Ursprünglich schlecht aufgenommen

Die Cellosonate von Joachim Raff erfüllte die Erwartungen bei der Uraufführung offenbar nicht. Aber sie ist ein kurzweiliges, brillantes Werk.

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Joachim Raff (1822–1882) hinterliess mehrere Werke für das Violoncello und Klavier: zwei Romanzen op. 182, die Fantasiestücke op. 86 sowie das Duo op. 59. Das umfangreichste Werk ist jedoch seine viersätzige Cellosonate D-Dur op. 183. Über deren Entstehungsgeschichte gibt es kaum gesicherte Informationen. Sie wurde im Dezember 1873 in einem Novitätenkonzert in der Berliner Singakademie uraufgeführt und beim Verlag C. F. W. Siegel veröffentlicht. Die Rezensionen waren überwiegend kritisch. Zu gross waren offenbar die Erwartungen nach der triumphalen Berliner Uraufführung von Raffs 5. Sinfonie Lenore am 29. Oktober gleichen Jahres.

Das damalige Kritikerurteil wird dem Stück aber nicht gerecht. Es handelt sich um ein unterhaltsames, brillant-virtuos geschriebenes Werk: Cello und Klavier sind gleichberechtigte Partner, den Ausführenden wird viel an technischem Können abverlangt. So wird bei Aufführungen eines gewiss nie zu kurz kommen: das Spielvergnügen! Die Sonate ist in ihrem Charakter vielleicht «plakativer» als beispielsweise die Sonaten von Felix Mendelssohn. Die eingängige Tonsprache der vier Satze ist sehr bildhaft, so dass man sich gelegentlich auch an Raffs sinfonische Werke mit aussermusikalischen Programmbezügen erinnert fühlt.

Der 2022 begangene 200. Geburtstag des Komponisten gab Anlass zu zahlreichen Aufführungen und Neueditionen. So ist auch Raffs Cellosonate in Zusammenarbeit mit dem Joachim-Raff-Archiv in Lachen nun in einer kritischen Urtext-Ausgabe bei Breitkopf & Härtel erschienen.

Joachim Raff: Sonate für Klavier und Violoncello op. 183, hg. von Claus Kanngiesser, EB 9406, € 28.50, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden

Für den Beginn auf dem Drumset

Das Workbook für Drumset von Toni Schilter motiviert die Kinder zum Grooven und Ausprobieren.

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Das DrumBook von Toni Schilter kommt freundlich, farbenfroh und überaus ansprechend daher. Das praxisorientierte Lehrmittel ist für Kinder im Alter von fünf bis neun Jahren konzipiert. Die Idee des Autors, im ersten Teil die einzelnen Komponenten des Schlagzeugs mit einer Farbe in Verbindung zu bringen, ist für Anfänger und Anfängerinnen eine grosse Hilfe.

Nach einer kurzen Einführung geht es auch schon los mit dem ersten Warm-up, gefolgt von einer kurzen Notentheorie, dem «Pizzavergleich». Der Fortschritt in diesem Heft ist nicht auf den rhythmischen Aufbau mit Figuren fokussiert, sondern auf den Groove, Ausdruck und Koordination. Das DrumBook hat eine klare Struktur und legt zudem eine Basis in Themenbereichen wie Rudiments, Notenlehre, Unabhängigkeit und Allgemeinwissen über das Drumset und dessen Komponenten.

Früh kommen Kombinationen mit den Füssen sowie Übungen mit Akzenten an die Reihe. Eine kleine Anregung, mit Wortrhythmen zu arbeiten, wird ebenfalls aufgezeigt. Schon nach wenigen Seiten grooven die Kinder über das komplette Drumset. Im weiteren Verlauf wird der Aufbau eines Songs veranschaulicht und erklärt, aus welchen Formteilen er besteht.

Mit zahlreichen Übungen, praktischen Bildern und Illustrationen sowie einigen Soli und Duetten in verschiedenen Schwierigkeitsstufen verbindet und veranschaulicht der Autor auf 122 Seiten das Lernen, Üben und Musizieren in abwechslungsreicher Weise. Freiräume für eigene Ideen sorgen für die individuelle und kreative Entwicklung der Lernenden, welche auch durch die Lehrpersonen mitgestaltet werden können. Der Autor ist überzeugt: «Mit Tonis Trommelbuch feiern die Kinder stetig kleine Erfolgserlebnisse und bleiben daher motiviert.» Neugierig? Musterseiten gibt es auf der Website, wo das Buch auch bestellt werden kann.

Toni Schilter: DrumBook «Tonis Trommelbuch», Workbook für Drumset mit klarer Storyline, Erstes Lehrmittel für junge Drummer, Fr. 35.00, Eigenverlag www.drumbook.ch

Zündende Lieder

«Liederfunken» für Vier- bis Achtjährige, die auf deren Alltag eingehen, den Spracherwerb unterstützen und das Zusammenwirken fördern.

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Plappern, rufen, flüstern, jauchzen, singen – «die Stimme – unser erstes Musikinstrument». Das ist der musikpädagogische Ansatz in den Liederfunken für den Musikunterricht im 1. Zyklus, den Kindern im Alter zwischen vier und acht Jahren. Wobei Musikunterricht hier nicht in Musiklektionen gepackt ist, sondern in verschiedenen Momenten des Schulalltags aufscheint: beim Begrüssen und Verabschieden, an Geburtstagen der Kinder, in Verbindung mit dem Kennenlernen von Naturphänomenen oder im Zusammenhang mit lebenskundlichen Themen. Überhaupt wird in den vorliegenden Liederarrangements stark auf einen altersgerechten lebensweltlichen Bezug geachtet. Ein Kapitel heisst denn auch «Kinderalltag», ein Lied darin nennt sich Pflaster, Salbe oder Tee? Die weiteren Kapitel sind überschrieben mit «Grüezi und Adieu», «Draussen unterwegs», «Winterzeit» und «Nachtstimmung». Sie ordnen die Lieder inhaltlich.

Ein besonderes Augenmerk liegt auf «Versen und Sprüchli» und damit auf der Verwandtschaft zwischen Sprache und Musik. So kombinieren die «Fingerverse» Sprechen mit Motorik und Rhythmus humorvoll – «Chömed all’ zu mir zum Znacht, ich han us Schnee e Pizza gmacht!» –, auch mit Blick auf Kinder mit Deutsch als Zweitsprache, denen die Verse zu einem fantasievollen Spracherwerb verhelfen.

Durch die Einbettung der Lieder und Sprachspiele ins soziale Miteinander wird Musik zum Instrument, das das persönliche Erleben und die Gemeinschaft stiftende Kraft der Musik zur Förderung fachlicher wie auch überfachlicher Kompetenzen nutzt: Sich singend, tanzend und musizierend ausdrücken oder aufeinander hören fördert das musikalische Ausdrucksvermögen ebenso wie Eigenständigkeit und Kooperationsfähigkeit. Die 24 Lieder des Buchs beziehen sich explizit und detailliert auf die im Lehrplan 21 benannten Kompetenzen. Im Mittelpunkt stehen jedoch die vielfältigen und spielerischen Erarbeitungsweisen der von der Autorin komponierten Lieder – einfach und anschaulich erklärt.

Christina Schnedl: Liederfunken. Singen, tanzen, musizieren, 127 Seiten, Fr. 51.00, Verlag LCH, Zürich 2021, ISBN 978-3-908024-31-6

Expressives kleines Orgelwerk

Eine gut spielbare Choralpartita von Anton Heiller mit zwei erstmals veröffentlichten Vatiationen.

Von Anton Heiller konzipierte Pirchner-Orgel in der Pfarrkirche Sandleiten, Wien 16, errichtet 1958. Foto: DerHHO/wikimedia commons

Passend zu seinem 100. Geburtstag erscheint ein bisher zumindest teilweise noch unveröffentlichtes Werk des grossen Wiener Organisten, Pädagogen und Komponisten Anton Heiller. Die kleine Choralpartita entstand Anfang 1975 als Auftragswerk für eine Sammlung mit gottesdienstlicher Orgelmusik; es wurden davon allerdings nur Intonation, Choralsatz und Variation 1 veröffentlicht, während die beiden verbleibenden Variationen aufgrund ihrer komplexen Harmonik nicht berücksichtigt wurden und daher hier erstmals im Druck erscheinen. Laut einem Online-Kommentar von Anton Heillers Sohn zu einer Einspielung des Werks durch den Herausgeber scheint das Stück die von Erkrankung und zunehmender Erschöpfung geprägte seelische Verfassung des Komponisten zu spiegeln.

Eine kurze (Manualiter-)Intonation leitet einen Choralsatz ein, der hierzulande für eine Alternatim-Aufführung mit gesungenen Strophen allerdings rhythmisch der Fassung im reformierten Gesangbuch angepasst werden müsste. Eine erste, sehr expressive Variation begleitet die Melodie mit einer Gegenstimme in ausdrucksvollen, teils weit gespannten Seufzer-Floskeln. Variation 2 ist ein etwas kauzig-tänzerischer Satz im 6/8-Takt, der die ersten beiden Choralzeilen integriert. Als Abschluss steht ein vollgriffiger, harmonisch schroffer Choralsatz in wuchtigem Forte. Dank seiner nicht besonders hohen spieltechnischen Ansprüche und seiner Eignung auch für kleine Instrumente mit einem oder zwei Manualen und Pedal stellt Heillers kurzes Opus eine praxisnahe und daher sehr willkommene Bereicherung des Repertoires dar. Es erlaubt eine (Wieder-)Begegnung mit einem Künstler, der auch die Schweizer Orgelwelt nachhaltig geprägt hat und dessen kompositorisches Schaffen zu Unrecht etwas in den Hintergrund gerückt ist.

Anton Heiller: Intonation, Choral und drei Variationen über die Melodie «Aus tiefer Not schrei ich zu dir», hg. von Lukas Frank, D 02 542, ca. € 12.00, Doblinger, Wien

 

Handwerk und Geheimnis des Komponierens

Bruno Monsaingeons Gespräche mit Nadia Boulanger sind nun auch auf Deutsch zu lesen.

Nadia Boulanger 1925 an der Ecole normale de musique de Paris, wo sie unterrichtete. Foto: Edmond Joaillier (1886–1939), Paris/Bibliothèque nationale de France

Nadia Boulanger, die Grande Dame, war Lehrerin und richtungsweisende Gesprächspartnerin von Leonard Bernstein, Yehudi Menuhin, Igor Stravinsky, auch von vielen Komponisten, die nicht so stark im imaginären Museum der Musikgeschichte verankert sind. Boulanger, das zeigt das vorliegende Buch eindrücklich, kommt zwar von der romantischen Inspirationsästhetik, ist aber bis ins hohe Alter offen geblieben. Dem Neuen stand sie nie ablehnend oder gar skeptisch gegenüber, wobei ihre Schwerpunkte in französischer Ästhetik und Geschichte lagen.

Bruno Monsaingeon hat sein Buch Mademoiselle. Entretiens avec Nadia Boulanger bereits 1981 veröffentlicht, nun liegt es, hervorragend lektoriert und übersetzt von Joachim Kalka, auf Deutsch vor. Im Vorwort bemerkt Monsaingeon, dass es Boulanger nicht mochte, «irgendwelche vertraulichen Mitteilungen zu machen». So ist vermutlich der etwas kleinteilige Stil des Buches zu erklären, das aus Gesprächen aus den letzten Lebensjahren entstanden ist. Boulanger ist weder Musikphilosophin noch Wissenschaftlerin oder Theoretikerin. Ihre Gedanken sind sprunghaft, aber deshalb nicht unergiebig.

Über ihre Schwester Lili äussert sich Nadia noch recht ausführlich, über ihre Begabung, auch über Lilis genialischen Funken, der bei ihr selbst nie übersprang. Oft kreist das Buch – siehe «romantische Inspirationsästhetik» – um Themen wie Begabung, Schöpfertum, Schaffensdrang. Auf Seite 97 konstatiert Boulanger:

«In der Frage nach Genie oder Meisterwerk muss ich meine Verlegenheit eingestehen. Tatsächlich weiss ich nichts … Ich weiss es und ich weiss es nicht, weil ich eine Gewissheit habe, die nicht auf Vernunft beruht. Es beginnt natürlich mit einer Gewissheit, die teilweise vernünftig ist, insofern ich konstatiere, dass eine Musik gut geschrieben ist, gut orchestriert, gut konstruiert. Aber in dem Augenblick, wo es noch um etwas anderes geht, tritt man in ein Geheimnis ein. Da ich ein gläubiger Mensch bin, erscheint mir alles ein Geheimnis.»

Man kann es Respekt nennen, Respekt vor der Kunst, Respekt vor der Musik. Je mehr man sich jedoch in Boulangers Gedanken vertieft, beschleicht einen auch das Gefühl eines gepflegten Mystizismus, der in merkwürdiger Schräglage steht zu recht konkreten Vorstellungen von musikalischem Handwerk sowie tiefen und handfesten Einblicken in bedeutende Werke der Musikgeschichte. Just dieser Eindruck erklärt vermutlich Boulangers pädagogischen Erfolg: Sie vermittelte, kenntnisreich und streng zugleich, Grundlagen. Was ihre Schüler und Schülerinnen daraus machten, was in unbewussten Vorgängen geschah – davor hatte sie Respekt und schwieg. Dies ist wohl auch das Resümee dieses facettenreichen Buches: Es gibt viele Impulse. Aber fürs Weiterdenken ist der Leser zuständig.

Bruno Monsaingeon: Ich denke in Tönen – Gespräche mit Nadia Boulanger, 176 S., € 28.00, Berenberg, Berlin 2023, ISBN 978-3-949203-50-3

Die Schweiz swingt

Vor allem in den 1920er- und 1930er-Jahren und oft für die Gäste in illustren Hotels schrieben viele Schweizer Komponisten Klavierstücke im Stil der populären amerikanischen Tänze.

Albert Moeschinger in den 1920er-Jahren in Grindelwald. Er spielte zuweilen auch als Unterhaltungspianist in Berghotels. Foto: Albert-Moeschinger-Stiftung

Der vor 250 Jahren geborene Sängervater Hans Georg Nägeli brachte es fertig, dass die Schweiz singt. Ironie des Schicksals, dass zu seinem Geburtstag ausgerechnet eine CD erschienen ist, die ein ganz anderes Bild der helvetischen Musiklandschaft zeigt: Die Schweiz swingt.

In der Reihe «20th Century Foxtrots» kamen als fünfte Folge lauter Raritäten von zwölf Schweizer Komponisten sowie dem lange in Zürich lebenden Deutschen José Berr und der in Paris erfolgreicheren Genfer Komponistin Marguerite Roesgen-Champion heraus. Aufgestöbert hat die mehrheitlich unveröffentlichten Tanzstücke der Musikologe Mauro Piccinini, der diese Serie auch wissenschaftlich betreut. Er schreibt, wie sich der fälschlicherweise für Jazz gehaltene Foxtrott beispielsweise in St.Moritzer Hotels mittels einer «Tschetzpend» etablierte. Mit hinreissendem Elan und viel Humor gespielt werden die Stücke auch in der jüngsten Folge vom Wiener Pianisten Gottlieb Wallisch. Das von Alastair Taylor in zeittypischer Art-Déco-Manier brillant gestaltete Booklet-Titelblatt zeigt ein tanzendes Paar vor verschneiter Bergkulisse. Die im SRF-Radiostudio Zürich aufgenommene, in Deutschland hergestellte CD verströmt auch damit internationales, vorwiegend amerikanisch geprägtes Flair.

In zwölf Ersteinspielungen erklingen Foxtrotts und Tangos von Komponisten, die, zwischen 1865 (Emile Jaques-Dalcroze) und 1941 (Urs Joseph Flury) geboren, alle ihr Herz kurzfristig an den Jazz und an amerikanische Modetänze verloren hatten. Nebst Arthur Honegger, Conrad Beck, Paul Burkhard, Peter Mieg und Julien-François Zbinden sind auch weniger bekannte wie René Gerber, Walter Lang oder André-François Marescotti in diesem Projekt zu finden.

Den mit viel Swing bezwingenden Einstieg macht Albert Moeschinger mit besonders hellhörigen Einfühlungen in den Jazz. Tallula nennt er seine synkopenreiche Foxtrott-Fantasie von 1930, der sich ein waschechter Farewell Blues anschliesst. Für alles Folgende haben diese beiden scharf profilierten Stücke Modellcharakter. Der Rheinberger-Schüler José Berr erheitert kurioserweise mit einem One-Step über das Jodellied Ich bin ein Schweizerknabe und das Thurgauerlied.

20th Century Foxtrots, Vol. 5. Switzerland. Gottlieb Wallisch, piano. Grand Piano GP 922

Rekonstruiert, erstmals ediert oder ganz neu

Konzerte für Oboe oder Englischhorn von Gustave Vogt, Domenico Cimarosa und Pēteris Vasks.

Oboenblaetter. Foto: Vivasis/depositphotos.com

In einer Liste der bedeutendsten Oboistinnen und Oboisten der Musikgeschichte dürfte neben Leuten wie den Gebrüdern Plà, Carlo Yvon, Antonio Pasculli, Léon Goossens, Evelyn Rothwell oder Heinz Holliger auch der Name Gustave Vogt (1781–1870) nicht fehlen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildete er während knapp 50 Jahren zwei Generationen von Spielerinnen und Spielern aus und prägte die Pariser Oboenschule fundamental. Von einem dreisätzigen Konzert für Englischhorn und Orchester ist nur der 2. Satz im Original überliefert. In einer transponierten Version erscheint dieselbe Musik in seinem 2. Oboenkonzert, was den Oboisten und Herausgeber Michel Rosset darauf gebracht hat, nun analog auch den 1. und 3. Satz für das Englischhorn zu übertragen. Seine verdienstvolle Rekonstruktion überzeugt in hohem Masse.

Die drei direkt aneinander anschliessenden Sätze folgen einem romantischen Gestus, und der opernhafte Ton erinnert gelegentlich an die knapp 20 Jahre ältere Scène für Englischhorn und Orchester von Antoine Reicha. Die hohe Virtuosität liegt gut in der Hand, die gesanglichen Passagen sind immer fein und reichhaltig ausgeziert, und auch formal überzeugt die gut viertelstündige Komposition aufs Schönste.

Beim selben Verlag ist erstmals Domenico Cimarosas originelles C-Dur-Konzert erschienen. Es entstand 1781, also 3 Jahre nach Mozarts berühmtem Beitrag zu dieser Gattung. Wiewohl es durchaus Anklänge an das grosse Vorbild gibt, sind die beiden Konzerte nicht vergleichbar. Cimarosa komponiert viel knapper – er schafft es beispielsweise im 3. Satz in gerade einmal 2 Minuten ein veritables Rondo zu schreiben – und verbindet die Sätze mit «Attacca»-Vorschriften. Das Herzstück des Konzerts ist ein gesangliches Andante sostenuto in a-Moll: Hier beweist sich Cimarosa als inspirierter Opernkomponist.

Ein ganz neues Konzert hat Pēteris Vasks‘ soeben veröffentlicht. Sein Englischhornkonzert (1989) hat bereits grosse Beliebtheit erlangt, vermutlich wegen der unverholenen stilistischen Nähe zu Jean Sibelius‘ Schwan von Tuonela. Auch sein nun (als Klavierauszug mit Solostimme) erschienenes Oboenkonzert wird vermutlich den Weg in die Konzertsäle finden, da seine einfach gehaltene modale Tonsprache dem Musikgeschmack der Abonnementspublika entgegenkommt. Zwei melodische Pastoralsätze (Morgen- und Abendpastorale) umrahmen einen lebendigen Mittelsatz, in dem sich verschiedene Tänze und ein Arioso ein Stelldichein geben und eine ausführliche Solokadenz umrahmen. Der spröde Klavierauszug dürfte für eine Aufführung nicht befriedigen, sondern dient lediglich als Vorbereitung für eine Einstudierung mit Orchester.

Gustave Vogt: Solo de Concert pour le Cor anglais, für Englischhorn und grosses Orchester, Erstausgabe und Rekonstruktion von Michel Rosset; Partitur: EW 1216, € 32.50; Klavierauszug: EW 1208, € 18.50; Edition Walhall, Magdeburg

Domenico Cimarosa: Konzert C-Dur für Solo-Oboe, 2 Hörner, 2 Violinen, Viola und Basso, Erstausgabe von Sandro Caldini; Partitur: EW 1200, € 23.50; Klavierauszug: EW 1194, € 14.90; Edition Walhall, Magdeburg

Pēteris Vasks: Konzert für Oboe und Orchester, Klavierauszug von Claus-Dieter Ludwig, ED 23365, Druckausgabe € 32.00, Schott, Mainz

 

 

Gesang im 20. und 21. Jahrhundert

Im Handbuch «Stimmen – Körper – Medien» stehen die Anforderungen aktueller Musikstile an die Stimme und pädagogische Aspekte im Zentrum.

Nelly Melba singt 1920 in ein Mikrofon. Foto: Library of Congress

Ein Foto der legendären Nelly Melba bei einer Radioaufnahme 1920 ziert als Titelbild den zweiten Band des «Handbuchs des Gesangs» aus dem Laaber-Verlag. Dieses Foto hält einen grossen und entscheidenden Moment fest, der der Entwicklung der Gesangskunst und ihrer Rezeptionsgeschichte eine neue Bahn öffnete.

Einer der Herausgeber dieses Buches, Thomas Seedorf, legte erst 2019 ein Handbuch der Aufführungspraxis Sologesang vor, das eine Fülle von Informationen für das Singen Alter und Neuer Musik enthält (Bärenreiter). Es widmet sich der Vokalpraxis von 1600 bis zur Gegenwart, Stimmtypen, Gesangsästhetik, Ornamentik und Deklamation, setzt aber seine Schwerpunkte im 17., 18. und 19. Jahrhundert. Die Entwicklungen des 20. und 21. Jahrhunderts werden eher am Rand mit einem Kapitel über Neue Musik und moderne Notation gestreift.

So schliesst das neue Handbuch mit dem Titel Stimmen – Körper – Medien, Gesang im 20. und 21. Jahrhundert inhaltlich an die bereits vorliegende Arbeit an. Es öffnet einen neuen Blickwinkel auf Stimme und Körper auf der Bühne, und zwar in Song und Chanson des populären Musiktheaters wie auch auf der Opernbühne, widmet sich dem Singen als kultureller Praxis, dem Chorgesang als globalem Phänomen. Nicht mehr wegzudenken ist die Auseinandersetzung mit modernen Medien, mit Transformationen der Gesangsstimme durch Tonträger, Studiotechnik und Digitalisierung. Die Ästhetik populären Gesangs im 20. und 21. Jahrhundert stellt andere und neue Anforderungen an eine Gesangsstimme, wo Sprechen, Rufen und Schreien in Pop- und Jazzgesang nicht nur erlaubt sind, sondern dem vokalen Ausdruck von Gefühlen dienen, wo ihre Mitspieler Mikrofone und Toningenieure sind.

Ein grosses Kapitel widmet sich den Fragen der Pädagogik und Therapie. Nie war die Vielfalt von Klangästhetik und stilistischer Erweiterung grösser als heute. Man denke an Pop, Rock, Soul, Jazz und Musicalgesang, an Tango und Indie -Gruppen, an Obertonsingen und Jodel, an experimentelle Geräuschhaftigkeit und Klangkreationen der Neuen Musik – neben dem Ideal des klassischen Gesangs, der offensichtlich nichts an Attraktivität eingebüsst hat; man schaue sich die Anmeldezahlen an den Hochschulen an …

Das Kaleidoskop stimmlicher Vielfalt spiegelt sich in einem äusserst pluralistischen Angebot von Gesangsunterricht, das im Buch thematisiert wird, reichend von chorischer Stimmbildung über funktionale Stimmarbeit, über verschiedenste Pop-Gesangsschulen und sogenannter Belcantotechnik hin zu Stimmarbeit verbunden mit Körper- und Atemschulung. Methodenvielfalt wird zu einem attraktiven Qualitätsmerkmal gesangstechnischer Unterweisung, Vernetzung statt Abgrenzung heisst das Zauberwort.

Das Handbuch endet philosophisch: Macht Singen glücklich? «Ja», lautet die Antwort! Die Frage ist, warum… Weshalb wirkt das Tönen, das Erschallenlassen der eigenen Stimme, das ungehinderte Sich-Entfalten derselben, euphorisierend?

Stimmen – Körper – Medien: Gesang im 20. und 21. Jahrhundert, hg. von Nils Grosch und Thomas Seedorf, (= Handbuch des Gesangs 2), 396 S., € 98.00, Laaber, Lilienthal 2021, ISBN 978-3-89007-906-6

 

Frisch von der Leber weg

Auf dem zweiten Album «Inner Smile» bleibt die Zürcher Band Annie Taylor ihrem spritzigen Rock treu, serviert ihn aber variationsreicher.

Annie Taylor. Foto: Fabio Martin

Schweizer Bands haben sich traditionellerweise schwergetan damit, draufloszurocken und dabei nebst mitreissender Dynamik auch noch knackige Ohrwürmer zu produzieren. Das Zürcher Quartett Annie Taylor – benamst nach der 63-jährigen Lehrerin, die 1901 als erste in einem Fass die Niagara-Fälle hinunterstürzte und das Abenteuer überlebte – hat keine Probleme dieser Art. Von der instrumentellen Expertise her könnten Gini Jungi (Gesang, Gitarre), Tobias Arn (Gitarre), Michael Mutter (Bass) und der unlängst von den Winterthurer Post-Krautrockern Klaus Johann Grobe dazugestossene Drummer Daniel Bachmann bestimmt auch virtuosen Neo-Progressive-Rock kredenzen. Gottseidank wollen sie dies nicht. Vielmehr sind sie auch auf ihrem zweiten Album der organischen Melange aus Post-Grunge-, Garage- und Pop-Rock treu geblieben, die ihr Debut vor drei Jahren so spritzig machte. Sweet Mortality kratzte damals an den Schweizer Album-Charts und trug der Band eine lange Reihe von nationalen und internationalen Festivalauftritten ein. Das auf diese Weise gewonnene Selbstvertrauen schwitzt aus jeder Rille von Inner Smile.

Für die Aufnahmen verlegte man sich nach Bristol, wo man die Tage im Studio von Produzent Ali Chant verbrachte, der sich auch schon mit PJ Harvey, Yard Act, Katy J Pearson (eine Favoritin von Jungi) und Aldous Harding beschäftigt hat. Nachts zog man sich in die Villa zurück und feilte an den Einfällen der vergangenen Stunden. Der Sound ist dabei deutlich vielseitiger geworden. Ausgelassen rumpelnden Pop-Punk-Nummern (Schoolgirl) stehen eingängige Songs gegenüber, in denen die von den Pixies erschlossene Laut/Leise-Dynamik gekonnte Anwendung findet (Push Me). Ride High ist sozusagen kalifornischer «Sunshine-Pop», selbst Fucking Upset findet Platz für ein paar nachdenkliche Momente, und Sister lebt nicht zuletzt vom gloriosen Bassriff. Dabei beherrscht die begnadete Sängerin, Songschreiberin und Frontfrau Jungi das Geschehen souverän. Fazit: eine grandiose Live-Band, mit Geschick auf Vinyl konserviert.

Annie Taylor: Inner Smile. Taxi Gauche Records TGR 037 (Vinyl)

Pianistischer Einstieg in die Ländlermusik

Zwei Notenhefte für Klavier erschliessen Grundlagen der Schweizer Volksmusik auf unterhaltsame Art.

Marion Suter. Foto: zVg

Kinder reagieren oft erstaunlich positiv auf Ländlermusik. Umso bedauerlicher ist es, dass kaum Anfängerliteratur für den Unterricht vorhanden ist. Diesem Umstand will der Müliradverlag in Altdorf abhelfen mit einer neuen Reihe, die mit zwei Heften eröffnet wird. Marion Suter und Claudio Gmür, zwei Koryphäen des Ländlerklaviers aus zwei verschiedenen Generationen – Suter war lange Zeit Schülerin von Gmür –, legen je ein Heft mit 16 einfachen Tanzstücken vor. Bei Suter sind es Eigenkompositionen, bei Gmür hälftig eigene Stücke und Bearbeitungen von Klassikern des Genres.

Die Stücke sind leicht und vergnüglich zu spielen und vermitteln gleichzeitig auch die formalen und harmonischen Grundlagen der Schweizer Volkstanzmusik. Die Neukompositionen folgen den traditionellen Mustern und Abläufen und sind doch originell und witzig. Es ist deutlich erkennbar, dass der Autor und die Autorin bestens vertraut sind mit der Materie. Die wichtigsten Formen – Ländler, Walzer, Polka, Schottisch sowie bei Suter eine Mazurka und bei Gmür ein Ländlerfox – werden in einfacher Art exemplarisch vermittelt.

Wem das zu simpel ist, der kann sich auf der Grundlage der beiden Hefte an die Variations- und Verzierungspraxis der Ländlermusik heranwagen und ganz im Sinn der alten Tradition die Stücke nach eigenem Gusto verändern und erweitern. So sind die Hefte nicht nur für Anfänger*innen, sondern auch für versiertere Interessierte aus anderen Sparten ein lohnender Einstieg in die Schweizer Volksmusik.

Schweizer Ländlermusik für Klavier,

Vol. 1: 16 neue Kompositionen von Marion Suter, Nr.1211;

Vol. 2: Eine Tasten-Bike-Tour, 16 neue und traditionelle Tänze komponiert und bearbeitet von Claudio Gmür, Nr. 1212;

je Fr. 25.00, Mülirad, Altdorf 2021

 

Musiklernen mit Techniken aus dem Sport

In Bestform beim Üben! Das «Methoden-Navi» überträgt sportliche Praktiken und Begriffe auf das instrumentale Üben.

Musik ist nicht Sport, aber gewisse Techniken aus dem Training können das Üben beflügeln. Foto: Paha_L/depositphotos.com

Wer wie eine Trainerin, ein Trainer Musik unterrichtet, hat Erfolg. Das will nicht heissen, dass Musik Sport ist, aber in Ulrich Menkes Methoden-Navi verhelfen sportmedizinische und sportpsychologische Aspekte zu rascheren positiven Resultaten. Der Begriff des Übens wird ergänzt durch den Begriff des Trainings. Durch die abwechselnde Verwendung aller Sinne läuft das Gehirn zu wahrer Form auf: Kurzweil lässt die «Übzeit» vergessen und führt zum Flow. Die Lehrperson geht mehr mit Fragen als mit Kritik auf die Schülerinnen und Schüler ein und hilft so zu selbständigerer Arbeitskompetenz.

In 18 Kapiteln illustriert mit instruktiven Notenbeispielen aus der Violinliteratur erhält man eine breite Palette von Aufträgen, um die Schwierigkeiten aufzufächern. Hier eine Auswahl:

1. Warm-up, begonnen beim Körper: Haltung, Muskel- und Fingerspitzengefühl, Selbstbeobachtung im Spiegel.

2. Dank Slow Motion ein neues Stück von Anfang an fehlerlos trainieren; erst vorstellen, dann spielen.

3. Looping: In schwierige Sequenzen Atempausen einbauen und die Sequenzteile wiederholen; grosse Sprünge vereinfachen als Tonschaukel und diese hören und fühlen; bei Doppelgriffen den Führungsfinger bestimmen, dessen Weg am leichtesten auszuführen und zu merken ist; Fehlerauslöser isolieren und mit Loop festigen.

4. Time-out: Schnelle Passagen mit punktierten Rhythmen oder Tonwiederholungen verlängern.

5. Supervision: Sich selber beim Spiel reihum mit verschiedenen Sinnen beobachten.

7. Rhythm is it! Rhythmisch schwierige Passage zuerst nur auf einem Ton oder auf einer Skala spielen; Saitenwechsel-Bewegung des Bogens einer mehrsaitigen Stelle zuerst auf den leeren Saiten spielen; bei gebundenen Passagen die optimale Bogenhandkurve suchen.

8. Akzente setzen: In eine gleichmässig ablaufende Passage z. B. in Sechzehntel-Vierergruppen Akzente auf die zweite und in den Wiederholungen auf die dritte und vierte Gruppen-Note setzen oder sogar auf jede dritte Note (gegen das Metrum) der Passage. So kommt jeder Ton einmal in den Fokus.

9. Selbst-Coaching: Du schaust wie ein Reporter auf das Spiel deiner «inneren Mannschaft» und beurteilst, was zu verbessern ist. Fokus auf einen Finger, der zu schwach, auf einen Ton, der nicht ausdrucksvoll ist, einen Lagenwechsel, der zu spät geschieht; «Blick auf die szenische Anlage von Spielsituationen».

10. Auswärtsspiel. Sicherheit erwerben: Passage auf anderen Saiten, in anderen Lagen, im Gehen, im Ensemble Rücken an Rücken spielen.

11. Mischpult. Ausprobieren von verschiedenen dynamischen Varianten einer Stelle (Suche mit Crescendo und Decrescendo nach der richtigen Betonung) führt zu bewussterem Verständnis der Komposition.

12. Happy End. Wenn man auf einem Problemton eine Fermate setzt und ihn bewusster erlebt, verliert er den Aspekt der «Angststelle».

13. Call – Recall: Singen einer Stelle – mit Spielen wiederholen. Call – Response: Singen einer musikalischen Frage – Spielen der Antwort. So wird schneller klar, wie eine Passage musikalisch zu gestalten ist.

Schlussendlich 18. Auftritt! Hier wird erklärt, wie Lampenfieber, Angst vor Versagen vermieden, aber auch musischer Fluss gefördert werden kann.

In einem abschliessenden Erläuterungsteil wird die Bedeutung der Achtsamkeit, des geschickten Coachings, des mentalen Trainings, eines neuen Verhältnisses zwischen Lehrenden und Lernenden und des Trainingsplatzes als Wohlfühlort ausführlich erläutert. Insgesamt ein wertvolles Ideen-Schatzkästchen!

 

Ulrich Menke: Das Methoden-Navi, Routenplaner zu einem erfolgreichen Instrumental- und Ensembleunterricht, 192 S., € 22.95, Schott, Mainz 2023, ISBN 978-3-7957-3092-5

Klingende Nebenwege durchs Gebüsch

Das Festival Rümlingen fand diesmal im Tessin statt. Vom 28. Juli bis 1. August schmiegte sich Neue Musik für ein kleines Publikum in die südliche Landschaft.

Nunzia Tirelli in der Installation «Grazien» von Lukas Berchtold. Foto: Max Nyffeler

Rümlingen war Ende Juli wieder auf Wanderschaft. Nach dem Unterengadin 2019 und dem Appenzell 2021 erkundete das Festival nun einen besonders attraktiven Teil des Tessins. Ausgangspunkt war das einstige Aussteigerparadies Monte Verità oberhalb von Ascona. Danach ging es mit einer Wanderung ins kleine Arkadien der Deutschschweizer Kulturbürger, das Valle Onsernone, und per Schiff auf die subtropischen Brissago-Inseln, immer mit sorgsam an die Landschaft angepassten Kompositionen, Klanginstallationen und sonstigen akustischen Darbietungen im Gepäck – mal als durchstrukturiertes Konzert, mal in Wundertütenmanier zur tönenden Erquickung des Wanderpublikums.

Der seit 1990 bestehende Verein Neue Musik Rümlingen geht mit seinen sommerlichen Festivals konsequent einen Nebenweg durchs Gebüsch, das den avantgardistischen Mainstream säumt. Die Handvoll Medienleute, Komponisten und Musikvermittler aus Deutschland und der Schweiz ist in beiden Ländern musikalisch gut vernetzt und kann auch auf das Interesse freundlicher Sponsoren bauen. Eine geschickte institutionelle Kooperation ermöglicht es, die Kosten niedrig zu halten. Lokale Partner im Tessin waren nun die Associazione Olocene (benannt nach der von Max Frisch im Onsernonetal geschriebenen Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän) und das Teatro del Tempo. Der Komponist und Festivalgründer Daniel Ott verfügt als echter Eidgenosse zudem über gute landeskundliche Kenntnisse und ein Gespür für das Randständige.

Das Tessin, Ende der Welt?

«Finisterre», Ende der Welt, lautete das assoziationsreiche Motto der fünftägigen Veranstaltung. Als Ausdruck einer romantischen Natursehnsucht machte das durchaus Sinn, und zum abgelegenen, von Abwanderung gezeichneten Onsernone passte das auch. Doch die Wahrnehmungsgrenze, das «Weltende», fällt bekanntlich immer mit dem eigenen Horizont zusammen. Und dieser reichte nun offenbar gerade noch bis zum Lago Maggiore. Die Touristenhotspots Ascona und Brissago und überhaupt das industrialisierte Tessin mit seinen täglich über achtzigtausend italienischen Pendlern mit der Idee eines Endes der Welt in Verbindung zu bringen, ist dann doch etwas naiv. Im Programmbuch unternahmen die Veranstalter allerlei weltanschauliche Klimmzüge, offenbar inspiriert durch den Genius Loci des Monte Verità. Wolkige Spekulation über andere Wirklichkeiten verband sich mit touristischen Sehnsüchten aus nordischer Sicht und einem Hauch von kulturellem Kolonialismus nach dem Motto «Jetzt exportieren wir unsere Avantgarde in den musikalisch brachliegenden Süden».

Abgesehen von solchen konzeptionellen Widersprüchen war das Unternehmen durchaus ein Erfolg. Alle waren zufrieden, die angereisten Künstler, die Veranstalter, das Publikum. Dieses bestand aus einer Schar treuer Festivalanhänger, die ein paar Tage Erlebnisferien machten, neugierigen Tagestouristen und ein paar Betriebsprofis; Einheimische waren wenige vertreten. Man war eine grosse Familie, überliess sich der Magie der Landschaft und folgte neugierig den darin platzierten Klangaktionen. Ohne Eigenleistung ging das freilich nicht ab. Für den Onsernone-Tag waren zum Beispiel drei Stunden Wanderung eingeplant, und wer nicht gut zu Fuss war, musste eben passen. Dank dem gesicherten Finanzpolster kann sich das Festival den Luxus kleiner Teilnehmerzahlen erlauben. Das Konzert auf der Brissago-Insel unterstand dem Numerus clausus, bedingt durch die geringe Passagierzahl auf dem Schiff.

Brennpunkt Monte Verità

«Rümlingen» ist ein Erlebnisfestival, es geht weniger um die künstlerische Exzellenz des Gebotenen als vielmehr um dessen unkonventionelle Wahrnehmung und auch um eine intensivere Selbstwahrnehmung. So bei der Gruppe Trickster-p, die keine Klänge, sondern nur Losröllchen anbot, in denen zum Beispiel die Aufforderung stand: «Wähle einen Ton, den du in deinem Kopf spielst. Spiele ihn mit der folgenden Begleitung: Wald im Frühling um 5.00 Uhr morgens.» Der konzeptualistische Gag war Teil des Eröffnungstags auf dem Monte Verità. Ein ähnliches Stummfilmerlebnis gewährte die Installation Grazien von Lukas Berchtold, in der eine Tänzerin zu sanft sich aus der Höhe entrollenden Papiergirlanden ihre Kreise zog.

Eine Intervention mit kulturkritischer Pointe gab es im Elisarium zu sehen. Die Innenseite dieses tempelähnlichen Rundbaus ist rundum mit nackten Buben bevölkert, die der baltische Adlige Elisar von Kupffer in den 1930er-Jahren in paradiesischer Pose auf die Wand pinselte. Der Norweger Trond Reinholdtsen – ein begnadeter Ironiker, der 2014 in Darmstadt mit dem schönen Ausspruch «O alte kranke Europa, ich liebe dich!» auffiel – setzte zu dieser leicht abgestandenen Homoerotik einen knalligen Kontrapunkt mit einem Video, in dem er seine hinlänglich bekannten, grellfarbenen Trolle herumkriechen lässt und dazu fröhlichen pseudophilosophischen Nonsense deklamiert.

Der Wald winkt den Lauschenden

In dem weitläufig-hügeligen Gelände konnte man einen Tag lang Unbekanntes, Überraschendes und manchmal auch ziemlich Beiläufiges erwandern. Auf dem Walkürefelsen – eine Bezeichnung der Monte Verità-Gründer – beschallte eine Sängerin, unterstützt von Elektronik, die Umgebung mit einem Laurie-Anderson-Verschnitt. Irgendwo im Gebüsch stand ein einsames Vibrafon, auf dem Notenständer «Der kranke Mond» aus Schönbergs Pierrot lunaire.

Vokalperformance auf dem Walkürefelsen mit Stephanie Pan. Foto: Max Nyffeler

In einer Waldlichtung standen einige Liegestühle herum, auf denen die Spaziergänger sich niederlassen konnten. Dann kam zu einer bestimmten Uhrzeit plötzlich Leben in die Szene. Studierende des Conservatorio Lugano stellten sich mit ihren Instrumenten hinter die entspannt Liegenden und verpassten ihnen mit leisen Tönen und Geräuschen eine sanfte Klangmassage. Und wenn dann auf heimliches Kommando die Zweige der umstehenden Bäume zu schaukeln begannen und dazu noch ein fernes Glockengeläut erklang, war es, als winke der verwunschene Wald den Menschen friedlich zu. Die von Manos Tsangaris im Timing genau ausgedachte, feinsinnige Klangsituation gehörte zum Besten an diesem Tag.

Freunde beidseits des Eisernen Vorhangs

Meinhard Saremba zeichnet in seinem Buch die Künstlerfreundschaft von Britten und Schostakowitsch nach.

Berliner Mauer am Bethaniendamm in Berlin-Kreuzberg 1986. Foto: Thierry Noir/Wikimedia commons CC BY-SA 3.0 unported

Das Wagnis hat sich gelohnt, die beiden Komponisten aus dem Schatten der Politik zu holen, den englischen, Benjamin Britten (1913–1976), in der Zeit des Niedergangs eines Weltreiches, und den russischen, Dmitri Schostakowitsch (1906–1975), in der schreckenerregenden Sowjetzeit. Die 1960 eher zufällig sich ergebende Bekanntschaft, welche sich über die schier unüberwindliche Grenze des Kalten Krieges hinweg zur Freundschaft entwickelte, wird in den verschiedensten Facetten von künstlerischen und menschlichen Bezügen dargestellt. Allen Widerwärtigkeiten zum Trotz konnten sie sich sechs Mal treffen, sowohl in Aldeburgh wie in Moskau und auf der gemeinsamen Reise in Armenien (Sommer 1965).

Dabei bemüht sich der Autor, politische Grossereignisse wie die Kubakrise 1962, den Einmarsch der Warschaupakt-Staaten in die Tschechoslowakei 1968 und die hitzige Diskussion in Grossbritannien um das Festival sowjetischer Musik 1972 in die Auseinandersetzungen um die Entwicklung der Neuen Musik einzubauen, ohne den Fokus auf die beiden Künstler als bedrohte Existenzen zu vernachlässigen. Denn unter diesem Aspekt wurden sie vor und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als Komponisten völlig kontrovers beurteilt, und die Diskussionen in Ost und West setzen sich heute unvermindert fort, da beide kaum je der Avantgarde zugezählt werden konnten und ihre Werke deshalb oft unter ihrem Wert be- und abgeurteilt wurden.

Zitate in Überfülle aus englischen und russischen Quellen – in weit über tausend Anmerkungen ausgewiesen – ersetzen oft eine vom Autor erwartete Stellungnahme. Primär aber geht es ihm nicht darum, die Werke neu zu beurteilen, sondern er beleuchtet die teilweise vergleichbaren schwierigen Umstände, unter denen die Werke entstanden sind, neu. Da sich beide Komponisten mit den politischen Ereignissen beschäftigen mussten und dadurch oft, aber nicht immer, ungewollt zu Mitbeteiligten wurden, erforderte dies umfangreiche Recherchen im privaten Umfeld. Der «Bedeutungswandel von Werten und Worten» oder Details zum Kulturaustausch-Abkommen zwischen Grossbritannien und der UdSSR im Jahr 1959 führen weit darüber hinaus, eröffnen aber oft Einblick in schon vergessene Vorkommnisse in der Zeit des Kalten Krieges.

Solche Überblicksbetrachtungen bergen allerdings die Gefahr, dass die geopolitischen Aspekte, aus der eingeengt kulturellen Perspektive begriffen, einer gesamthistorischen Beurteilung nicht immer standhalten. Hingegen ist es verdienstvoll, dass der Autor versucht, auch die problematischen Seiten der in Aussenseiterrollen gedrängten Individualisten zu beleuchten.


Meinhard Saremba: Keeping the cultural door open. Britten und Schostakowitsch. Eine Künstlerfreundschaft im Schatten der Politik, 518 S., € 28.00, Osburg-Verlag Hamburg, Eimsbüttel 2022, ISBN 978-3-95510-295-1

Übersicht und Detailreichtum

Elisabeth Schmierer trägt in ihrer Darstellung «Die Musik des 18. Jahrhunderts» eine Fülle an Material zusammen.

Opernprobe. Ölgemälde von Marco Ricci, um 1709 (aufgehellt). Yale Center for British Art/Wikimedia commons

Eine Epoche wie das 18. Jahrhundert, die eigentlich gar keine Epoche ist, in einem Buch zusammenzufassen, scheint schier unmöglich. Zu weit ist der politische, ideengeschichtliche, künstlerische und auch musikalische Bogen, den es spannt. Die Darstellung von Elisabeth Schmierer – sie forscht und lehrt an der Folkwang-Universität der Künste in Essen – fokussiert deshalb nicht auf einzelne Persönlichkeiten, sondern folgt durchaus schlüssig den Entwicklungen verschiedener Gattungen, die sie wiederum vor dem jeweiligen gesellschaftlichen Hintergrund beleuchtet. Wie entwickelt sich die Kirchenmusik in Zeiten der Aufklärung und des aufkommenden Konzertbetriebs. Wie erscheint das Lied vor dem «Spiegel bürgerlicher Musikkultur»? Vor allem immer wieder: Wo steht das Musiktheater? Das ist höchst informativ, weil Schmierer auch zu Seitenbereichen wie etwa der Ballettpantomime oder der Programmmusik reichlich Material zusammenträgt.

Manchmal fast etwas zu reichlich, so dass man beim Lesen den Überblick zu verlieren droht. Der Verzicht auf Fussnoten (stattdessen gibt’s viele Klammern) macht den Text noch etwas weniger flüssig lesbar. Bilder und Notenbeispiele fehlen fast gänzlich. Ein Glossar erklärt zwar im Anhang die wichtigsten Begriffe, aber das verhindert nicht, dass das Buch letztlich recht wenig anschaulich ist.

Ich greife ein Lieblingsbeispiel heraus, die Passionsdichtung des Hamburger Schriftstellers und Stadtrats Barthold Heinrich Brockes, die von einigen der wichtigsten Komponisten wie Händel, Telemann oder Stölzel vertont wurde und bei der sich auch Bach bediente. Diese Namen und einige mehr werden erwähnt, ausserdem dass Brockes den Evangelistentext wieder ins Passionsoratorium eingeführt hat, allerdings mit einigen Reimen. Und das ist’s auch schon. Nichts darüber, zu welch höchst individuellen und spannenden Lösungen der hochexpressive Text die Musiker anregte. Nein, es geht rasant im Aufzählen weiter.

Schliesslich zementiert der Band, auf dessen Titelseite doch drei musizierende Frauen zu sehen sind, unter der Hand den Eindruck, dass weibliches Komponieren in jenem Zeitalter überhaupt keine Rolle gespielt habe. Einzig Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerre taucht als Komponistin auf. Eine Juliane Reichardt fehlt ebenso wie die Madame de Montgéroult, die zu den ersten Lehrerinnen am Pariser Conservatoire gehörte. Trotz solcher Leerstellen vermittelt der Band eine gute Übersicht und ist gewiss all jenen nützlich, die Musikgeschichte unterrichten und sie in einem weiteren Rahmen vernetzen möchten.
Elisabeth Schmierer: Die Musik des 18. Jahrhunderts, 345 S., € 32.80, Laaber, Lilienthal 2022, ISBN 978-3-89007-858-8

Der Vielseitigkeit auf der Spur

Gespräche mit Musikerinnen und Musikern, die inner- und ausserhalb der Musik verschiedenste Tätigkeiten verfolgen.

«x-stimmig», eine Gesprächsreihe zur Vielseitigkeit in der Musik. Foto: Mishchenko

Der Autor dieses Podcasts, Matthias Droll, ist selber vielseitig unterwegs: Nach einem Studium in klassischem Schlagwerk und Elementarer Musikpädagogik absolviert er einen Jazz-Master und spielt in einem Trio, das elektronische Musik macht. Daneben klettert er. Auch sein künftiges Berufsleben möchte er vielseitig gestalten. Darum versucht er die Vielseitigkeit zu ergründen. Als Bestandteil seiner Masterthesis an der Hochschule der Künste Bern hat er nun eine Reihe von akustischen Porträts gestaltet, die online nachzuhören sind. In x-stimmig führt er Gespräche mit Musikerinnen und Musikern, die mit mehreren Instrumenten, in mehreren Genres, in mehreren Rollen, von Interpret bis Hochschuldozentin, unterwegs sind, die zudem oft im Sport oder in Organisationen aktiv sind. Er befragt sie, wie sie zu dieser Vielzahl von Tätigkeiten gekommen seien, beginnt in der Kindheit, will wissen, ob sie jemals Interessensgebiete hätten aufgeben, sich entscheiden müssen, wie sie alles unter einen Hut brächten und wie sie in dieser Vielfalt zu kreativen Phasen kämen.

Beim Zuhören der zwischen 39 Minuten und knapp über einer Stunde langen Beiträge ergibt sich eine angenehme Spannung zwischen dem ruhig geführten Gespräch, das auch Zeit für Nachfragen und längere Ausführungen hat, und der manchmal schwindelerregenden Menge an Beschäftigungen, denen sich die Befragten widmen. Ob dieses geduldige und sorgfältige Herangehen schon eine der Antworten ist? Es geht aber nicht eigentlich darum, wie verschiedenste Tätigkeiten nebeneinander bewältigt werden können, sondern ob und wie sie sich gegenseitig befruchten.

Wer sich Fragen stellt zur eigenen Vielseitigkeit oder einfach Einblicke in das Leben inspirierender Musiker und Musikerinnen haben möchte (wobei man dazu – ganz der Vielseitigkeit verpflichtet – noch Gemüse rüsten oder abwaschen kann), sollte reinhören. Bislang gibt es neun Folgen, weitere sollen im Herbst folgen.

x-stimmig – (nicht) nur Musik

 

 

 

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