Im Übungsheft «Fingerflink» von Anna-Barbara Rösch lernen und üben kleine Flötistinnen und Flötisten spielerisch anhand von Geschichten.
Claudia Weissbarth
- 26. Okt. 2023
Illustration von Jasmin Céline Baumann. zVg
Bereits im Vorwort zu Fingerflink, das aus einer Reflexion im Rahmen ihres Pädagogikmasters an der Zürcher Hochschule der Künste hervorging, weist die Autorin Anna-Barbara Rösch auf das Ziel hin, «mit kleinen Kindern (ab dem Kindergarten bis zur dritten Klasse) an der Fingertechnik zu arbeiten, ohne das Thema Fingertechnik konkret zu erwähnen».
Der erste Teil enthält zwölf Geschichten mit den Figuren Flurina und Niels, die jeweils am Ende der Geschichte elementare Bausteine der Flötentechnik wie Tonleiterspiel, Griffwechsel und Improvisation üben. Beispielsweise steigen die beiden in der zweiten Geschichte, «In der Schule», die Schultreppe hinauf und werden am Ende aufgefordert, diese auch mit der Flöte zu erklimmen (Tonleiter). Parallel dazu steht auf der gleichen Seite ein Musikstück aus der Literatur, das zum Thema passt, in diesem Fall ein Tonleiterausschnitt aus einem Maestoso von Franz Anton Hoffmeister. Diese Musikbeispiele in unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden können zum Üben vereinfacht werden. Farbenfrohe Illustrationen von Jasmin Céline Baumann machen die musikalischen Geschichten für Kinder noch anschaulicher. Der zweite Teil enthält eine Reihe von Übungen, die die Beweglichkeit und Geschicklichkeit der Finger auch ohne Instrument fördern und zum Teil aus der Ergotherapie stammen. Dazu gehören zum Beispiel Aufwärmübungen, Übungen zur Feinmotorik oder zur Körperhaltung.
Das abwechslungsreiche Heft, das eine Bereicherung für den Musikunterricht mit kleinen Kindern darstellt und spielerisch technische Elemente übt, ohne sie beim Namen zu nennen, ist ursprünglich für die Querflöte konzipiert, kann aber mit etwas Kreativität genauso für das Üben mit anderen Instrumenten verwendet werden.
Anna-Barbara Rösch: Fingerflink – Musikalische Fingerübungen in Form von Geschichten, illustriert von Jasmin Céline Baumann, 130 S., Fr. 35.00, Selbstverlag anna-barbara.com/fingerflink
Angst um und vor dem Musikunterricht
Im Kanton Zürich findet das Fach Musik an der Volksschule vielerorts kaum mehr statt. In einer Diskussion kamen Ursachen und Lösungen zur Sprache.
Sibylle Ehrismann
- 05. Okt. 2023
Wenn niemand da ist, der Musikunterricht erteilen kann oder will, nützt auch ein guter Lehrplan nichts. Foto: uatp12/depositphotos.com
Um den Musikunterricht an der Volksschule steht es schlecht. Woran liegt das? Wie kann das Schulfach Musik passend belebt werden? Die Gewerkschaft für den Service Public VPOD Zürich/Musik veranstaltete dazu am 23. September eine öffentliche und gut besuchte Podiumsdiskussion, die von Esther Girsberger moderiert wurde.
Zum Stand der Dinge meinte Maja De Luca vom Vorstand des VPOD Zürich.Musik zu Beginn, dass sich Bund und Kantone für einen hochwertigen Musikunterricht einsetzten. Es gibt das Musikschulgesetz des Kantons Zürich, und dank der Volksinitiative jugend + musik ist die musikalische Breitenförderung im Artikel 67a der Bundesverfassung verankert. Im Lehrplan 21 wurde der Musikunterricht an der Volksschule stark aufgewertet. Darin sind von der 1. bis 6. Klasse zwei Wochenlektionen Musik vorgeschrieben.
Woran liegt es?
Doch heute, zehn Jahre nach der Einführung des Verfassungsartikels, ist die Realität im Kanton Zürich ernüchternd. In der Unterstufe der Primarschule gibt es zwar eine «Musikalische Grundbildung». Die wird jedoch von einer Fachlehrperson erteilt und ist freiwillig, sie ist nicht im Lehrplan 21 enthalten. Später ist der Musikunterricht abhängig von der Lehrperson. Den einen ist das Fach Musik wichtig, entsprechend engagiert unterrichten sie es. Den anderen nicht, ihr Musikunterricht findet kaum mehr statt. Kontrolliert wird das von niemandem. Kommt dazu, dass an der Pädagogischen Fachhochschule Musik kein Pflichtfach mehr ist, es wird freiwillig angeboten. Nur sehr wenige Studierende wählen Musik als Kunstfach.
Auf Esther Girsbergers Frage, wie schlimm es wirklich sei, meinte die Lehrerin für Musikalische Grundausbildung Sibylle Dubs: «Es steht schlecht. Der Grund dafür ist meist individuell: Die Lehrpersonen haben oft Angst vor dem Musikunterricht. Sie trauen ihn sich nicht zu, vor allem nicht das Singen. Das hat oft mit einem Kindheitstrauma zu tun. Vielen wurde eingebläut, sie könnten nicht singen und hätten keine Stimme.»
Gibt es Auswege?
Für Simone Kramer, Volksschulleiterin in der Stadt Zürich, steht und fällt die Qualität des Musikunterrichts mit der Schulleitung. Da sie selber eine musische Kindheit hatte, ist für sie Musik ein wichtiger Teil der Bildung. So entstand in Zusammenarbeit mit der Musikschule eine Tagesschule mit musischem Profil. Das heisst konkret, die Kinder sollen auf jeder Stufe intensiv Kontakt haben mit Musik: Musikalische Grundbildung, Chorsingen und Klassenmusizieren. Dafür gibt es zwei Wochenlektionen. In der 5. und 6. Klasse können sie in einem Chor oder einer Band mitmachen. Und wenn einem Kind sein Instrument gefällt, kann es damit weiterfahren.
Interessant ist die Idee, dass die Lehrpersonen der Volksschule an diesem Musikunterricht teilnehmen, ihn mitmachen. Da Kramers Volksschule vis-à-vis vom Toni-Areal liegt, behilft sie sich mit Musikstudentinnen und -studenten. Dass man eher musische Menschen für den Musikunterricht beiziehen sollte, war bald klar. An der ZHdK gibt es eine entsprechende Ausbildung, den BA Musik und Bewegung. Doch dieser Studiengang hat kein gesichertes Arbeitsfeld. Es gäbe zwar Jobs, doch die Gemeinden entscheiden über die Finanzierung, ob solche Stellen auch besetzt werden. Könnten nicht diese an der ZHdK ausgebildeten Fachlehrpersonen an der Volksschule unterrichten?
Was in anderen Kantonen bereits möglich ist, scheint im Kanton Zürich in weiter Ferne. Myriam Ziegler, die Chefin des Volksschulamts, stellte die politische Situation klar: «Als sich vor rund 20 Jahren die Fachhochschulen entwickelten, wurde diskutiert, ob an Volksschulen Fachlehrerinnen und -lehrer zugelassen werden sollen oder nicht. Man kam zum Schluss, dass man das nicht wolle, um die Klassenlehrkraft als Bezugsperson beizubehalten.» Auf der Primarstufe sind heute maximal 3 Fachlehrpersonen zugelassen.
Was bremst? Die Finanzen!
Wo gibt es Lösungsansätze? An der ZHdK diskutiert man zurzeit über ein Weiterbildungsangebot «Klassenmusizieren» für Volksschullehrkräfte. Auch wäre laut Bernhard Suter, Fachdidaktik-Dozent an der PH Zürich, eine bessere Zusammenarbeit zwischen Musik- und Volksschulen wichtig, doch dafür braucht es mehr Finanzen. Seiner Meinung nach wäre die folgende Möglichkeit vielversprechend: «Man könnte doch in einem Schulhaus eine musikverantwortliche Person einstellen. Diese könnte dann von den Klassenlehrerinnen und -lehrern für den Musikunterricht beigezogen werden.» Das klingt doch vernünftig, man müsste es nur tun und anständig honorieren.
Unter der Leitung von Esther Girsberger (links) diskutieren hier Simone Kramer, Olivier Scurio und Sibylle Dubs. Foto: zVg
Version vom 23. Oktober 2023
Sanftes soziokulturelles Abenteuer
Im Tessiner Musikdorf Sobrio verbinden sich Konzerte, Sommerakademie und lokale Strukturen zu einem integrativen Ganzen. Ein künstlerisch und gesellschaftlich nachhaltiges Festivalmodell, unverwechselbar und unwiederholbar.
Max Nyffeler
- 05. Okt. 2023
Behutsam und eng verflochten entwickeln sich Dorf und Festival. Foto: Max Nyffeler
Tief unten in der Leventina braust auf der Gotthardautobahn der Verkehr, doch oben in Sobrio, auf elfhundert Metern Höhe, sieht und hört man nichts davon. Nach der Fahrt über eine steil ansteigende Strasse mit unzähligen Haarnadelkurven landet man hier in einer anderen Welt: Ein abgeschiedenes Bergdorf, auf einem Sonnenhang zwischen Wiesen und einem Waldstück gelegen, die Häuser mit Natursteinen gedeckt. Eine Kirche aus dem 14. Jahrhundert, ein Ristorante mit einer schönen Terrasse. Die Aussicht auf die gegenüberliegenden Berge ist atemberaubend.
Sobrio hat wie die meisten Tessiner Bergdörfer im Lauf des 20. Jahrhunderts massiv an Bewohnern eingebüsst, 2016 waren es gerade noch achtzig. Doch nun ist neues Leben eingekehrt. «Villaggio della Musica», Dorf der Musik, nennt es sich heute, und an einem Geländer am Dorfeingang hängt ein Transparent: Sobrio Festival. Von Juli bis Mitte Oktober finden hier Instrumentalkurse für Studierende und junge Profis statt, die Dozenten kommen unter anderem von den Berliner Philharmonikern und dem Orchester der Mailänder Scala.
Es wird geübt und geprobt, es gibt Konzerte und den Klavierwettbewerb Elizabeth Tschaikowsky – eine entfernte Nachfahrin des russischen Komponisten stellte dafür ihren Namen zur Verfügung. Die Aktivitäten teilen sich auf zwei Veranstaltungsschienen auf, die sich ergänzen: die Sommerakademie mit den Meisterkursen und das Sobrio Festival. Dieses bietet neben den Konzerten internationaler Künstler auch den besten Kursteilnehmern eine Auftrittsgelegenheit, und umgekehrt unterrichten manche Gastsolisten in den Kursen. Das Villaggio della Musica bildet das gemeinsame Dach.
Ein Dorf verändert sich
Eine Metamorphose hat stattgefunden in Sobrio. Viele Häuser wurden inzwischen nachhaltig renoviert, wobei ihr Äusseres unangetastet blieb. An den Hauswänden befinden sich kleine Messingschilder mit ihren Namen: Casa Gioacchino Rossini, Casa Héctor Berlioz, Casa Franz Schubert. Rund fünfzig der alten Häuser sind inzwischen auf diese Weise «musikalisiert» worden. Die meisten gehören Privatpersonen, die auf unterschiedliche Weise einen Beitrag zu den musikalischen Aktivitäten leisten; auch praktizierende und ehemalige Musiker befinden sich darunter.
Das Innere der Casa Mahler. Foto: Max Nyffeler
Zwei dieser Häuser sind Eigenbesitz der Veranstalter: Das eine ist die grosse Casa Francis Poulenc mit Doppelzimmern für die jungen Musiker und einer geräumigen Küche, wo sie als Selbstversorger kochen und sich treffen können. Auf dem weitläufigen Grundstück gibt es eine Reihe von noch jungen Bäumen; für jeden Gewinner, jede Gewinnerin des Klavierwettbewerbs wird jeweils ein neuer gepflanzt. Das andere Haus ist die perfekt eingerichtete Casa Mahler. Mit einem kleinen Saal für Kammerkonzerte, Workshops und Meisterkurse bildet sie das Herzstück des Unternehmens. Ein grösserer Konzertraum mit rund hundertsechzig Plätzen ist die Kirche San Lorenzo, und für Freiluftkonzerte gibt es einen von alten Mauern abgestützten Bereich direkt hinter der Casa Mahler.
Die Verwirklichung eines Traums
Initiator und kreativer Kopf des Villaggio della Musica ist Mauro Harsch, Pianist und Dozent am Conservatorio della Svizzera Italiana in Lugano. Mit dem Projekt hat er sich einen alten Traum verwirklicht, und im kleinen Dorf Sobrio, das er seit seiner Kindheit kennt, fand er den idealen Ort dafür. «Meisterkurse oder Konzerte gibt es überall, aber Sobrio ist einmalig, nicht nur wegen der Landschaft, sondern auch weil hier ein ganzes Dorf in die Musik einbezogen wird.» Harsch spricht begeistert über die Atmosphäre vor Ort: «Diese Ruhe und Harmonie findet man sonst nirgendwo. Hier, im Kontakt mit der Natur und abgeschirmt von den Banalitäten des Alltags, können sich die jungen Musikerinnen und Musiker frei entfalten.» In einer mehr touristischen oder urbanen Umgebung sei das nicht möglich.
Mauro Harsch, Gründer des Musikdorfs (links) mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Meisterkurses von Francesco De Angelis, Geiger im Orchester der Mailänder Scala (4. v. re.). Foto: Sobrio Festival
Institutionell steht das Musikdorf auf zwei Beinen. Der von Harsch gegründete Verein Ars Dei, dem er vorsteht, ist verantwortlich für die künstlerischen und organisatorischen Fragen, und die Stiftung Amici del Villaggio della Musica kümmert sich um alle institutionellen Aspekte. Diese beiden Träger, dazu ein Freundeskreis mit über zweihundert Mitgliedern, garantieren auch für die finanzielle Sicherheit. Das Musikdorf finanziert sich weitgehend selbst, Zuwendungen Dritter sind willkommen.
Damit Dorf und Musik gewinnen
Das Musikdorf ist ein langfristiges Entwicklungsprojekt. Das betrifft vor allem den Ausbau der Liegenschaften. Gerade wurde mit dem Umbau eines alten Albergo am Dorfende begonnen, und vielleicht schon im nächsten Jahr soll dann unter dem Namen «Hotel Symphony» ein kleines Hotel für die Unterbringung von Festivalgästen zur Verfügung stehen. Bereits fasst man auch ein Wohnprojekt für betagte Musiker ins Auge, neue Unterkünfte für Kursteilnehmer sind ebenfalls angedacht.
Doch alles schön der Reihe nach, überstürzt wird nichts. Nicht zuletzt, weil die Verantwortlichen wissen, dass das musikalische Unternehmen einen Eingriff in das altgewachsene soziale Gefüge des Dorfs darstellt, Probleme für die Infrastruktur inbegriffen. Rücksicht auf die Befindlichkeiten der Einheimischen und strikte Nachhaltigkeit sind darum erstes Gebot. Soziale Spannungen sind nicht immer vermeidbar, weshalb man bei den einzelnen Entwicklungsschritten mit der Gemeinde Faido zusammenarbeitet, zu der Sobrio seit 2016 politisch gehört.
Schwierigkeiten gab es zum Beispiel beim Vorhaben, auf der Wiese vor dem Dorf einen kleinen Konzertsaal zu bauen. Der Architekt Mario Botta hatte den Auftrag zur Gestaltung des Baus erhalten und auch bereits einen Entwurf geliefert. Doch dann erhoben einige Bewohner Einspruch. Sie befürchteten, das Dorfleben könnte durch einen wachsenden Kulturtourismus auf den Kopf gestellt werden, und das Projekt blieb einige Jahre liegen. Inzwischen hat man sich geeinigt, und die Suche nach Geldgebern für die Baukosten von 3,5 Millionen hat begonnen.
Das Musikdorf Sobrio ist ein soziokulturelles Abenteuer, das seinesgleichen sucht. Hier kann man beobachten, wie eine ursprünglich rein kulturelle Idee weit über ihren Bereich hinauswirken und die gesellschaftliche Realität tiefgreifend verändern kann. Es ist ein Prozess mit offenem Ausgang. Doch wenn Begeisterung für die Sache und soziale Verantwortung so eng zusammengehen, wie es hier der Fall zu sein scheint, dann besteht Grund zur Annahme, dass für beide Seiten, die Musik und das Dorf, die Zukunft gerade erst begonnen hat.
Die Cellosonate von Joachim Raff erfüllte die Erwartungen bei der Uraufführung offenbar nicht. Aber sie ist ein kurzweiliges, brillantes Werk.
Lehel Donath
- 14. Sep. 2023
Foto: Alenavlad/depositphotos.com
Joachim Raff (1822–1882) hinterliess mehrere Werke für das Violoncello und Klavier: zwei Romanzen op. 182, die Fantasiestücke op. 86 sowie das Duo op. 59. Das umfangreichste Werk ist jedoch seine viersätzige Cellosonate D-Dur op. 183. Über deren Entstehungsgeschichte gibt es kaum gesicherte Informationen. Sie wurde im Dezember 1873 in einem Novitätenkonzert in der Berliner Singakademie uraufgeführt und beim Verlag C. F. W. Siegel veröffentlicht. Die Rezensionen waren überwiegend kritisch. Zu gross waren offenbar die Erwartungen nach der triumphalen Berliner Uraufführung von Raffs 5. Sinfonie Lenore am 29. Oktober gleichen Jahres.
Das damalige Kritikerurteil wird dem Stück aber nicht gerecht. Es handelt sich um ein unterhaltsames, brillant-virtuos geschriebenes Werk: Cello und Klavier sind gleichberechtigte Partner, den Ausführenden wird viel an technischem Können abverlangt. So wird bei Aufführungen eines gewiss nie zu kurz kommen: das Spielvergnügen! Die Sonate ist in ihrem Charakter vielleicht «plakativer» als beispielsweise die Sonaten von Felix Mendelssohn. Die eingängige Tonsprache der vier Satze ist sehr bildhaft, so dass man sich gelegentlich auch an Raffs sinfonische Werke mit aussermusikalischen Programmbezügen erinnert fühlt.
Der 2022 begangene 200. Geburtstag des Komponisten gab Anlass zu zahlreichen Aufführungen und Neueditionen. So ist auch Raffs Cellosonate in Zusammenarbeit mit dem Joachim-Raff-Archiv in Lachen nun in einer kritischen Urtext-Ausgabe bei Breitkopf & Härtel erschienen.
Joachim Raff: Sonate für Klavier und Violoncello op. 183, hg. von Claus Kanngiesser, EB 9406, € 28.50, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden
Für den Beginn auf dem Drumset
Das Workbook für Drumset von Toni Schilter motiviert die Kinder zum Grooven und Ausprobieren.
Daniel Maggi
- 13. Sep. 2023
Foto: phranai2006@gmail.com/depositphotos.com
Das DrumBook von Toni Schilter kommt freundlich, farbenfroh und überaus ansprechend daher. Das praxisorientierte Lehrmittel ist für Kinder im Alter von fünf bis neun Jahren konzipiert. Die Idee des Autors, im ersten Teil die einzelnen Komponenten des Schlagzeugs mit einer Farbe in Verbindung zu bringen, ist für Anfänger und Anfängerinnen eine grosse Hilfe.
Nach einer kurzen Einführung geht es auch schon los mit dem ersten Warm-up, gefolgt von einer kurzen Notentheorie, dem «Pizzavergleich». Der Fortschritt in diesem Heft ist nicht auf den rhythmischen Aufbau mit Figuren fokussiert, sondern auf den Groove, Ausdruck und Koordination. Das DrumBook hat eine klare Struktur und legt zudem eine Basis in Themenbereichen wie Rudiments, Notenlehre, Unabhängigkeit und Allgemeinwissen über das Drumset und dessen Komponenten.
Früh kommen Kombinationen mit den Füssen sowie Übungen mit Akzenten an die Reihe. Eine kleine Anregung, mit Wortrhythmen zu arbeiten, wird ebenfalls aufgezeigt. Schon nach wenigen Seiten grooven die Kinder über das komplette Drumset. Im weiteren Verlauf wird der Aufbau eines Songs veranschaulicht und erklärt, aus welchen Formteilen er besteht.
Mit zahlreichen Übungen, praktischen Bildern und Illustrationen sowie einigen Soli und Duetten in verschiedenen Schwierigkeitsstufen verbindet und veranschaulicht der Autor auf 122 Seiten das Lernen, Üben und Musizieren in abwechslungsreicher Weise. Freiräume für eigene Ideen sorgen für die individuelle und kreative Entwicklung der Lernenden, welche auch durch die Lehrpersonen mitgestaltet werden können. Der Autor ist überzeugt: «Mit Tonis Trommelbuch feiern die Kinder stetig kleine Erfolgserlebnisse und bleiben daher motiviert.» Neugierig? Musterseiten gibt es auf der Website, wo das Buch auch bestellt werden kann.
Toni Schilter: DrumBook «Tonis Trommelbuch», Workbook für Drumset mit klarer Storyline, Erstes Lehrmittel für junge Drummer, Fr. 35.00, Eigenverlag www.drumbook.ch
Zündende Lieder
«Liederfunken» für Vier- bis Achtjährige, die auf deren Alltag eingehen, den Spracherwerb unterstützen und das Zusammenwirken fördern.
Bernhard Suter
- 13. Sep. 2023
Foto: Oksixx/depositphotos.com
Plappern, rufen, flüstern, jauchzen, singen – «die Stimme – unser erstes Musikinstrument». Das ist der musikpädagogische Ansatz in den Liederfunken für den Musikunterricht im 1. Zyklus, den Kindern im Alter zwischen vier und acht Jahren. Wobei Musikunterricht hier nicht in Musiklektionen gepackt ist, sondern in verschiedenen Momenten des Schulalltags aufscheint: beim Begrüssen und Verabschieden, an Geburtstagen der Kinder, in Verbindung mit dem Kennenlernen von Naturphänomenen oder im Zusammenhang mit lebenskundlichen Themen. Überhaupt wird in den vorliegenden Liederarrangements stark auf einen altersgerechten lebensweltlichen Bezug geachtet. Ein Kapitel heisst denn auch «Kinderalltag», ein Lied darin nennt sich Pflaster, Salbe oder Tee? Die weiteren Kapitel sind überschrieben mit «Grüezi und Adieu», «Draussen unterwegs», «Winterzeit» und «Nachtstimmung». Sie ordnen die Lieder inhaltlich.
Ein besonderes Augenmerk liegt auf «Versen und Sprüchli» und damit auf der Verwandtschaft zwischen Sprache und Musik. So kombinieren die «Fingerverse» Sprechen mit Motorik und Rhythmus humorvoll – «Chömed all’ zu mir zum Znacht, ich han us Schnee e Pizza gmacht!» –, auch mit Blick auf Kinder mit Deutsch als Zweitsprache, denen die Verse zu einem fantasievollen Spracherwerb verhelfen.
Durch die Einbettung der Lieder und Sprachspiele ins soziale Miteinander wird Musik zum Instrument, das das persönliche Erleben und die Gemeinschaft stiftende Kraft der Musik zur Förderung fachlicher wie auch überfachlicher Kompetenzen nutzt: Sich singend, tanzend und musizierend ausdrücken oder aufeinander hören fördert das musikalische Ausdrucksvermögen ebenso wie Eigenständigkeit und Kooperationsfähigkeit. Die 24 Lieder des Buchs beziehen sich explizit und detailliert auf die im Lehrplan 21 benannten Kompetenzen. Im Mittelpunkt stehen jedoch die vielfältigen und spielerischen Erarbeitungsweisen der von der Autorin komponierten Lieder – einfach und anschaulich erklärt.
Christina Schnedl: Liederfunken. Singen, tanzen, musizieren, 127 Seiten, Fr. 51.00, Verlag LCH, Zürich 2021, ISBN 978-3-908024-31-6
Expressives kleines Orgelwerk
Eine gut spielbare Choralpartita von Anton Heiller mit zwei erstmals veröffentlichten Vatiationen.
Tobias Willi
- 12. Sep. 2023
Von Anton Heiller konzipierte Pirchner-Orgel in der Pfarrkirche Sandleiten, Wien 16, errichtet 1958. Foto: DerHHO/wikimedia commons
Passend zu seinem 100. Geburtstag erscheint ein bisher zumindest teilweise noch unveröffentlichtes Werk des grossen Wiener Organisten, Pädagogen und Komponisten Anton Heiller. Die kleine Choralpartita entstand Anfang 1975 als Auftragswerk für eine Sammlung mit gottesdienstlicher Orgelmusik; es wurden davon allerdings nur Intonation, Choralsatz und Variation 1 veröffentlicht, während die beiden verbleibenden Variationen aufgrund ihrer komplexen Harmonik nicht berücksichtigt wurden und daher hier erstmals im Druck erscheinen. Laut einem Online-Kommentar von Anton Heillers Sohn zu einer Einspielung des Werks durch den Herausgeber scheint das Stück die von Erkrankung und zunehmender Erschöpfung geprägte seelische Verfassung des Komponisten zu spiegeln.
Eine kurze (Manualiter-)Intonation leitet einen Choralsatz ein, der hierzulande für eine Alternatim-Aufführung mit gesungenen Strophen allerdings rhythmisch der Fassung im reformierten Gesangbuch angepasst werden müsste. Eine erste, sehr expressive Variation begleitet die Melodie mit einer Gegenstimme in ausdrucksvollen, teils weit gespannten Seufzer-Floskeln. Variation 2 ist ein etwas kauzig-tänzerischer Satz im 6/8-Takt, der die ersten beiden Choralzeilen integriert. Als Abschluss steht ein vollgriffiger, harmonisch schroffer Choralsatz in wuchtigem Forte. Dank seiner nicht besonders hohen spieltechnischen Ansprüche und seiner Eignung auch für kleine Instrumente mit einem oder zwei Manualen und Pedal stellt Heillers kurzes Opus eine praxisnahe und daher sehr willkommene Bereicherung des Repertoires dar. Es erlaubt eine (Wieder-)Begegnung mit einem Künstler, der auch die Schweizer Orgelwelt nachhaltig geprägt hat und dessen kompositorisches Schaffen zu Unrecht etwas in den Hintergrund gerückt ist.
Anton Heiller: Intonation, Choral und drei Variationen über die Melodie «Aus tiefer Not schrei ich zu dir», hg. von Lukas Frank, D 02 542, ca. € 12.00, Doblinger, Wien
Handwerk und Geheimnis des Komponierens
Bruno Monsaingeons Gespräche mit Nadia Boulanger sind nun auch auf Deutsch zu lesen.
Torsten Möller
- 11. Sep. 2023
Nadia Boulanger 1925 an der Ecole normale de musique de Paris, wo sie unterrichtete. Foto: Edmond Joaillier (1886–1939), Paris/Bibliothèque nationale de France
Nadia Boulanger, die Grande Dame, war Lehrerin und richtungsweisende Gesprächspartnerin von Leonard Bernstein, Yehudi Menuhin, Igor Stravinsky, auch von vielen Komponisten, die nicht so stark im imaginären Museum der Musikgeschichte verankert sind. Boulanger, das zeigt das vorliegende Buch eindrücklich, kommt zwar von der romantischen Inspirationsästhetik, ist aber bis ins hohe Alter offen geblieben. Dem Neuen stand sie nie ablehnend oder gar skeptisch gegenüber, wobei ihre Schwerpunkte in französischer Ästhetik und Geschichte lagen.
Bruno Monsaingeon hat sein Buch Mademoiselle. Entretiens avec Nadia Boulanger bereits 1981 veröffentlicht, nun liegt es, hervorragend lektoriert und übersetzt von Joachim Kalka, auf Deutsch vor. Im Vorwort bemerkt Monsaingeon, dass es Boulanger nicht mochte, «irgendwelche vertraulichen Mitteilungen zu machen». So ist vermutlich der etwas kleinteilige Stil des Buches zu erklären, das aus Gesprächen aus den letzten Lebensjahren entstanden ist. Boulanger ist weder Musikphilosophin noch Wissenschaftlerin oder Theoretikerin. Ihre Gedanken sind sprunghaft, aber deshalb nicht unergiebig.
Über ihre Schwester Lili äussert sich Nadia noch recht ausführlich, über ihre Begabung, auch über Lilis genialischen Funken, der bei ihr selbst nie übersprang. Oft kreist das Buch – siehe «romantische Inspirationsästhetik» – um Themen wie Begabung, Schöpfertum, Schaffensdrang. Auf Seite 97 konstatiert Boulanger:
«In der Frage nach Genie oder Meisterwerk muss ich meine Verlegenheit eingestehen. Tatsächlich weiss ich nichts … Ich weiss es und ich weiss es nicht, weil ich eine Gewissheit habe, die nicht auf Vernunft beruht. Es beginnt natürlich mit einer Gewissheit, die teilweise vernünftig ist, insofern ich konstatiere, dass eine Musik gut geschrieben ist, gut orchestriert, gut konstruiert. Aber in dem Augenblick, wo es noch um etwas anderes geht, tritt man in ein Geheimnis ein. Da ich ein gläubiger Mensch bin, erscheint mir alles ein Geheimnis.»
Man kann es Respekt nennen, Respekt vor der Kunst, Respekt vor der Musik. Je mehr man sich jedoch in Boulangers Gedanken vertieft, beschleicht einen auch das Gefühl eines gepflegten Mystizismus, der in merkwürdiger Schräglage steht zu recht konkreten Vorstellungen von musikalischem Handwerk sowie tiefen und handfesten Einblicken in bedeutende Werke der Musikgeschichte. Just dieser Eindruck erklärt vermutlich Boulangers pädagogischen Erfolg: Sie vermittelte, kenntnisreich und streng zugleich, Grundlagen. Was ihre Schüler und Schülerinnen daraus machten, was in unbewussten Vorgängen geschah – davor hatte sie Respekt und schwieg. Dies ist wohl auch das Resümee dieses facettenreichen Buches: Es gibt viele Impulse. Aber fürs Weiterdenken ist der Leser zuständig.
Bruno Monsaingeon: Ich denke in Tönen – Gespräche mit Nadia Boulanger, 176 S., € 28.00, Berenberg, Berlin 2023, ISBN 978-3-949203-50-3
Die Schweiz swingt
Vor allem in den 1920er- und 1930er-Jahren und oft für die Gäste in illustren Hotels schrieben viele Schweizer Komponisten Klavierstücke im Stil der populären amerikanischen Tänze.
Walter Labhart
- 10. Sep. 2023
Albert Moeschinger in den 1920er-Jahren in Grindelwald. Er spielte zuweilen auch als Unterhaltungspianist in Berghotels. Foto: Albert-Moeschinger-Stiftung
Der vor 250 Jahren geborene Sängervater Hans Georg Nägeli brachte es fertig, dass die Schweiz singt. Ironie des Schicksals, dass zu seinem Geburtstag ausgerechnet eine CD erschienen ist, die ein ganz anderes Bild der helvetischen Musiklandschaft zeigt: Die Schweiz swingt.
In der Reihe «20th Century Foxtrots» kamen als fünfte Folge lauter Raritäten von zwölf Schweizer Komponisten sowie dem lange in Zürich lebenden Deutschen José Berr und der in Paris erfolgreicheren Genfer Komponistin Marguerite Roesgen-Champion heraus. Aufgestöbert hat die mehrheitlich unveröffentlichten Tanzstücke der Musikologe Mauro Piccinini, der diese Serie auch wissenschaftlich betreut. Er schreibt, wie sich der fälschlicherweise für Jazz gehaltene Foxtrott beispielsweise in St.Moritzer Hotels mittels einer «Tschetzpend» etablierte. Mit hinreissendem Elan und viel Humor gespielt werden die Stücke auch in der jüngsten Folge vom Wiener Pianisten Gottlieb Wallisch. Das von Alastair Taylor in zeittypischer Art-Déco-Manier brillant gestaltete Booklet-Titelblatt zeigt ein tanzendes Paar vor verschneiter Bergkulisse. Die im SRF-Radiostudio Zürich aufgenommene, in Deutschland hergestellte CD verströmt auch damit internationales, vorwiegend amerikanisch geprägtes Flair.
In zwölf Ersteinspielungen erklingen Foxtrotts und Tangos von Komponisten, die, zwischen 1865 (Emile Jaques-Dalcroze) und 1941 (Urs Joseph Flury) geboren, alle ihr Herz kurzfristig an den Jazz und an amerikanische Modetänze verloren hatten. Nebst Arthur Honegger, Conrad Beck, Paul Burkhard, Peter Mieg und Julien-François Zbinden sind auch weniger bekannte wie René Gerber, Walter Lang oder André-François Marescotti in diesem Projekt zu finden.
Den mit viel Swing bezwingenden Einstieg macht Albert Moeschinger mit besonders hellhörigen Einfühlungen in den Jazz. Tallula nennt er seine synkopenreiche Foxtrott-Fantasie von 1930, der sich ein waschechter Farewell Blues anschliesst. Für alles Folgende haben diese beiden scharf profilierten Stücke Modellcharakter. Der Rheinberger-Schüler José Berr erheitert kurioserweise mit einem One-Step über das Jodellied Ich bin ein Schweizerknabe und das Thurgauerlied.
20th Century Foxtrots, Vol. 5. Switzerland. Gottlieb Wallisch, piano. Grand Piano GP 922
Rekonstruiert, erstmals ediert oder ganz neu
Konzerte für Oboe oder Englischhorn von Gustave Vogt, Domenico Cimarosa und Pēteris Vasks.
Matthias Arter
- 10. Sep. 2023
Oboenblaetter. Foto: Vivasis/depositphotos.com
In einer Liste der bedeutendsten Oboistinnen und Oboisten der Musikgeschichte dürfte neben Leuten wie den Gebrüdern Plà, Carlo Yvon, Antonio Pasculli, Léon Goossens, Evelyn Rothwell oder Heinz Holliger auch der Name Gustave Vogt (1781–1870) nicht fehlen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildete er während knapp 50 Jahren zwei Generationen von Spielerinnen und Spielern aus und prägte die Pariser Oboenschule fundamental. Von einem dreisätzigen Konzert für Englischhorn und Orchester ist nur der 2. Satz im Original überliefert. In einer transponierten Version erscheint dieselbe Musik in seinem 2. Oboenkonzert, was den Oboisten und Herausgeber Michel Rosset darauf gebracht hat, nun analog auch den 1. und 3. Satz für das Englischhorn zu übertragen. Seine verdienstvolle Rekonstruktion überzeugt in hohem Masse.
Die drei direkt aneinander anschliessenden Sätze folgen einem romantischen Gestus, und der opernhafte Ton erinnert gelegentlich an die knapp 20 Jahre ältere Scène für Englischhorn und Orchester von Antoine Reicha. Die hohe Virtuosität liegt gut in der Hand, die gesanglichen Passagen sind immer fein und reichhaltig ausgeziert, und auch formal überzeugt die gut viertelstündige Komposition aufs Schönste.
Beim selben Verlag ist erstmals Domenico Cimarosas originelles C-Dur-Konzert erschienen. Es entstand 1781, also 3 Jahre nach Mozarts berühmtem Beitrag zu dieser Gattung. Wiewohl es durchaus Anklänge an das grosse Vorbild gibt, sind die beiden Konzerte nicht vergleichbar. Cimarosa komponiert viel knapper – er schafft es beispielsweise im 3. Satz in gerade einmal 2 Minuten ein veritables Rondo zu schreiben – und verbindet die Sätze mit «Attacca»-Vorschriften. Das Herzstück des Konzerts ist ein gesangliches Andante sostenuto in a-Moll: Hier beweist sich Cimarosa als inspirierter Opernkomponist.
Ein ganz neues Konzert hat Pēteris Vasks‘ soeben veröffentlicht. Sein Englischhornkonzert (1989) hat bereits grosse Beliebtheit erlangt, vermutlich wegen der unverholenen stilistischen Nähe zu Jean Sibelius‘ Schwan von Tuonela. Auch sein nun (als Klavierauszug mit Solostimme) erschienenes Oboenkonzert wird vermutlich den Weg in die Konzertsäle finden, da seine einfach gehaltene modale Tonsprache dem Musikgeschmack der Abonnementspublika entgegenkommt. Zwei melodische Pastoralsätze (Morgen- und Abendpastorale) umrahmen einen lebendigen Mittelsatz, in dem sich verschiedene Tänze und ein Arioso ein Stelldichein geben und eine ausführliche Solokadenz umrahmen. Der spröde Klavierauszug dürfte für eine Aufführung nicht befriedigen, sondern dient lediglich als Vorbereitung für eine Einstudierung mit Orchester.
Gustave Vogt: Solo de Concert pour le Cor anglais, für Englischhorn und grosses Orchester, Erstausgabe und Rekonstruktion von Michel Rosset; Partitur: EW 1216, € 32.50; Klavierauszug: EW 1208, € 18.50; Edition Walhall, Magdeburg
Domenico Cimarosa: Konzert C-Dur für Solo-Oboe, 2 Hörner, 2 Violinen, Viola und Basso, Erstausgabe von Sandro Caldini; Partitur: EW 1200, € 23.50; Klavierauszug: EW 1194, € 14.90; Edition Walhall, Magdeburg
Pēteris Vasks: Konzert für Oboe und Orchester, Klavierauszug von Claus-Dieter Ludwig, ED 23365, Druckausgabe € 32.00, Schott, Mainz
Gesang im 20. und 21. Jahrhundert
Im Handbuch «Stimmen – Körper – Medien» stehen die Anforderungen aktueller Musikstile an die Stimme und pädagogische Aspekte im Zentrum.
Ein Foto der legendären Nelly Melba bei einer Radioaufnahme 1920 ziert als Titelbild den zweiten Band des «Handbuchs des Gesangs» aus dem Laaber-Verlag. Dieses Foto hält einen grossen und entscheidenden Moment fest, der der Entwicklung der Gesangskunst und ihrer Rezeptionsgeschichte eine neue Bahn öffnete.
Einer der Herausgeber dieses Buches, Thomas Seedorf, legte erst 2019 ein Handbuch der Aufführungspraxis Sologesang vor, das eine Fülle von Informationen für das Singen Alter und Neuer Musik enthält (Bärenreiter). Es widmet sich der Vokalpraxis von 1600 bis zur Gegenwart, Stimmtypen, Gesangsästhetik, Ornamentik und Deklamation, setzt aber seine Schwerpunkte im 17., 18. und 19. Jahrhundert. Die Entwicklungen des 20. und 21. Jahrhunderts werden eher am Rand mit einem Kapitel über Neue Musik und moderne Notation gestreift.
So schliesst das neue Handbuch mit dem Titel Stimmen – Körper – Medien, Gesang im 20. und 21. Jahrhundert inhaltlich an die bereits vorliegende Arbeit an. Es öffnet einen neuen Blickwinkel auf Stimme und Körper auf der Bühne, und zwar in Song und Chanson des populären Musiktheaters wie auch auf der Opernbühne, widmet sich dem Singen als kultureller Praxis, dem Chorgesang als globalem Phänomen. Nicht mehr wegzudenken ist die Auseinandersetzung mit modernen Medien, mit Transformationen der Gesangsstimme durch Tonträger, Studiotechnik und Digitalisierung. Die Ästhetik populären Gesangs im 20. und 21. Jahrhundert stellt andere und neue Anforderungen an eine Gesangsstimme, wo Sprechen, Rufen und Schreien in Pop- und Jazzgesang nicht nur erlaubt sind, sondern dem vokalen Ausdruck von Gefühlen dienen, wo ihre Mitspieler Mikrofone und Toningenieure sind.
Ein grosses Kapitel widmet sich den Fragen der Pädagogik und Therapie. Nie war die Vielfalt von Klangästhetik und stilistischer Erweiterung grösser als heute. Man denke an Pop, Rock, Soul, Jazz und Musicalgesang, an Tango und Indie -Gruppen, an Obertonsingen und Jodel, an experimentelle Geräuschhaftigkeit und Klangkreationen der Neuen Musik – neben dem Ideal des klassischen Gesangs, der offensichtlich nichts an Attraktivität eingebüsst hat; man schaue sich die Anmeldezahlen an den Hochschulen an …
Das Kaleidoskop stimmlicher Vielfalt spiegelt sich in einem äusserst pluralistischen Angebot von Gesangsunterricht, das im Buch thematisiert wird, reichend von chorischer Stimmbildung über funktionale Stimmarbeit, über verschiedenste Pop-Gesangsschulen und sogenannter Belcantotechnik hin zu Stimmarbeit verbunden mit Körper- und Atemschulung. Methodenvielfalt wird zu einem attraktiven Qualitätsmerkmal gesangstechnischer Unterweisung, Vernetzung statt Abgrenzung heisst das Zauberwort.
Das Handbuch endet philosophisch: Macht Singen glücklich? «Ja», lautet die Antwort! Die Frage ist, warum… Weshalb wirkt das Tönen, das Erschallenlassen der eigenen Stimme, das ungehinderte Sich-Entfalten derselben, euphorisierend?
Stimmen – Körper – Medien: Gesang im 20. und 21. Jahrhundert, hg. von Nils Grosch und Thomas Seedorf, (= Handbuch des Gesangs 2), 396 S., € 98.00, Laaber, Lilienthal 2021, ISBN 978-3-89007-906-6
Frisch von der Leber weg
Auf dem zweiten Album «Inner Smile» bleibt die Zürcher Band Annie Taylor ihrem spritzigen Rock treu, serviert ihn aber variationsreicher.
Hanspeter Künzler
- 09. Sep. 2023
Annie Taylor. Foto: Fabio Martin
Schweizer Bands haben sich traditionellerweise schwergetan damit, draufloszurocken und dabei nebst mitreissender Dynamik auch noch knackige Ohrwürmer zu produzieren. Das Zürcher Quartett Annie Taylor – benamst nach der 63-jährigen Lehrerin, die 1901 als erste in einem Fass die Niagara-Fälle hinunterstürzte und das Abenteuer überlebte – hat keine Probleme dieser Art. Von der instrumentellen Expertise her könnten Gini Jungi (Gesang, Gitarre), Tobias Arn (Gitarre), Michael Mutter (Bass) und der unlängst von den Winterthurer Post-Krautrockern Klaus Johann Grobe dazugestossene Drummer Daniel Bachmann bestimmt auch virtuosen Neo-Progressive-Rock kredenzen. Gottseidank wollen sie dies nicht. Vielmehr sind sie auch auf ihrem zweiten Album der organischen Melange aus Post-Grunge-, Garage- und Pop-Rock treu geblieben, die ihr Debut vor drei Jahren so spritzig machte. Sweet Mortality kratzte damals an den Schweizer Album-Charts und trug der Band eine lange Reihe von nationalen und internationalen Festivalauftritten ein. Das auf diese Weise gewonnene Selbstvertrauen schwitzt aus jeder Rille von Inner Smile.
Für die Aufnahmen verlegte man sich nach Bristol, wo man die Tage im Studio von Produzent Ali Chant verbrachte, der sich auch schon mit PJ Harvey, Yard Act, Katy J Pearson (eine Favoritin von Jungi) und Aldous Harding beschäftigt hat. Nachts zog man sich in die Villa zurück und feilte an den Einfällen der vergangenen Stunden. Der Sound ist dabei deutlich vielseitiger geworden. Ausgelassen rumpelnden Pop-Punk-Nummern (Schoolgirl) stehen eingängige Songs gegenüber, in denen die von den Pixies erschlossene Laut/Leise-Dynamik gekonnte Anwendung findet (Push Me). Ride High ist sozusagen kalifornischer «Sunshine-Pop», selbst Fucking Upset findet Platz für ein paar nachdenkliche Momente, und Sister lebt nicht zuletzt vom gloriosen Bassriff. Dabei beherrscht die begnadete Sängerin, Songschreiberin und Frontfrau Jungi das Geschehen souverän. Fazit: eine grandiose Live-Band, mit Geschick auf Vinyl konserviert.
Annie Taylor: Inner Smile. Taxi Gauche Records TGR 037 (Vinyl)
Pianistischer Einstieg in die Ländlermusik
Zwei Notenhefte für Klavier erschliessen Grundlagen der Schweizer Volksmusik auf unterhaltsame Art.
Dieter Ringli
- 08. Sep. 2023
Marion Suter. Foto: zVg
Kinder reagieren oft erstaunlich positiv auf Ländlermusik. Umso bedauerlicher ist es, dass kaum Anfängerliteratur für den Unterricht vorhanden ist. Diesem Umstand will der Müliradverlag in Altdorf abhelfen mit einer neuen Reihe, die mit zwei Heften eröffnet wird. Marion Suter und Claudio Gmür, zwei Koryphäen des Ländlerklaviers aus zwei verschiedenen Generationen – Suter war lange Zeit Schülerin von Gmür –, legen je ein Heft mit 16 einfachen Tanzstücken vor. Bei Suter sind es Eigenkompositionen, bei Gmür hälftig eigene Stücke und Bearbeitungen von Klassikern des Genres.
Die Stücke sind leicht und vergnüglich zu spielen und vermitteln gleichzeitig auch die formalen und harmonischen Grundlagen der Schweizer Volkstanzmusik. Die Neukompositionen folgen den traditionellen Mustern und Abläufen und sind doch originell und witzig. Es ist deutlich erkennbar, dass der Autor und die Autorin bestens vertraut sind mit der Materie. Die wichtigsten Formen – Ländler, Walzer, Polka, Schottisch sowie bei Suter eine Mazurka und bei Gmür ein Ländlerfox – werden in einfacher Art exemplarisch vermittelt.
Wem das zu simpel ist, der kann sich auf der Grundlage der beiden Hefte an die Variations- und Verzierungspraxis der Ländlermusik heranwagen und ganz im Sinn der alten Tradition die Stücke nach eigenem Gusto verändern und erweitern. So sind die Hefte nicht nur für Anfänger*innen, sondern auch für versiertere Interessierte aus anderen Sparten ein lohnender Einstieg in die Schweizer Volksmusik.
Schweizer Ländlermusik für Klavier,
Vol. 1: 16 neue Kompositionen von Marion Suter, Nr.1211;
Vol. 2: Eine Tasten-Bike-Tour, 16 neue und traditionelle Tänze komponiert und bearbeitet von Claudio Gmür, Nr. 1212;
je Fr. 25.00, Mülirad, Altdorf 2021
Musiklernen mit Techniken aus dem Sport
In Bestform beim Üben! Das «Methoden-Navi» überträgt sportliche Praktiken und Begriffe auf das instrumentale Üben.
Walter Amadeus Ammann
- 07. Sep. 2023
Musik ist nicht Sport, aber gewisse Techniken aus dem Training können das Üben beflügeln. Foto: Paha_L/depositphotos.com
Wer wie eine Trainerin, ein Trainer Musik unterrichtet, hat Erfolg. Das will nicht heissen, dass Musik Sport ist, aber in Ulrich Menkes Methoden-Navi verhelfen sportmedizinische und sportpsychologische Aspekte zu rascheren positiven Resultaten. Der Begriff des Übens wird ergänzt durch den Begriff des Trainings. Durch die abwechselnde Verwendung aller Sinne läuft das Gehirn zu wahrer Form auf: Kurzweil lässt die «Übzeit» vergessen und führt zum Flow. Die Lehrperson geht mehr mit Fragen als mit Kritik auf die Schülerinnen und Schüler ein und hilft so zu selbständigerer Arbeitskompetenz.
In 18 Kapiteln illustriert mit instruktiven Notenbeispielen aus der Violinliteratur erhält man eine breite Palette von Aufträgen, um die Schwierigkeiten aufzufächern. Hier eine Auswahl:
1. Warm-up, begonnen beim Körper: Haltung, Muskel- und Fingerspitzengefühl, Selbstbeobachtung im Spiegel.
2. Dank Slow Motion ein neues Stück von Anfang an fehlerlos trainieren; erst vorstellen, dann spielen.
3. Looping: In schwierige Sequenzen Atempausen einbauen und die Sequenzteile wiederholen; grosse Sprünge vereinfachen als Tonschaukel und diese hören und fühlen; bei Doppelgriffen den Führungsfinger bestimmen, dessen Weg am leichtesten auszuführen und zu merken ist; Fehlerauslöser isolieren und mit Loop festigen.
4. Time-out: Schnelle Passagen mit punktierten Rhythmen oder Tonwiederholungen verlängern.
5. Supervision: Sich selber beim Spiel reihum mit verschiedenen Sinnen beobachten.
7. Rhythm is it! Rhythmisch schwierige Passage zuerst nur auf einem Ton oder auf einer Skala spielen; Saitenwechsel-Bewegung des Bogens einer mehrsaitigen Stelle zuerst auf den leeren Saiten spielen; bei gebundenen Passagen die optimale Bogenhandkurve suchen.
8. Akzente setzen: In eine gleichmässig ablaufende Passage z. B. in Sechzehntel-Vierergruppen Akzente auf die zweite und in den Wiederholungen auf die dritte und vierte Gruppen-Note setzen oder sogar auf jede dritte Note (gegen das Metrum) der Passage. So kommt jeder Ton einmal in den Fokus.
9. Selbst-Coaching: Du schaust wie ein Reporter auf das Spiel deiner «inneren Mannschaft» und beurteilst, was zu verbessern ist. Fokus auf einen Finger, der zu schwach, auf einen Ton, der nicht ausdrucksvoll ist, einen Lagenwechsel, der zu spät geschieht; «Blick auf die szenische Anlage von Spielsituationen».
10. Auswärtsspiel. Sicherheit erwerben: Passage auf anderen Saiten, in anderen Lagen, im Gehen, im Ensemble Rücken an Rücken spielen.
11. Mischpult. Ausprobieren von verschiedenen dynamischen Varianten einer Stelle (Suche mit Crescendo und Decrescendo nach der richtigen Betonung) führt zu bewussterem Verständnis der Komposition.
12. Happy End. Wenn man auf einem Problemton eine Fermate setzt und ihn bewusster erlebt, verliert er den Aspekt der «Angststelle».
13. Call – Recall: Singen einer Stelle – mit Spielen wiederholen. Call – Response: Singen einer musikalischen Frage – Spielen der Antwort. So wird schneller klar, wie eine Passage musikalisch zu gestalten ist.
Schlussendlich 18. Auftritt! Hier wird erklärt, wie Lampenfieber, Angst vor Versagen vermieden, aber auch musischer Fluss gefördert werden kann.
In einem abschliessenden Erläuterungsteil wird die Bedeutung der Achtsamkeit, des geschickten Coachings, des mentalen Trainings, eines neuen Verhältnisses zwischen Lehrenden und Lernenden und des Trainingsplatzes als Wohlfühlort ausführlich erläutert. Insgesamt ein wertvolles Ideen-Schatzkästchen!
Ulrich Menke: Das Methoden-Navi, Routenplaner zu einem erfolgreichen Instrumental- und Ensembleunterricht, 192 S., € 22.95, Schott, Mainz 2023, ISBN 978-3-7957-3092-5
Klingende Nebenwege durchs Gebüsch
Das Festival Rümlingen fand diesmal im Tessin statt. Vom 28. Juli bis 1. August schmiegte sich Neue Musik für ein kleines Publikum in die südliche Landschaft.
Max Nyffeler
- 08. Aug. 2023
Nunzia Tirelli in der Installation «Grazien» von Lukas Berchtold. Foto: Max Nyffeler
Rümlingen war Ende Juli wieder auf Wanderschaft. Nach dem Unterengadin 2019 und dem Appenzell 2021 erkundete das Festival nun einen besonders attraktiven Teil des Tessins. Ausgangspunkt war das einstige Aussteigerparadies Monte Verità oberhalb von Ascona. Danach ging es mit einer Wanderung ins kleine Arkadien der Deutschschweizer Kulturbürger, das Valle Onsernone, und per Schiff auf die subtropischen Brissago-Inseln, immer mit sorgsam an die Landschaft angepassten Kompositionen, Klanginstallationen und sonstigen akustischen Darbietungen im Gepäck – mal als durchstrukturiertes Konzert, mal in Wundertütenmanier zur tönenden Erquickung des Wanderpublikums.
Der seit 1990 bestehende Verein Neue Musik Rümlingen geht mit seinen sommerlichen Festivals konsequent einen Nebenweg durchs Gebüsch, das den avantgardistischen Mainstream säumt. Die Handvoll Medienleute, Komponisten und Musikvermittler aus Deutschland und der Schweiz ist in beiden Ländern musikalisch gut vernetzt und kann auch auf das Interesse freundlicher Sponsoren bauen. Eine geschickte institutionelle Kooperation ermöglicht es, die Kosten niedrig zu halten. Lokale Partner im Tessin waren nun die Associazione Olocene (benannt nach der von Max Frisch im Onsernonetal geschriebenen Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän) und das Teatro del Tempo. Der Komponist und Festivalgründer Daniel Ott verfügt als echter Eidgenosse zudem über gute landeskundliche Kenntnisse und ein Gespür für das Randständige.
Das Tessin, Ende der Welt?
«Finisterre», Ende der Welt, lautete das assoziationsreiche Motto der fünftägigen Veranstaltung. Als Ausdruck einer romantischen Natursehnsucht machte das durchaus Sinn, und zum abgelegenen, von Abwanderung gezeichneten Onsernone passte das auch. Doch die Wahrnehmungsgrenze, das «Weltende», fällt bekanntlich immer mit dem eigenen Horizont zusammen. Und dieser reichte nun offenbar gerade noch bis zum Lago Maggiore. Die Touristenhotspots Ascona und Brissago und überhaupt das industrialisierte Tessin mit seinen täglich über achtzigtausend italienischen Pendlern mit der Idee eines Endes der Welt in Verbindung zu bringen, ist dann doch etwas naiv. Im Programmbuch unternahmen die Veranstalter allerlei weltanschauliche Klimmzüge, offenbar inspiriert durch den Genius Loci des Monte Verità. Wolkige Spekulation über andere Wirklichkeiten verband sich mit touristischen Sehnsüchten aus nordischer Sicht und einem Hauch von kulturellem Kolonialismus nach dem Motto «Jetzt exportieren wir unsere Avantgarde in den musikalisch brachliegenden Süden».
Abgesehen von solchen konzeptionellen Widersprüchen war das Unternehmen durchaus ein Erfolg. Alle waren zufrieden, die angereisten Künstler, die Veranstalter, das Publikum. Dieses bestand aus einer Schar treuer Festivalanhänger, die ein paar Tage Erlebnisferien machten, neugierigen Tagestouristen und ein paar Betriebsprofis; Einheimische waren wenige vertreten. Man war eine grosse Familie, überliess sich der Magie der Landschaft und folgte neugierig den darin platzierten Klangaktionen. Ohne Eigenleistung ging das freilich nicht ab. Für den Onsernone-Tag waren zum Beispiel drei Stunden Wanderung eingeplant, und wer nicht gut zu Fuss war, musste eben passen. Dank dem gesicherten Finanzpolster kann sich das Festival den Luxus kleiner Teilnehmerzahlen erlauben. Das Konzert auf der Brissago-Insel unterstand dem Numerus clausus, bedingt durch die geringe Passagierzahl auf dem Schiff.
Brennpunkt Monte Verità
«Rümlingen» ist ein Erlebnisfestival, es geht weniger um die künstlerische Exzellenz des Gebotenen als vielmehr um dessen unkonventionelle Wahrnehmung und auch um eine intensivere Selbstwahrnehmung. So bei der Gruppe Trickster-p, die keine Klänge, sondern nur Losröllchen anbot, in denen zum Beispiel die Aufforderung stand: «Wähle einen Ton, den du in deinem Kopf spielst. Spiele ihn mit der folgenden Begleitung: Wald im Frühling um 5.00 Uhr morgens.» Der konzeptualistische Gag war Teil des Eröffnungstags auf dem Monte Verità. Ein ähnliches Stummfilmerlebnis gewährte die Installation Grazien von Lukas Berchtold, in der eine Tänzerin zu sanft sich aus der Höhe entrollenden Papiergirlanden ihre Kreise zog.
Eine Intervention mit kulturkritischer Pointe gab es im Elisarium zu sehen. Die Innenseite dieses tempelähnlichen Rundbaus ist rundum mit nackten Buben bevölkert, die der baltische Adlige Elisar von Kupffer in den 1930er-Jahren in paradiesischer Pose auf die Wand pinselte. Der Norweger Trond Reinholdtsen – ein begnadeter Ironiker, der 2014 in Darmstadt mit dem schönen Ausspruch «O alte kranke Europa, ich liebe dich!» auffiel – setzte zu dieser leicht abgestandenen Homoerotik einen knalligen Kontrapunkt mit einem Video, in dem er seine hinlänglich bekannten, grellfarbenen Trolle herumkriechen lässt und dazu fröhlichen pseudophilosophischen Nonsense deklamiert.
Der Wald winkt den Lauschenden
In dem weitläufig-hügeligen Gelände konnte man einen Tag lang Unbekanntes, Überraschendes und manchmal auch ziemlich Beiläufiges erwandern. Auf dem Walkürefelsen – eine Bezeichnung der Monte Verità-Gründer – beschallte eine Sängerin, unterstützt von Elektronik, die Umgebung mit einem Laurie-Anderson-Verschnitt. Irgendwo im Gebüsch stand ein einsames Vibrafon, auf dem Notenständer «Der kranke Mond» aus Schönbergs Pierrot lunaire.
Vokalperformance auf dem Walkürefelsen mit Stephanie Pan. Foto: Max Nyffeler
In einer Waldlichtung standen einige Liegestühle herum, auf denen die Spaziergänger sich niederlassen konnten. Dann kam zu einer bestimmten Uhrzeit plötzlich Leben in die Szene. Studierende des Conservatorio Lugano stellten sich mit ihren Instrumenten hinter die entspannt Liegenden und verpassten ihnen mit leisen Tönen und Geräuschen eine sanfte Klangmassage. Und wenn dann auf heimliches Kommando die Zweige der umstehenden Bäume zu schaukeln begannen und dazu noch ein fernes Glockengeläut erklang, war es, als winke der verwunschene Wald den Menschen friedlich zu. Die von Manos Tsangaris im Timing genau ausgedachte, feinsinnige Klangsituation gehörte zum Besten an diesem Tag.