der Aufklärung und des aufkommenden Konzertbetriebs. Wie erscheint das Lied vor dem «Spiegel bürgerlicher Musikkultur»? Vor allem immer wieder: Wo steht das Musiktheater? Das ist höchst informativ, weil Schmierer auch zu Seitenbereichen wie etwa der Ballettpantomime oder der Programmmusik reichlich Material zusammenträgt.

Manchmal fast etwas zu reichlich, so dass man beim Lesen den Überblick zu verlieren droht. Der Verzicht auf Fussnoten (stattdessen gibt’s viele Klammern) macht den Text noch etwas weniger flüssig lesbar. Bilder und Notenbeispiele fehlen fast gänzlich. Ein Glossar erklärt zwar im Anhang die wichtigsten Begriffe, aber das verhindert nicht, dass das Buch letztlich recht wenig anschaulich ist.

Ich greife ein Lieblingsbeispiel heraus, die Passionsdichtung des Hamburger Schriftstellers und Stadtrats Barthold Heinrich Brockes, die von einigen der wichtigsten Komponisten wie Händel, Telemann oder Stölzel vertont wurde und bei der sich auch Bach bediente. Diese Namen und einige mehr werden erwähnt, ausserdem dass Brockes den Evangelistentext wieder ins Passionsoratorium eingeführt hat, allerdings mit einigen Reimen. Und das ist’s auch schon. Nichts darüber, zu welch höchst individuellen und spannenden Lösungen der hochexpressive Text die Musiker anregte. Nein, es geht rasant im Aufzählen weiter.

Schliesslich zementiert der Band, auf dessen Titelseite doch drei musizierende Frauen zu sehen sind, unter der Hand den Eindruck, dass weibliches Komponieren in jenem Zeitalter überhaupt keine Rolle gespielt habe. Einzig Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerre taucht als Komponistin auf. Eine Juliane Reichardt fehlt ebenso wie die Madame de Montgéroult, die zu den ersten Lehrerinnen am Pariser Conservatoire gehörte. Trotz solcher Leerstellen vermittelt der Band eine gute Übersicht und ist gewiss all jenen nützlich, die Musikgeschichte unterrichten und sie in einem weiteren Rahmen vernetzen möchten.
Elisabeth Schmierer: Die Musik des 18. Jahrhunderts, 345 S., € 32.80, Laaber, Lilienthal 2022, ISBN 978-3-89007-858-8

Der Vielseitigkeit auf der Spur

Gespräche mit Musikerinnen und Musikern, die inner- und ausserhalb der Musik verschiedenste Tätigkeiten verfolgen.

«x-stimmig», eine Gesprächsreihe zur Vielseitigkeit in der Musik. Foto: Mishchenko

Der Autor dieses Podcasts, Matthias Droll, ist selber vielseitig unterwegs: Nach einem Studium in klassischem Schlagwerk und Elementarer Musikpädagogik absolviert er einen Jazz-Master und spielt in einem Trio, das elektronische Musik macht. Daneben klettert er. Auch sein künftiges Berufsleben möchte er vielseitig gestalten. Darum versucht er die Vielseitigkeit zu ergründen. Als Bestandteil seiner Masterthesis an der Hochschule der Künste Bern hat er nun eine Reihe von akustischen Porträts gestaltet, die online nachzuhören sind. In x-stimmig führt er Gespräche mit Musikerinnen und Musikern, die mit mehreren Instrumenten, in mehreren Genres, in mehreren Rollen, von Interpret bis Hochschuldozentin, unterwegs sind, die zudem oft im Sport oder in Organisationen aktiv sind. Er befragt sie, wie sie zu dieser Vielzahl von Tätigkeiten gekommen seien, beginnt in der Kindheit, will wissen, ob sie jemals Interessensgebiete hätten aufgeben, sich entscheiden müssen, wie sie alles unter einen Hut brächten und wie sie in dieser Vielfalt zu kreativen Phasen kämen.

Beim Zuhören der zwischen 39 Minuten und knapp über einer Stunde langen Beiträge ergibt sich eine angenehme Spannung zwischen dem ruhig geführten Gespräch, das auch Zeit für Nachfragen und längere Ausführungen hat, und der manchmal schwindelerregenden Menge an Beschäftigungen, denen sich die Befragten widmen. Ob dieses geduldige und sorgfältige Herangehen schon eine der Antworten ist? Es geht aber nicht eigentlich darum, wie verschiedenste Tätigkeiten nebeneinander bewältigt werden können, sondern ob und wie sie sich gegenseitig befruchten.

Wer sich Fragen stellt zur eigenen Vielseitigkeit oder einfach Einblicke in das Leben inspirierender Musiker und Musikerinnen haben möchte (wobei man dazu – ganz der Vielseitigkeit verpflichtet – noch Gemüse rüsten oder abwaschen kann), sollte reinhören. Bislang gibt es neun Folgen, weitere sollen im Herbst folgen.

x-stimmig – (nicht) nur Musik

 

 

 

Vom Bündnerland in die Welt und zurück

Corin Curschellas feiert ihr 50-jähriges Bühnenjubiläum mit einer speziellen Box: vier CDs und zwei Bücher.

Corin Curschellas. Foto: Daniel Infanger

Corin Curschellas ist trotz ihrer langen und erfolgreichen internationalen Karriere in der Schweiz erstaunlich unbekannt geblieben; für den einheimischen Massengeschmack war sie wohl immer zu eigenwillig und sperrig. Zudem hat sie selber die öffentliche Aufmerksamkeit nie gesucht, die Musik war ihr stets wichtiger als der Erfolg. Die Grande Dame der Schweizer Musikszene feiert nun ihre 50-jährige Bühnentätigkeit mit einer Box, die nicht nur für alte Fans, sondern auch für ein neues Publikum interessant ist. Compact Discs sind zwar inzwischen bereits ein historisches Format, das schön gestaltete Kartonetui mit vier CDs und zwei Büchern fasziniert aber als Objekt über die Musik hinaus. So machen CDs durchaus noch Sinn, weil die Box viel lesenswerte Information beinhaltet: alle Songtexte, die rätoromanischen sogar mit Übersetzung, beteiligte Interpretinnen und Texter, eine vollständige Diskografie und kurze Texte von Corin, Weggefährtinnen und Weggefährten, die stimmige Impressionen zur Person und zum Werk liefern. Die Bücher sind grafisch überaus ansprechend gestaltet und ergänzt mit reichem Fotomaterial. Dieses allein lohnt schon die Anschaffung.

Die sechzig Stücke auf den vier CDs stammen aus Curschellas Soloalben aus den Jahren 1990 bis 2010, ergänzt durch neue Aufnahmen von 2022. Erfreulicherweise wurden nicht einfach alte Alben neu aufgelegt, sondern die Songs sehr sorgfältig ausgewählt und in neuer Reihenfolge zusammengestellt. So erscheinen sie in einem anderen Kontext und man hört sie, auch wenn man sie schon kennt, plötzlich wieder ganz neu. Dabei kommen zwei Dinge deutlich zum Vorschein: Einerseits die sprachliche und musikalische Vielseitigkeit der Schöpferin. Die Texte sind in Rumantsch, Mundart, Deutsch, Englisch und Französisch verfasst und Corin beherrscht das Singen in allen Sprachen. Auf der anderen Seite zeichnet sich ihr Lebensweg sehr schön ab in den Aufnahmeorten: vom Bündnerland nach Zürich, Berlin, Wien, Paris, London bis nach New York und wieder zurück in die Surselva.

Ein weiteres Merkmal von Curschellas Schaffen ist ihre Gabe, sich mit den besten Leuten zu vernetzen, sei es für die Texte oder auch für die Aufnahmen. Die Liste der Texterinnen und Musiker ist beeindruckend: in der Schweiz – unter vielen anderen – Heiri Känzig, Christy Doran, Max Lässer oder Co Streiff, in Wien das Vienna Art Orchestra mit Mathias Rüegg, in Paris Noël Akchoté und Steve Argüelles, in New York Marc Ribot, Robert Quine, J. T. Lewis oder Greg Cohen, alles renommierte Grössen ihres Fachs. Stilistisch pendeln die Stücke zwischen Jazz, Experimental, Worldmusic bis hin zum Chanson. Curschellas verliert sich in dieser unglaublichen Vielseitigkeit aber nicht in Beliebigkeit, sondern schafft es immer, ihren Songs eine ganz eigene und persönliche Note zu geben.

In den letzten 15 Jahren hat sich Corin vor allem mit dem rätoromanischen Volkslied befasst, was bei Publikum und Presse sehr gut angekommen ist. Darob ging etwas vergessen, dass sie auch eine grosse internationale Karriere gemacht und die Schweiz in die Welt getragen hat – und die Welt zurück in die Schweiz. Die wunderbare Box führt es deutlich vor Augen.Corin Curschellas: Collecziuns 1990–2010 + 2022 Her Songs, Tourbo Music TOURBO068

Quintett-Raritäten aus der Schweiz

Kaum bekannte Werke für Streichquartett mit Klavier oder Streichquintett von Gustave Doret, Fritz Bach und Frank Martin, entstanden um 1920.

Gustave Doret, im Buch «Die Schweiz im neunzehnten Jahrhundert, hg. von schweizerischen Schriftstellern unter Leitung von P. Seippel», 1899. Quelle: British Library/Wikimedia commons

Es ist immer erfreulich, auf CDs mit Kompositionen zu stossen, von deren Existenz man höchstens aus Werkverzeichnissen oder Lexika Kenntnis hatte. Eine solche Aufnahme ist Quintettes suisses mit zwei Weltpremieren von Gustave Doret und Fritz Bach für Klavier und Streichquartett sowie einem Werk für Streichquintett des jungen Frank Martin, die sich Liebhaber von opulenter spätromantischer Kammermusik mit Vergnügen anhören werden. Gespielt werden diese Stücke vom Melos-Ensemble Wien und dem italienischen, in der Westschweiz tätigen Pianisten Adalberto Maria Riva. Ein Cellist des Wiener Ensembles ist Christophe Pantillon, der einer bekannten Schweizer Musikerfamilie entstammt. Die Interpretationen aller drei Werke sind hervorragend, inspiriert, temperamentvoll und klangschön. Ein besonderes Lob gebührt dem Pianisten, dem in den zwei Klavierquintetten eine überaus prominente und anspruchsvolle Rolle zukommt.

Adalberto Maria Riva. Foto: zVg

Dorets Quintett ist 1925 auf Anregung des berühmten polnischen Pianisten, Komponisten und Politikers Ignacy Paderewski entstanden. Gustave Doret (1866–1943) ist zwar kein unbekannter Komponist, sein Ruhm beruht aber eher auf seinen Bühnenmusiken für das Théâtre du Jorat im waadtländischen Mézières, der Musik zu zwei Fêtes des Vignerons sowie seinem reichen Liedschaffen. In Aigle geboren, studierte Doret zunächst bei Joseph Joachim in Berlin, anschliessend in Paris bei Jules Massenet und Théodore Dubois. Als Dirigent hob er 1894 Debussys frühes Meisterwerk Prélude à l’après-midi d’un faune aus der Taufe. Seine eigene Musik ist aber eher von Fauré als vom Impressionismus beeinflusst.

Etwas früher komponiert, nämlich 1918, wurde das Poème von Fritz Bach (1881–1930), eigentlich Frédéric Henri Bach, der in Paris geboren wurde, seine Schulzeit und ein Theologiestudium in Lausanne absolvierte, ehe er in der französischen Hauptstadt bei Charles Widor und Vincent d’Indy Komposition und bei Alexandre Guilmant und Louis Vierne Orgel studierte. Zurück in der Schweiz unterrichtete er in mehreren Städten am Genfersee und komponierte hauptsächlich geistliche Musik. In gewisser Weise könnte man sogar sein fast 40-minütiges Klavierquintett dazu zählen: In fünf Sätzen (Jeunesse; Amour; Bonheur; Douleurs, Tristesses; Luttes) wird ein ganzes Menschenleben mit Höhen und Tiefen geschildert. Im letzten Satz tritt zuerst der Psalm 130 in Erscheinung (Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu Dir), bevor der Choral Was Gott tut, das ist wohlgetan dem Leben einen versöhnlichen Ausklang beschert. Musikalisch wird all dies mit relativ einfachen, aber überzeugenden Mitteln umgesetzt, die stilistisch von der französischen Spätromantik beeinflusst sind.

Wie Jacques Tchamkerten in seinem kenntnisreichen Booklettext zu Recht bemerkt, ist Frank Martins Pavane couleur du temps (1920) von Ravels Ma Mère l’Oye und von der Begeisterung für das Frankreich von Louis XIV inspiriert. Der Titel bezieht sich auf Charles Perraults Märchen Peau d’âne, das wir als Allerleirauh kennen. Noch ist wenig oder nichts von Martins Reifestil zu erkennen, aber eine erste Talentprobe, die sehr gut zu den beiden Klavierquintetten passt, ist es allemal.

Quintettes suisses. Œuvres de Gustave Doret, Frank Martin, Fritz Bach. Melos Ensemble de Vienne; Adalberto Maria Riva, piano. Harmonia Helvetica, Cascavelle VEL 1677

Klavierkonzerte und exotische Vögel

Francesco Piemontesi und das Orchestre de la Suisse Romande spielen Schönberg, Messiaen und Ravel.

Das Orchestre de la Suisse Romande in der Victoira Hall, Genf. Foto: Niels Ackermann/OSR

Das Orchestre de la Suisse Romande präsentiert auf seiner jüngsten CD bei Pentatone eine gelungene Zusammenstellung von Werken der klassischen Moderne, wobei nicht nur die Auswahl, sondern auch die Reihenfolge der Einspielung überzeugt. Zuerst ist da Maurice Ravels berühmtes Klavierkonzert G-Dur von 1931, gefolgt von Olivier Messiaens Oiseaux exotiques von 1956. Den Abschluss der «Trilogie» macht Schönbergs Klavierkonzert op. 42 von 1942.

Unter der Leitung seines Chefdirigenten Jonathan Nott spielt das Orchester höchst präzise und mit grosser Wandlungsfähigkeit. Bei Schönbergs Klavierkonzert mit seinem versteckten autobiografischen Programm werden die vier Teile des formal einsätzigen Werks deutlich hörbar: Als Beispiel mag die expressive Gestik des zweiten Abschnitts genannt werden, die unvermittelt und anrührend in den düster-tragischen dritten Abschnitt mündet, einer Art Trauermarsch. An seiner Seite weiss das Orchester aber auch einen Pianisten der Extraklasse, Francesco Piemontesi, der in Anschlagstechnik und Interpretation Schönbergs Tonsprache bestens beherrscht.

Etwas weniger überzeugend sind die Oiseaux exotiques geraten. Da «zwitschert» das Orchester zuweilen etwas gar pompös, was schon zu Beginn mit den ersten beiden Hornrufen des indischen Maina angekündigt wird und im grossen Tutti des Hauptteils seinen Höhepunkt findet. Piemontesi sorgt allerdings für Auflockerung und Finesse.

Sind die Werke von Schönberg und Messiaen ganz auf Jonathan Notts Interpretationsweise zugeschnitten, so ergeben sich bei Ravels witzigem und abwechslungsreichem Klavierkonzert ein paar Fragezeichen. Dem ersten Satz mit seinen Jazzanklängen fehlt etwas der zündende Esprit und dem zweiten die französische Leichtigkeit. Das Presto ist dagegen höchst prägnant und virtuos gespielt von Piemontesi, ein idealer Wurf hinführend zu Messiaens exotischen Vögeln.

Schoenberg, Messiaen, Ravel. Francesco Piemontesi, Orchestre de la Suisse Romande, Jonathan Nott. Pentatone PTC 5186 949

Fröhliche und virtuose Ragtimes

Das Heft «Three Ragtimes» umfasst Stücke von Euday Bowman und George Botsford. Heinz Bethmann hat sie für Klarinette und Klavier arrangiert.

Ausschnitt aus einer frühen Ausgabe des «12th Street Rag» von J. W. Jenkins‘ Sons Music Co., Kansas City, Missouri (1915). Wikimedia commons

Der deutsche Musiker und Komponist Heinz Bethmann hat für diese Ausgabe aus dem Verlag Uetz drei Ragtimes aus den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts für Klarinette und Klavier arrangiert. Der berühmteste, 12th Street Rag, stammt von Euday Bowman (1886–1949), dem Nachkommen einer deutschen Immigrantenfamilie namens Baumann, welcher in Texas lebte. Sein Geld verdiente Bowman vor allem als Pianist in Bars und Nachtclubs. Der 12th Street Rag war seine mit Abstand erfolgreichste Komposition und wurde von vielen Bands und Musikern aufgegriffen, so unter anderen von Duke Ellington und Louis Armstrong.

Das Stück besteht im ersten Teil aus einem repetierten 3-Ton-Motiv mit rhythmischen Verschiebungen. Im zweiten Teil gilt es in der Solostimme viele Sprünge zu bewältigen, und der dritte Teil besteht wieder aus einem 3-Ton-Motiv, diesmal chromatisch geführt. Das Klavier spielt eine typische Stride-Piano-Begleitung, hier allerdings aufgeteilt in linke und rechte Hand, da die Melodie von der Klarinette übernommen wird.

Bei den anderen beiden Stücken, Black and White Rag sowie Texas Steer Rag, wird in der Klarinettenstimme ebenfalls Euday Bowman als Komponist genannt. Diese beiden Titel stammen aber aus der Feder von George Botsford (1874–1949), einem Zeitgenossen Bowmans, wie es in der Klavierstimme richtig angegeben ist.

Der Black and White Rag besteht in der Melodie fast durchgehend aus Akkordbrechungen unterschiedlicher Dreiklänge. Das setzt entweder schon eine sichere Beherrschung der Technik voraus oder bietet sonst eine gute Gelegenheit zum Training von Dreiklängen. Die Klavierbegleitung ist derweil geprägt von lustigen Durchgängen bei den Harmoniewechseln.

Texas Steer schliesslich kombiniert in der Melodie chromatische Leit- und Durchgangstöne mit Sprüngen und synkopierten Rhythmen, was beim Spielen auf der Klarinette auch eine gewisse Fingerfertigkeit und rhythmische Grundsicherheit erfordert. Die Stücke richten sich an Schülerinnen und Schüler, welche das Anfängerstadium hinter sich gelassen und Lust auf fröhliche und virtuose Musik haben.Euday Bowman: Three Ragtimes for Clarinet and Piano, arrangiert von Heinz Bethmann, BU 6244, € 15.00, Bruno Uetz Musikverlag, Halberstadt

 

Isaac Makhdoomi als Komponist und Interpret

Ein Blockflötenstück im barocken Stil und ein zeitgenössiches Solowerk aus seiner Feder sind kürzlich erschienen. Zudem ist er auf der CD «Vivaldi Concerti per flauto e Arie» zu hören.

Isaac Makhdoomi. Foto: zVg

Aus einer indisch-schweizerischen Familie stammend trägt der Blockflötist Isaac Makhdoomi nicht nur zwei Kulturen im Herzen, sondern ist auch als Musiker und Komponist in den unterschiedlichsten Stilen heimisch. Seine Sonata per Flauto dolce entstand aus dem Bedürfnis, die Solowerke des Barocks um ein Stück zu erweitern und dabei die Umsetzbarkeit mit Blockflöte, also deren instrumentenspezifische Vorzüge und Grenzen, zu beachten. Entstanden ist ein viersätziges Werk, das melodisch an Telemann, auch an Corelli und harmonisch fallweise an Bach erinnert, in dem aber auch kleine französische und englische Verzierungen anzutreffen sind – eine reizvolle multikulturelle Barocksonate oder -suite sozusagen.Makhdoomis Catching Moments hingegen ist eine zeitgenössische, traditionell notierte Komposition, die sich in drei Abschnitte gliedert und mit «mystisch, frei» überschrieben ist. Beginn und Ende haben einen improvisatorischen Charakter und erinnern an indische Flötenmusik. Immer wieder verweilt die Musik auf längeren Tönen, um sich in kurzen schnellen Läufen oder rhythmischen Sequenzen zu einer Pause oder dem nächsten langen Ton hinzubewegen. Der rhythmische, schnellere Mittelteil ist rhetorisch gedacht, beginnt mit geräuschvollen und genau notierten Silben, die in die Flöte gesprochen werden sollen und entlädt sich danach in Multiphonics und hörbarem Fingerklappern.Auch als Interpret lässt sich Isaac Makhdoomi nicht einfach in eine Schublade stecken. Dem Fernsehpublikum ist er seit seinem Auftritt bei den «Grössten Schweizer Talenten» als Teil der Band Sangit Saathi bekannt, bei dem er der Blockflöte funkige Klänge entlockte und die Zuhörer begeisterte. Seine neu erschienene CD mit den Concerti von Antonio Vivaldi zeigt wiederum eine ganz andere Seite des Musikers. Das klug konzipierte und aussergewöhnlich schön abgemischte Album, in dem Makhdoomi den bekannten Concerti zwei Arien-Juwelen gegenüberstellt, überzeugt nicht nur durch kraftvolle Virtuosität, klar konturierte Dynamik, eine spannende Instrumentation im Continuo oder improvisatorische Momente, sondern vor allem durch eine grosse Individualität und Klangsehnsucht in den lyrischen und reich verzierten langsamen Sätzen.

Isaac Makhdoomi: Sonata per Flauto dolce, für Altblockflöte solo, N 2462, € 11.90, Heinrichshofen & Noetzel, Wilhelmshaven

Isaac Makhdoomi: Catching Moments, für Altblockflöte, EFT 3131, € 9.00, Edition Tre Fontane, Münster  

Vivaldi Concerti per flauto e Arie. Isaac Makhdoomi, recorder; Ensemble Piccante; Arnaud Gluck, countertenor. Prospero PROSP0064

Strauss-Lieder nach Opus-Zahlen

In neuen, schön-schlichten Heften finden sich je nach Werkgruppe zwei, vier, sechs Lieder von Richard Strauss.

Strauss-Karikatur von Major, 1911. Wikimedia commons

Richard Strauss’ Liederalben sind in vier Bänden bei der Universal Edition erschienen. Jeweils für hohe, mittlere und tiefe Stimme. Soweit lässt das keine Wünsche offen. Dennoch hat man sich im Verlag entschlossen, die Lieder zusätzlich in kleinen, dünnen und benutzerfreundlichen Heften, die jeweils die Werke einer Opuszahl zusammenfassen, herauszugeben (op. 10, 19, 21, 26, 27, 29 und 32). Sie folgen dem Text der Kritischen Werkausgabe. Ahnt man da einen Ersatz für Tablet & Co?

Die Hefte sind leicht, handlich, einfach zu transportieren, Zusammengehöriges steht zusammen. Einziger Nachteil: Im Regal sieht alles gleich aus. Die Titel stehen nicht auf dem kartonierten, weissen, schlichten Einband, sondern nur die Opuszahl (deshalb sieht es ja auch so schön aus). Man muss also wissen: Aha, Opus 32, das war doch O süsser Mai, oder Opus 29, stimmt: Traum durch die Dämmerung. Ansonsten eine gute, ästhetische, ansprechende Sache und damit auch durchaus bühnentauglich.

Die Hefte enthalten englische Übersetzungen und sind zu kleinem Preis erhältlich.

Richard Strauss: Vier Lieder für mittlere Stimme mit Klavierbegleitung op. 27, UE 37987, € 19.95, Universal Edition, Wien (Beispiel)

 

Swingende Originalkomposition

Fünf bis sieben Stimmen und Varianten für mehr oder weniger geübte Spielerinnen und Spieler hat Raphael Benjamin Meier in seinem Stück für Blockflötenensemble vorgesehen.

Raphael Benjamin Meyer. Foto: zVg

Raphael Benjamin Meyer ist in erster Linie als Filmkomponist bekannt (z. B. Der Bestatter), er ist aber auch Blockflötist mit Studium an der Schola Cantorum Basiliensis und Leiter dreier Blockflötenorchester. The Swing Thing ist eine Auftragskomposition, in der er seine Berufe, Erfahrungen und Leidenschaften in kongenialer Art und Weise verknüpfen kann.

The Swing Thing funktioniert sowohl in Einzel- wie in chorischer Besetzung. Die zweiteilige Komposition ist im Prinzip fünfstimmig (SATTB) mit zusätzlichen optionalen C-Bass- und Subbass-Stimmen. Diese Zusatzstimmen verdoppeln aber nicht einfach die tiefsten Stimmen des Satzes, sondern bilden fallweise interessante Gegenstimmen, die der swingenden, grösstenteils ternär gespielten Komposition einen zusätzlichen Groove verleihen. Auch bei der formalen Anlage hatte der Komponist wohl die unterschiedlichen Niveaus und Realitäten von Blockflötenensembles im Hinterkopf: Nach einer kurzen Introduktion folgt ein längerer Swing-Teil in moderatem Tempo, der in eine metrisch kompliziertere Stretta mit deutlich höherem Schwierigkeitsgrad mündet. Diese ist erneut optional; die Komposition darf auch bei dem in Klammern notierten Fine am Ende des ersten Teils beendet werden.

The Swing Thing bereichert das Repertoire um eine genuine Komposition, die von den Qualitäten des Instruments ausgeht und nicht eine bereits vorhandene Komposition für Blockflöten zurechtbiegen muss. Allerdings beweist Raphael Benjamin Meyer in Bearbeitungen (wie beispielsweise von Mozarts berühmter Motette Ave verum corpus, Heinrichshofen & Noetzel N2687), dass er auch dieses Handwerk sehr gut beherrscht und sowohl die Vorzüge des Instruments wie auch die Struktur und Klangschönheit der Komposition angemessen berücksichtigt.

Raphael Benjamin Meyer: The Swing Thing, für 5 bis 7 Blockflöten; Partitur: N2890, € 10.00; Stimmen einzeln erhältlich; Heinrichshofen & Noetzel, Wilhelmshaven

Erlesene Kammermusik aus Basel

Elisa Urrestarazu, Saxofon, und Cornelia Lenzin, Klavier, spielen Werke von Jost Meier, Balz Trümpy, Jacques Wildberger und Marcelo Nisinman.

Elisa Urrestarazu (li) und Cornelia Lenzin. Foto: zVg

Das Duo Elisa Urrestarazu (Saxofon) und Cornelia Lenzin (Klavier) brachte das Programm der vorliegenden Aufnahme im Herbst 2021 in der Konzertreihe «Basel komponiert» im Museum Klingental zur Aufführung. Mit dem kürzlich verstorbenen Komponisten Jost Meier wie auch mit Balz Trümpy und Marcelo Nisinman verbindet Lenzin eine langjährige Zusammenarbeit. Zu Meiers 80. Geburtstag organisierte sie 2019 ein Konzert mit Kammermusik des Jubilars. Daraufhin schrieb Meier für Lenzin und Urrestarazu die Sonata (2020) für Altsaxofon und Klavier, ein Stück, das sich zu hören lohnt. Es eröffnet die vorliegende CD. Es folgen Meiers kurze, dichte 4 Images für Piano solo (2009) als Ersteinspielungen. Balz Trümpy schrieb für Elisa Urrestarazu seine Introduktion und Aria, ursprünglich für Klarinette (2002–03), für Altsaxofon um. Die Interpretin bringt ihre Klasse voll zur Geltung. Träumerisch schliesst sich Trümpys Lied für Sopransaxophon und Klavier (2020) an. Auch in Jacques Wildbergers anforderungsreichen 4 Pezzi per Pianoforte (1950) und den Prismes für Altsaxophon solo (1975) präsentieren sich die Musikerinnen souverän. Als Kontrapunkt liess sich das Duo von Marcelo Nisinman Samuel der Weise für Sopransaxofon und Klavier schreiben – ein lustbetontes Hörerlebnis.

Basel komponiert. Musik für Saxophon und Klavier 1951–2021. Jost Meier, Balz Trümpy, Jacques Wildberger, Marcelo Nisinman. Elisa Urrestarazu, saxophone; Cornelia Lenzin, piano. Pianoversal PV115

«dass ich auch leicht zu schreiben vermag»

Stefan Kägi und Severin Kolb haben Joachim Raffs «Six Morceaux» für Geige und Klavier mit grosser Sorgfalt neu herausgegeben.

Deckblatt der Erstausgabe im Verlag Fr. Kistner, Leipzig. Quelle: IMSPL

Schon zu Raffs Lebzeiten und bis in die Gegenwart war die Nummer 3 der Six Morceaux, Cavatina, ein beliebtes Encorestück. Es hat sich gelohnt, auch die fünf weiteren Kompositionen auf Grund der Erstausgabe von 1862 als Urtext bekannt zu machen, dies mit Hilfe des Joachim-Raff-Archivs in Lachen, das von Severin Kolb geleitet wird. Raff lernte als Assistent Franz Liszts viele berühmte Musiker kennen, denen er seine anspruchsvollen Kammermusikwerke widmete. Das Manuskript der Six Morceaux sandte er 1861 an den Verleger mit den Worten, «(…) dass man um so eher nach diesen Stücken greifen werde, als ich daran beweise, dass ich auch leicht zu schreiben vermag (…)»

Die sechs «Salonstücke» sind musikalisch aussergewöhnlich gehaltvoll mit harmonischen und rhythmischen Überraschungen: ein lieblicher «Kinder»-Marsch, eine poetisch weiche Pastorale, die bewährte Cavatina, ein beschwingtes Scherzino im 2/4-Takt, eine emotionale Canzona und ein Presto-Tarantella-Rondo mit italienischer Verve. Sie gesellen sich in die Nähe der Romanzen von Robert und Clara Schumann. Die spärlichen Fingersätze – teilweise von Raff, auf die damalige Spielpraxis hinweisend – sind ergänzungsbedürftig. Ein ausführliches Vorwort schildert die Entstehungsgeschichte und die vielen Bearbeitungen und Aufführungen durch berühmte Geiger. Der Kritische Bericht beweist die minutiöse Sorgfalt dieser Ausgabe und gibt den Interpretierenden hilfreiche Hinweise.

Joachim Raff: Six Morceaux für Violine und Klavier op. 85, hg. von Stefan Kägi und Severin Kolb, EB 9407, € 28.50, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden

Melodien des Lebens

Ingrid Lukas legt nach langer Pause ein Album vor, das ihren persönlichen Weg reflektiert und geheimnisvoll schimmernde Musik bietet.

Ingrid Lukas. Foto: zVg

Der Titel des ersten Albums seit acht Jahren, das die schweizerisch-estnische Sängerin, Songschreiberin und Pianistin Ingrid Lukas eingespielt hat, ist Programm. Elumeloodia ist Estnisch und heisst so viel wie «Lebensmelodie». Die lange Wartezeit ist – es wird angesichts des Titels nicht überraschen – mit den Veränderungen verbunden, welche die Künstlerin in den vergangenen Jahren teils unfreiwillig, teils freiwillig erlebt hat. Die Schaffenspause begann damit, dass der langjährige musikalische Partner Patrik Zosso schwer erkrankte – er ist unterdessen vollständig genesen und gehört mit dem Keyboarder Ephrem Lüchinger und dem Bassisten Manu Rindlisbacher zum Kernpersonal von Elumeloodia. Am Anfang der Zwangspause arbeitete Lukas in einer Schule für schulisch benachteiligte Jugendliche und beobachtete dabei, welch positive Wirkung eine musikalische Betätigung auslösen kann. Die Einsicht regte das Bedürfnis an, sich intensiver mit Musiktherapie zu beschäftigen. So absolvierte sie in Berlin ein Masters-Studium in diesem Fach und ist heute in der Aarauer Rehaklinik Barmelweid beschäftigt. Diese Arbeit wiederum zeigte ihr eine neue Perspektive zu ihren eigenen Bedürfnissen auf. «Früher habe ich einfach Musik gemacht, weil es mir in die Wiege gelegt worden war», sagt sie. «Erst in diesen acht Jahren habe ich herausgefunden, dass ich das machen muss. Warum es meine Lebensmelodie ist. Dass sonst ein Teil von mir nicht lebt.»

Ungefähr die Hälfte der Elumeloodia-Lieder haben estnische Texte, ein paar andere sind englisch, eines trägt sie in einer improvisierten Lautsprache vor. Die Wahl der Sprache ist im gleichen Sinn spontan (sie schliesst schweizerdeutsche Texte in Zukunft nicht aus), wie sich Lukas heute bemüht, ihre Musik möglichst un-kopflastig anzugehen. Dank der souveränen gesanglichen und kompositorischen Abgeklärtheit, zu der sie während ihrer In-sich-Gekehrtheit durchgefunden hat, gönnt sie sich dabei ganz neue stilistische und technische Freiheiten. Die Lieder wurden im Studio mit den oben genannten Musikern zum Teil improvisationsmässig er-spielt und danach mit allerhand digitalen Tricks bearbeitet. So ist eine geheimnisvoll schimmernde Musik entstanden, wo analog aufgenommene, elektronisch bearbeitete Klänge und Gesang in meditativer Intensität nahtlos ineinandergreifen. Die Stimmungen reichen vom perkussiv ritualistischen Rainspell über die ambiente Improvisation von Beginning bis hin zum herrlichen, nordisch-gospeligen Titelstück. Ein ausserordentlich packendes Album, das in jeder Hinsicht resolut seine eigenen stilistischen Wege geht.

Ingrid Lukas: Elumeloodia. Ronin Rhythm Records RON 032

Interdisziplinäre musiktherapeutische Ansätze

Referate und Workshops brachten den Teilnehmenden einer Tagung in Basel fachübergreifende Methoden in der Kunst- und Musiktherapie näher.

Mireille Lesslauer an der Fachtagung Musiktherapie vom 21. April 2023. Foto: Wolfgang Werder

Die Integration in den Klinikalltag hat wesentlich mitgeholfen, die Musiktherapie vom eher belächelten Wellness-Angebot zur medizinisch anerkannten Therapie zu entwickeln. Kaum mehr wegzudenken ist sie in Neonatologie, Palliativmedizin, Onkologie, Neurorehabilitation und weiteren Abteilungen. In der Schweiz hat in dieser Hinsicht der Instrumentenbauer und Musiktherapeut Joachim Marz an der Rehaklinik Bellikon längere Zeit Pionierarbeit geleistet, gemeinsam mit der Fachkollegin Susanne Bossert. Seit letztem Jahr führt er die in Bellikon zur Tradition gewordenen, stark praxisorientierten Fachtagungen an der Rehab Basel weiter, nun zusammen mit der dort tätigen Musiktherapeutin Mireille Lesslauer. Thema heuer: «Die Bedeutung und die Wirkungen von interdisziplinären Methoden der Kunst- und Musiktherapie», und damit die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Musiktherapie und Kunsttherapie der Neurorehabilitation.

Im Alltag einer Rehaklinik kann die Musiktherapie auf zwei Ebenen ihre Stärken ausspielen. Zum einen kann sie psychologische Prozesse begleiten oder mitgestalten, die unabdingbar sind, wenn Betroffene nach Unfällen oder gesundheitlichen Schicksalsschlägen wieder ins Leben zurückfinden müssen. Zum andern kann sie Retrainings von Körperfunktionen in ganz praktischer Art unterstützen, etwa wenn es darum geht, nach einem Schlaganfall Körpersymmetrien wiederherzustellen.

Zeitgeist und körperlicher Erfahrung

Dass die Musikpsychologie sich dabei den gegenwärtigen, auch ideologisch geprägten Auseinandersetzungen in der Emotionspsychologie nicht ganz entziehen kann, zeigten an der Basler Tagung Diskussionen darüber, wie weit Emotionen biologisch vorgeprägt seien. Analog der Ablehnung biologisch festgelegter Geschlechtsidentitäten in der Genderforschung verfechten jüngere Forscherinnen Vorstellungen einer ausschliesslich kulturell geformten Emotionalität. Im Vortrag der Hamburger Kunsttherapeutin Judith Revers wurde dabei der Wille deutlich, die Komplexität interkultureller Kommunikationsprozesse zu respektieren, zum Beispiel in der Musiktherapie mit Flüchtlingen. Allerdings droht dabei ein Rückfall in überwunden geglaubte Vorstellungen vom grundsätzlichen exotischen Anderssein fremder Kulturen. Da treffen dann radikal linke Konzeptionen auf nationalistische Vorstellungen.

Im einem der Workshops wurde das Liegemonochord ausprobiert. Foto: Joachim Marz

Die Tagung in Basel zeigte allerdings auch, dass sich die Musiktherapie auf einem anderen Gebiet in eine Richtung bewegt, die glücklicherweise völlig konträr zum Zeitgeist scheint: Während sich die aktuelle Musikproduktion mit digitaler Produktion und dem Aufkommen von Instrumenten der künstlichen Intelligenz immer weiter entkörperlicht, so offeriert die Therapieform genau das Gegenteil: spezielle Instrumente, die Klang und Musik leibhaftig erfahrbar machen. Spür- und hörbar war das in Basel in einem Workshop mit Monochorden, auf die man sich legen kann oder die auf den Köper gelegt werden können. Schwingungen werden dabei nicht bloss gehört, sondern über die Körperresonanz direkt wahrgenommen.

Hören als Brückenfunktion

Der Hörsinn ist der erste, den heranwachsende Menschen entwickeln, und es ist der letzte, der in den Randregionen des Todes zerfällt. Besondere Stärken hat die Musiktherapie deshalb nicht zuletzt in der Behandlung von Wachkomapatienten. Ein Akzent der Tagung lag denn auch auf Forschungen in diesem Gebiet. Die an der Rehab Basel tätige Physiotherapeutin Katharina Braune untersucht in Zusammenarbeit mit der Musiktherapie und der Pflege im Rahmen einer Masterarbeit in mehreren Einzelfallstudien den Einfluss des Liegemonochords auf das Bewusstsein von Patienten, die sich als Folge schwerer Hirnverletzungen im Zustand des reaktionslosen respektive geminderten Bewusstseins befinden.

Dorothea Dülberg, Lehrmusiktherapeutin der Deutschen Musiktherapeutischen Gesellschaft wiederum zeigte auf, wie «intermediale Quergänge als fliessende Wechsel von Methoden und Medien Wandlungsprozesse stimulieren und unterstützen können». In ihrem Workshop verband sie Musik, Malerei, Poesie und Bewegung im Raum zum multidimensionalen Nachspüren innerer Stimmen.

 

Tagungsprogramm

 

Bedeutende Erstausgabe für Cello

Das zweite Konzert von Carl Friedrich Abel ist eine wertvolle Ergänzung des klassischen Violoncello-Repertoires, auf Augenhöhe mit den Werken von C. P. E. Bach, Haydn oder Boccherini.

Carl Friedrich Abel, Ölgemälde von Thomas Gainsborough, 1777. Quelle: The Huntington Library/wikimedia commons

Vor 300 Jahren wurde der Komponist Carl Friedrich Abel in Köthen geboren (gestorben 1787 in London). Sein Vater war Geiger und Gambist. Für die Laufbahn des Sohnes wurde letzteres Instrument entscheidend. Nach einem Engagement am Dresdner Hof sind Abels Lebensumstände ab 1755 unklar. Wohl wegen der Wirren des Siebenjährigen Krieges verliess er Sachsen und gelangte über Frankreich nach London, wo er ab 1759 als Gambenvirtuose grosse Erfolge feierte. Mit Johann Sebastian Bachs jüngstem Sohn, Johann Christian, begründete er die erfolgreichen Bach-Abel-Concerts. 1782 hielt er sich länger am Königshof in Potsdam auf. Kronprinz Friedrich Wilhelm, der Neffe Friedrichs des Grossen, war wie sein Onkel ein begeisterter Musikliebhaber, spielte selber Cello und war u. a. Schüler von Jean-Pierre Duport. Wolfgang Amadeus Mozart komponierte für ihn die Preussischen Streichquartette KV 575, 589 und 590.

Das dreisätzige, etwa 20-minütige, 1782 komponierte Cellokonzert Nr. 2 in C-Dur hat Abel vermutlich für Friedrich Wilhelm geschrieben. Eine Aufführung durch diesen ist jedoch nicht nachzuweisen. Die Orchesterbesetzung entspricht mit zwei Oboen, zwei Hörnern und Streichern ganz dem klassischen Modell. Der erste Satz (Allegro maestoso) ist von der Anlage her (Sonatenform) der konventionellste. Überraschungen bieten dagegen der zweite und dritte Satz: Im Adagio ma non troppo (F-Dur) erreicht der Komponist mit dem solistischen Einsatz der Hörner einen verblüffenden Klangeffekt. Vom dritten Satz sind zwei unterschiedliche Varianten überliefert. Ein Allegro im 6/8-Takt wurde durch ein Rondeau – Tempo di Minuetto ersetzt. Dies war möglicherweise dem etwas konservativen Geschmack am Berliner Hof geschuldet. Zusätzlich sind zwei originale Kadenzen Abels handschriftlich erhalten geblieben.

Abels zweites Cellokonzert steht den bekannteren Werken von Carl Philipp Emanuel Bach, Joseph Haydn oder Luigi Boccherini in keiner Weise nach und darf als bedeutende Bereicherung der klassischen Violoncello-Literatur betrachtet werden. Mit einem Stimmenumfang von C bis g2 kostet Abel die Möglichkeiten des Instruments gekonnt aus und bietet den Ausführenden eine reiche Palette an virtuosen und lyrischen Ausdrucksmöglichkeiten.

Bruno Delepelaire, Solocellist der Berliner Philharmoniker, hat dieses Werk mit den Berliner Barock-Solisten beim Label Hänssler classic meisterhaft eingespielt. Sehr erfreulich, dass dabei beide Varianten des dritten Satzes zu hören sind. Die Notenausgabe von Markus Möllenbeck enthält ein ausführliches Vorwort zur Entstehungsgeschichte des Konzerts sowie aufführungspraktische Hinweise. Den Klavierauszug verfasste Ulrich Lüdering.

Carl Friedrich Abel: Cellokonzert Nr. 2 C-Dur, WKO 60, hg.von Markus Möllenbeck, Klavierauszug, EW1112, € 24.80, Edition Walhall, Magdeburg

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