Klingende Tafel

Im Gegensatz zu anderen Kompositionen Bibers ist diese Kammermusik einfach und in der vorliegenden Ausgabe für zwei verschiedene Besetzungen eingerichtet.

Heinrich Ignaz Franz Biber, Kupferstich oder Radierung von Paul Seel, 1680. Digitaler Portraitindex

1680 schrieb Heinrich Ignaz Franz Biber (1644–1704) sechs Suiten als Tafelmusik für seinen Brotherrn, den Fürsterzbischof Maximilian Gandolf von Kuenburg in Salzburg. Sie sind bewusst nicht zu schwierig, in klaren Formen und verzichten auf virtuose «Showeffekte» – im Gegensatzt zu den meisten von Bibers Instrumentalwerken.

Die vorliegenden zwei ersten Partiten sind vom Herausgeber mit heutigen Notenschlüsseln und Taktangaben versehen. In der Partita I umschliesst eine Largo-Sonata die Tanzsätze Allemanda, Courante, Sarabanda, Gavotte und Gigue. In der Partita II eröffnet eine Intrada drei Balletti im Alla-Breve-Takt, die von zwei ruhigen Sarabanden getrennt sind. Da die erste Viola nie die C-Saite beansprucht, gibt es dafür eine zusätzliche zweite Violinstimme, also könnten diese Suiten gut mit einem Streichquartett (-orchester) und Continuo gespielt werden.

Heinrich Ignaz Franz Biber: Mensa Sonora, Partiten I und II, für Violine, 2 Violen (2 Violinen, Viola) und Basso continuo, hg. von Markus Eberhardt, EW 1051, € 19.80, Walhall, Magdeburg

 

 

Erfreuliche Entdeckung für Klaviertrio

Die Pianistin Katharina Sellheim hat die Klaviertrios von Emilie Mayer, unter anderem das grosse Es-Dur-Trio, nicht nur eingespielt, sondern auch erstmals herausgegeben.

Emilie Mayer. Lithographie Eduard Meyer nach einer Zeichnung von Pauline Suhrlandt um 1900. Wikimedia commons

Emilie Mayer (1812–1883) war eine erfolgreiche Komponistin in ihrer Zeit. Sie lebte in Mecklenburg und Berlin. Zu ihrem Werk gehören Sinfonien, Konzertouvertüren, ein Singspiel, vierstimmige Chorstücke, Klavier- und Kammermusik. Trotz Aufführungen in zahlreichen europäischen Metropolen des 19. Jahrhunderts blieben die meisten ihrer Kompositionen ungedruckt.

Die Pianistin Katharina Sellheim stiess auf die unveröffentlichten Manuskripte der vier Klaviertrios und spielte drei davon mit ihrem Klaviertrio Hannover auf CD ein (Missing Link: Emilie Mayer, Genuin 22790). Jetzt betreut sie, assistiert von den Mitgliedern ihres Ensembles, die Herausgabe beim Furore-Verlag Kassel.

Ihr Einsatz lohnt sich: Emilie Mayers Klaviertrios strahlen Frische und Lebensmut aus; die Komponistin beherrschte ihr Handwerk. Stilistisch liegt diese Musik zwischen Beethoven und Mendelssohn. Wer, spielend oder hörend, abseits der Hauptsäulen des Repertoires und der «grossen» Meister auf Schatzsuche geht, wird mit dem Klaviertrio Es-Dur eine erfreuliche Entdeckung machen. Werke von Komponistinnen des 19. Jahrhunderts sind zudem selten in Konzertprogrammen anzutreffen. Zu Unrecht, wie Emilie Mayer uns hier zeigt!

Spieltechnisch ist dieses Klaviertrio auch für erfahrene Amateure erreichbar. Es liegt im Schwierigkeitsgrad unter den Werken von Beethoven und Schubert. Alle Instrumente, vor allem auch das Violoncello, können sich schön entfalten.

Emilie Mayer: Klaviertrio Es-Dur, für Violine, Violoncello und Klavier, hg. von Katharina Sellheim, Partitur und Stimmen, fue 10346, € 69.00, Furore, Kassel

Alte Schwyzer Tanzmusik

Die Geigentänze im Tanzbuch von Anton Hotz bieten zugleich Spielvergnügen und Einblick in die Entwicklung der Tanzmusik in der Schweiz.

Tanzpaar aus dem Kanton Schwyz, 1809, Druckgrafik von Franz Niklaus König. Schweizerische Nationalbibliothek, GS-GUGE-KÖNIG-12-8

Im Müliradverlag ist ein weiteres interessantes Notenheft erschienen für Geige oder andere Melodieinstrumente. Es überliefert Volkstanzmusik aus dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts und bietet damit Einblick in die Frühzeit der Paartanzmusik; die bisher bekannten Sammlungen stammen fast alle aus späteren Jahrzehnten.

Das Heft umfasst hundert Tänze, die meisten davon im Dreivierteltakt. Die Entdeckung der Sammlung ist der Herausgeberin Brigitte Bachmann-Geiser zu verdanken. Über den ursprünglichen Besitzer Anton Hotz ist nichts bekannt, Bachmann lokalisiert die Tänze aber aufgrund ihrer immensen Kenntnis der Quellen glaubhaft in der Gegend Höfe/March im Kanton Schwyz.

Co-Herausgeber Christoph Greuter hat die Tänze transkribiert und mit Akkordangaben versehen, die für die Begleitung von grossem Nutzen sind. Man merkt, dass Greuter ein hervorragender Kenner der Materie ist. Die Tänze sind praxisorientiert aufgeschrieben, ohne Verzierungen und ohne ersten und zweiten Schluss bei den Wiederholungen. Es war in der Zeit dem Gusto der Spielenden überlassen, die Stücke ansprechend zu gestalten. Die Noten waren bloss Vorlage oder Erinnerungshilfe für die individuelle Ausführung.

Die Stücke sind attraktiv zu spielen, weil die Tonsprache der frühen Tänze deutlich abweicht von denen um die Wende zum 20 Jahrhundert. Zum Teil sind noch modale Einflüsse vorhanden, die später der Kadenzharmonik weichen. Das Heft bietet aber auch historisch interessante Aufschlüsse: Die Hälfte der Tänze ist noch zweiteilig, die andere Hälfte bereits dreiteilig. Die Bezeichnung «Ländler» taucht bei einigen Tänzen auf und ist somit der früheste Beleg für die Verwendung des Begriffs in der Schweiz, andere werden als «Walz» oder «Walzer», manche auch als «Langus» bezeichnet. Die wenigen Zweiviertel-Tänze sind mit «Allemander» oder «Allimand» überschrieben; «Polka», «Galopp» oder «Schottisch» tauchen hingegen noch nicht auf.

Das mit aufschlussreichen Angaben zur Herkunft und Edition ergänzte Heft ist also nicht bloss ein Spielvergnügen, sondern auch eine ergiebige Quelle für die Entwicklung der Tanzmusik in der Schweiz.

Alte Schwyzer Geigentänze – Das Tanzbuch von Anton Hotz, Höfe/March um 1830, hg. von Christoph Greuter und Brigitte Bachmann-Geiser, Mülirad-Nr. 1069, Fr. 38.00, Mülirad, Altdorf

Blattlesen

Das Heft «Blattspieltraining von Anfang an» hat die musikalische Selbständigkeit zum Ziel. Dem aktiven Hören kommt dabei grosse Bedeutung zu.

Foto: saquizeta/depositphotos.com

In der Reihe «Tastenforscher» ist im Holzschuhverlag eine weitere wertvolle Publikation erschienen. Guido Klaus weiss als Korrepetitor und Kapellmeister um die Bedeutung der Fähigkeit, vom Blatt zu spielen. Als Pädagoge setzt er sich dafür ein, dass das Blattspiel von Anfang an mit einbezogen wird, um das Spiel nach Ohr und das Lernen durch Nachahmung zu unterstützen. Dabei verfolgt er das Ziel, die Lernenden zu einer oft fehlenden musikalischen Selbständigkeit hinzuführen.

Das Heft ist klar strukturiert und in der Progression geschickt aufgebaut. Mir gefällt, dass Klaus zuerst den grossen Noten-Tasten-Überblick gibt und mit den Noten C und G gleich die ganze Tastatur mit Leseübungen ohne festen Puls erkunden lässt. Das Erkennen von kleinen Tongruppen in Kombination mit dem fliessenden Vorauslesen des nächsten Anfangstones soll das zusammenfassende Lesen als Grundfertigkeit fördern. Ergänzend dazu gibt es Abschnitte mit blossem Rhythmustraining, bevor dann Tonhöhe und Rhythmus in kleinen einstimmigen, später zweistimmigen Melodien zusammengefügt werden.

Eine weitere Basiskompetenz für flüssiges Lesen ist das Erkennen und Greifen von einzelnen Intervallbildern und Dreiklängen. Dazu gibt es zahlreiche Übungsbeispiele und Notenrätsel. Nach der theoretischen Einführung der Versetzungszeichen sollen sie in Tonleitern nach Gehör gesetzt werden. Die Bedeutung des aktiven Hörens für das Blattlesen kann nicht genug betont werden.

Dieses Heft wendet sich wohl eher an ältere Kinder und Jugendliche und eignet sich auch im Unterricht bestens als Eröffnung, als Rhythmisierung oder für «faule Wochen», in denen nicht genug geübt werden konnte.

Guido Klaus: Tastenforscher, Blattspieltraining von Anfang an, VHR 3418, € 14.80. Holzschuh, Manching

 

 

Allein mit Bach in romanischen Kirchen

Bernhard Maurer hat Bachs Cellosuiten in Kirchen rund um Thun in Ton und Bild aufgenommen und die Filme online gestellt: Helle und dunkle Klänge in hellen und dunkleren Räumen.

Bernhard Maurer spielt in der Kirche Blumenstein. Videostill

Es gibt kaum eine andere Musik, aus der so schwer Musik zu machen ist. Johann Sebastian Bachs Cellosuiten sind eine Herausforderung – und nicht wenige sind daran schon gescheitert. Viele Aufnahmen der Suiten klingen spröde, ohne Bögen, durchbuchstabiert von Ton zu Ton. Bernhard Maurer erhöht das Risiko, indem er alle sechs Suiten live einspielt. Dies nicht im Studio, sondern in mittelalterlichen Kirchen rund um Thun. «Immer wenn ich die Gelegenheit hatte, eine Bachsuite in einer romanischen Kirche zu spielen, schien es mir, dass hier der ideale Raum für diese Musik ist, auch wenn die Musik ein halbes Jahrtausend nach dem Bauwerk entstanden ist», begründet Maurer. Und so sind keine Tondokumente entstanden, sondern sechs Filme in hellen und dunkleren Kirchenräumen, die über die Website bachsuiten.ch als Youtube-Link abgerufen werden können.

Da wäre die Aufnahme der sechsten Cellosuite in der Kirche Blumenstein. Vor leeren Rängen spielt Maurer auf einem fünfsaitigen Violoncello Piccolo, 2012 erbaut von Stephan Schürch nach einem Vorbild von Nicolò Amati. Nicht so domestiziert wie das moderne Cello klingt das Instrument barocker Provenienz, dafür aber heller, vielleicht auch ehrlicher. Maurer spielt nicht nur traumwandlerisch sicher, sondern auch mit klarem, vibratoarmem Ton und einem ausgesprochenen Sinn für Klangfarben und Dynamik. Die intime Anlage, das Alleinsein in der Kirche, unterstreicht den privaten Charakter der Suiten. Verschiedene Kameraeinstellungen zeigen mal das virtuose Fingerspiel der linken Greifhand, mal den Bogen in Grossaufnahme, auch die farbigen Kirchenfenster oder die Totale mit Maurer im Mittelpunkt der Kirche. Jene bachsche Konzentration aufs Wesentliche hätte den Filmen gutgetan; manchmal wirken die Perspektivwechsel unnötig hektisch und nehmen der Musik die Ruhe.

Dunkler, auch klanglich gewohnter klingt die dritte Suite, filmisch eingefangen in der kargen Schlosskirche Spiez. Hier spielt Bernhard Maurer auf einem gebräuchlicheren Barockcello aus der Schule von Giovanni Battista Maggini. Wieder ist zu spüren, dass sich Maurer jahrzehntelang mit den Suiten beschäftigt hat. Da gibt es keinerlei Intonationsunsicherheiten, die Tempi wirken natürlich, keine Gigue, die andere schon mal zum oberflächlichen Virtuosenstück machen.

Also: Es lohnt sich, die Website zu besuchen, die nebst den Links auch gute Hintergrundinformationen bietet. Ganz furchtbar sind natürlich die bei Youtube üblichen Werbeunterbrechungen – vielleicht kann man da mal was tun und die Filme direkt auf der Seite verlinken? Gerade diese sensiblen Werke können nun wirklich keinen schreienden Kommerz gebrauchen.

bachsuiten.ch

Ein musikalischer Vulkan

Danuta Gwizdalanka hat den Lebensweg der Pianistin und Komponistin Maria Szymanowska nachgezeichnet.

Maria Szymanowska, Zeichnung von unbekannter Hand. Wikimedia commons

Goethe – soviel musikalische Autorität sei ihm hier eingeräumt – war von ihrem Spiel ergriffen, aber auch von ihrer Ausstrahlung und schrieb ihr ein Gedicht ins Stammbuch, das mit den Worten endet: «Da fühlte sich – o dass es ewig bliebe! – /das Doppelglück der Töne wie der Liebe.» Die Begegnung mit der polnischen Pianistin Maria Szymanowska hatte ihn tief bewegt: «Das Talent würde einen erdrücken, wenn es ihre Anmuth nicht verzeilich machte.» [sic] Das war 1823 in Marienbad, und naturgemäss vernimmt man in solchen Äusserungen heute all die Untertöne damaligen Genderverständnisses. Eine Künstlerin, die sich so frei in der Welt bewegte, erstaunte (man könnte ihr allenfalls Hélène de Montgéroult zur Seite stellen), und das führte denn zu Beschreibungen wie dem «weiblichen Vulcan» und der «Königin der Töne».

Die polnische Musikwissenschaftlerin Danuta Gwizdalanka, die mit ihrem Mann, dem Komponisten Krzysztof Meyer, eine Biografie über Witold Lutosławski veröffentlicht hat, ist eine profunde Kennerin der polnischen Musik, und sie nähert sich Szymanowska in ihrem Porträt ebenso bewundernd wie behutsam und unaufgeregt. Sie stellt ihre Werke mit kritischem Blick vor und verweist auf Einzelheiten. Entstanden ist aber weder ein musikologisches Buch noch eine sentimentale Lebensbeschreibung. Als eine «bezaubernde, aufgeklärte und pragmatische Frau» wird Szymanowska geschildert. Allzu früh ist sie mit 41 Jahren gestorben, an der Cholera, einem Hirnschlag oder an der Übermüdung, vielleicht an allem zusammen.

Gwizdalanka erzählt diese Biografie aus den Zeugnissen und Details eines reichen gelebten Lebens. Szymanowska, die sich früh von ihrem Gatten trennte, war eigen- und selbständig, reiste viel, wurde in ganz Europa gefeiert. Wie es ihr dabei erging, aber auch, wie sie dabei den Alltag meisterte, begleitet oft von Geschwistern und Kindern, gibt einen tiefen Einblick in die Lebensweise. Das Buch schliesst eine gravierende Lücke, was die damals durchaus vorhandene, aber leider nicht anhaltende Rezeption von Komponistinnen angeht.

Danuta Gwizdalanka: Der «weibliche Vulcan». Die Pianistin und Komponistin Maria Szymanowska, aus dem Polnischen von Peter Oliver Loew, 176 S., € 19.80, Harrassowitz, Wiesbaden 2023, ISBN 978-3-447-11913-9

Klassiker und Kuriosa

Sarah Rumer und Ulrich Koella begeben sich auf die Reise mit tschechischer Musik für Flöte und Klavier.

Die Flötistin Sarah Rumer. Foto: zVg

Wer beim Stichwort tschechische Kammermusik vorab an solche für Streichinstrumente denkt, sollte nicht übersehen, dass eine der meistgespielten Flötensonaten von einem tschechischen Komponisten stammt. Zusammen mit den Sonaten von Poulenc und Prokofjew zählt die 1945 im amerikanischen Exil entstandene von Bohuslav Martinů zu den beliebtesten Repertoirestücken. Die lange Kette von Einspielungen wird jetzt durch eine schweizerische Produktion erweitert, die aufhorchen lässt. Mit der in Zürich geborenen Soloflötistin des Orchestre de la Suisse Romande, Sarah Rumer, und dem an der Zürcher Hochschule der Künste lehrenden Pianisten Ulrich Koella legt das Zürcher Label Prospero unter dem Motto Slavonic Journey eine CD vor, die nebst Standardwerken auch wenig bekannte Kuriosa anbietet.

Schon Martinůs Meisterwerk erfährt eine bewundernswerte Interpretation. Nebst weit gespannten Atembögen in flinken Sechzehntelpassagen stechen die mit feinstem Rubato gespielten, pianissimo hingehauchten Übergänge von vertikalen Partien zu horizontal-linearen hervor. Den musikantischen Ecksätzen der Sonate von Jindřich Feld bleiben die Flötistin und der Pianist nichts an Brillanz schuldig. In Felds Quatre pièces für Soloflöte zitiert die «Hommage à Bartók» aus dessen Concerto for orchestra. Erwin Schulhoffs wieder häufig anzutreffende Sonate lädt das Duo mit der nötigen Spielfreude an den vielen Ostinati und harmonischen Reibungen auf.

Durch ihre Heirat mit dem Schriftsteller Jiří Mucha, dem Sohn des Jugendstilmalers Alfons Mucha, wurde die Londoner Komponistin Geraldine Thomson tschechische Staatsbürgerin und darum in diese Produktion aufgenommen. Ihr Naše cesta (Unsere Reise) betitelter Beitrag zeichnet sich durch Eleganz und volksliedhafte Melodik aus. Dem Reisethema tragen im einfallsreich gestalteten Booklet diverse Fotos des Prager Hauptbahnhofs Rechnung.

Der ins Bläsersextett Mládí (Jugend) integrierte, schrill repetierende Marsch der Blaukehlchen von Leoš Janáček für Piccolo und Klavier leitet seinen vermeintlich ornithologischen Titel von blauen Chorknabenuniformen ab. Mit Sarah Rumers kurioser Übertragung der Slawischen Fantasie von Fritz Kreisler erklingt die Transkription einer Transkription, setzt sich letztere doch aus Kreisler Bearbeitung zweier Themen von Dvořák zusammen.

Slavonic Journey (Martinů, Feld, Schulhoff, Mucha, Janáček, Dvořák/Kreisler). Sarah Rumer, Flöte; Ulrich Koella, Klavier. Prospero PROSP0049

Ein spätberufener Romantiker

Das Oratorium «Vergehen und Auferstehen» von Fritz Stüssi ist zusammen mit anderen Chorwerken auf CD erschienen. – Ein Dokumentarfilm über den Komponisten ist auf Youtube greifbar.

Fritz Stüssi, undatiertes Foto. Wikimedia commons

Fritz Stüssi (1874–1923) wäre, wie so viele Schweizer Komponisten dieser Generation, längst vergessen, würde sich nicht sein Enkel Ulrich Stüssi mit Enthusiasmus und Engagement für den Vorfahren einsetzen. Stüssi war ein «Zürcher Gewächs», besuchte dort die Musikschule; Lothar Kempter und Fritz Hegar waren seine Lehrer. In Berlin kam später Max Bruch dazu. Von seinem Wohnort Wädenswil aus beherrschte Stüssi die musikalische Landschaft am Zürichsee lange und nachhaltig.

Er hinterliess ein umfangreiches Œuvre, das stark in romantischer Tradition verwurzelt ist. Sein Augenmerk lag vor allem auf kirchlichen Werken wie Kantaten und Motetten. Die Noten werden in der Zentralbibliothek Zürich aufbewahrt.

Als sein bedeutendstes Werk gilt das 1914 in Wädenswil uraufgeführte, rund dreissigminütige Oratorium Vergehen und Auferstehen, das nun bei Claves zusammen mit dem Psalm 28 sowie weiteren kurzen Stücken herausgekommen ist. Ein Dramatiker war Stüssi nicht, vielmehr ein stark in protestantischer Religiosität verankerter Komponist, der sich mutig seinen Vorbildern stellte. So beginnt er sein Oratorium mit «Alles Fleisch ist wie Gras», das Brahms im Deutschen Requiem zu einem der anrührendsten Sätze gemacht hat. Bei Stüssi ist es der Bass, der nach wenigen orchestralen Einleitungstakten mit einem bewegenden Rezitativ beginnt. Das Vorbild Mendelssohn mit dem Elias ist unüberhörbar, der schreitende Duktus erinnert zudem stark an Wagners Parsifal. An den verheissungsvollen Anfang vermag Stüssi aber nur bruchstückweise anzuschliessen.

Über weite Strecken beherrschen die Solisten rezitativisch das Geschehen, was zuweilen etwas gleichförmig wirkt, und dies, obwohl insbesondere die tiefen Stimmen mit Ingeborg Danz (Alt) und Krešimir Stražanac (Bass) formidabel besetzt sind. Grossartig auch, wie die Zürcher Sing-Akademie unter Florian Helgath die Chorpassagen mit hervorragender Gesangskultur zelebriert.

Schade, wird die CD durch weitere kleine Chorstücke in ähnlicher Manier ergänzt, was beim Hören etwas ermüdet. Stüssi hat durchaus auch anderes zu bieten, wie etwa eine c-Moll-Suite, welche das Avalon-Quartett schon gespielt hat.

Red. Einblick in Leben und Werk bietet der dokumentarische Kurzfilm Fritz Stüssi – Wo du hingehst von Esther Kempf und Julia Ann Stüssi, zu sehen auf Youtube. Über 30 der 134 Werke sind digitalisiert und über den Musikverlag Musica Mundana erhältlich.

Fritz Stüssi: A Swiss Romantic. Zürcher Sing-Akademie, Zürcher Kammerphilharmonie, Leitung Florian Helgath. Claves 50-3085

 

Streichung auf Veranlassung von Verena (Mail 12.1.24)

Atmosphärische Ausflüge mit Cello und Örgeli

Auf ihrem zweiten Album machen sich der Luzerner Albin Brun und die Bernerin Kristina Brunner daran, ihre jeweilige Musik weiter miteinander zu verschmelzen – mit berauschendem Resultat.

Kristina Brunner und Albin Brun. Foto: © Markus Wild

Obschon Albin Brun (*1959) und Kristina Brunner (*1993) unterschiedlichen Generationen entstammen, fühlen sie sich einer gemeinsamen Vision verpflichtet: Sowohl der Luzerner als auch die Bernerin sind darauf erpicht, die Schweizer Volksmusik konstant weiterzuentwickeln. Während der mit dem Schweizer Musikpreis 2017 ausgezeichnete Brun als eine der Schlüsselfiguren zwischen Jazz und zeitgenössischer Volksmusik gilt, hat sich Brunner dank ihrem virtuosen Spiel auf Cello und Schwyzerörgeli einen Namen geschaffen.

Nachdem sich die beiden an der Hochschule Luzern – Musik kennengelernt hatten, begannen sie 2017, gemeinsame Sache zu machen. Dies, indem das Duo wöchentlich probt, hierbei dichte Klangpoesie entwickelt und mit prächtig ausgefeilter Kammermusik aufwartet. Auf ihr Debüt von 2020, Midnang, lassen Brun und Brunner jetzt Innerland folgen. Ein aus 13 Eigenkompositionen zusammengesetztes Album, das nebst reduzierter Instrumentierung auch atmosphärische Ausflüge und stetig variierende Melodien offeriert.

Zwar präsentiert sich der Opener Fex zunächst lüpfig, doch rasch einmal widmet sich das Stück besinnlicheren Motiven, die insbesondere von einer namenlosen Sehnsucht angetrieben scheinen. In Liedern wie Shovidar! oder Aube zeigt sich zudem, dass Fern- und Heimweh hier spätestens um die nächste Ecke lauern. Daraus ergibt sich ein Stimmungsbild, das melancholisch bis träumerisch wirkt und durchgängig zu berühren vermag.

Brun und Brunner machen sich einen Spass daraus, wechselnde Instrumentenkombinationen einzusetzen: Mal umspielen sich Cello und Örgeli, an anderer Stelle ködern sich zwei Örgeli gegenseitig. Das Ergebnis überzeugt. Schratteflue etwa zehrt von der Schwermut und zeugt von alpiner Nähe, derweil sich W., der Fisch als mit dem Chanson verwandt erweist. Mit Innerland haben Brun und Brunner ein Album veröffentlicht, das derart verspielt, tiefgründig und wunderbar daherkommt, dass man es gerne gleich nochmals abspielt.

 

Albin Brun & Kristina Brunner: Innerland. Eigenvertrieb, www.albinbrun.ch

Neue Geschäftsleitung beim G.-Henle-Verlag

Beim Münchner Urtext-Verlag folgt Norbert Gertsch auf Wolf-Dieter Seiffert.

Norbert Gertsch. Foto: G.-Henle-Verlag

Zum 1. Januar 2024 wechselte die Geschäftsleitung des G.-Henle-Verlags: Wolf-Dieter Seiffert schied nach über dreissigjähriger Zugehörigkeit zum Verlag, zunächst als Lektor, seit 2000 als geschäftsführender Verlagsleiter, aus. Zu seinem Nachfolger berief der Vorstand der Günter-Henle-Stiftung den bisherigen stellvertretenden Verlagsleiter Norbert Gertsch.

Norbert Gertsch, geboren 1967, studierte Konzertfach Klavier am Mozarteum in Salzburg und als Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes Musikwissenschaft und Philosophie an den Universitäten Salzburg und Heidelberg. 1996 wurde er über Ludwig van Beethovens Missa solemnis promoviert.

Im folgenden Jahr trat Gertsch in den G.-Henle-Verlag ein, 2003 wurde er Cheflektor, 2009 stellvertretender Verlagsleiter und Programmleiter. Gertsch hat zahlreiche Urtextausgaben vorgelegt, unter anderem erarbeitet er mit Murray Perahia die Neuausgabe der Klaviersonaten Beethovens. Ausserdem zeichnet er als Mitherausgeber des 2014 erschienenen Beethoven Werkverzeichnisses verantwortlich und steuert hauptverantwortlich die Entwicklung der Henle-Library-App.

Der G.-Henle-Verlag, gegründet 1948, ist weltweiter Marktführer von Urtext-Notenausgaben. Darüber hinaus veröffentlicht er die wissenschaftlichen Gesamtausgaben der Werke Bartóks, Beethovens, Brahms’ und Haydns. Am Verlagssitz in München sind ca. 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt.

Unvergessener Hornist und Komponist

Francesco Raselli kommt in dieser Neuerscheinung selbst zu Wort, vor allem aber Freunde, Mitmusiker und Experten, die Leben und Werk des Frühverstorbenen beleuchten.

Francesco Raselli. Foto: zVg

Vor genau 40 Jahren ist der Obwaldner Hornist, Organist, Komponist, Pädagoge und Vermittler Francesco Raselli, der seine Wurzeln im Puschlaver Dorf Le Prese hatte, im Alter von 35 Jahren gestorben. Sein Ruf hallt bis heute nach. So haben sich Weggefährten, Freunde, Fachexperten und Nachgeborene auf die Initiative der drei Herausgeber und Co-Autoren Josef Gnos, Niccolò Raselli und Peter Bucher mit Leben und Werk Rasellis befasst und in ihren Erinnerungen gekramt. Entstanden ist ein Buch, das alle Facetten des Ausnahmekünstlers und seiner Orchester-Engagements (Allgemeine Musikgesellschaft Luzern, Festspielorchester der Internationalen Musikfestwochen Luzern, Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, Radio-Sinfonieorchester Basel) beleuchtet.

Raselli war sich nicht zu schade, auch in der Blasmusik und Volksmusik wichtige Spuren zu hinterlassen, etwa als Stimmführer und Solist in der Feldmusik Sarnen, einem der leistungsfähigsten Blasorchester der Zentralschweiz. Als Pädagoge unterrichtete er an der Musikschule Sarnen und bald auch als Hauptfachlehrer am Konservatorium Luzern, blieb aber dem Kanton Obwalden stets verbunden. Sein Schüler Walter Dillier zitiert ihn mit dem Bonmot: «Kieksen darf nur der Erste Hornist, nicht der Zweite.» Neben Raselli selbst kommen in dem Buch unter vielen anderen auch die Musikerpersönlichkeiten Mario Venzago, Thüring Bräm, Lukas Christinat, Jakob Hefti und Wolfgang Sieber zu Wort.

Raselli hat in fünfzehn Jahren rund vierzig Werke komponiert, darunter etwa ein Drittel für die von ihm erfundene, legendäre Besetzung Nyynermuisig. Roman Brotbeck beschäftigt sich in seiner umfangreichen und akribischen Analyse ausführlich mit dem zwölftönig konzipierten Septett von 1974, dem Blechbläserquintett von 1982, dem undatierten Solo für A-Klarinette und schliesslich mit Rasellis Vermächtnis, dem Tagebuch für 16 Klarinetten und Kontrabass aus dem Todesjahr 1983. Ergänzt wird das Buch durch Fachtexte, Noten-Faksimiles, Karikaturen und Kochrezepte von Raselli, zahlreiche Fotos aus seinem Leben und Wirken sowie durch Aquarelle und Zeichnungen von Josef Gnos und der Tochter Anna Raselli.

Francesco Raselli 1948–1983, hg. von Josef Gnos, Niccolò Raselli und Peter Bucher, 208 S., Fr. 40.00, Eigenverlag der Herausgeber, 2023, ISBN 978-3-033-10003-9, Bezugsquelle: Vreny Guardiano, Lindenstrasse 14, 6060 Sarnen, vreny.guardiano@bluewin.ch

Tiergeschichten für die Finger

In Anna Reicherts Heft «Spiel mit uns!» begleiten tierische Helfer das Ausprobieren und Variieren pianistischer Bewegungen.

Junger Bonobo hangelt sich von Ast zu Ast. Foto: SURZet/depositphotos.com

Vielleicht hat sich die Autorin Anna Reichert den Satz von Manfred Spitzer zu Herzen genommen: «Ein guter Lehrer wird Geschichten erzählen … Geschichten treiben uns um, nicht Fakten.» Ausgehend von jeder Taste der Stammtonleiter werden in diesem Heft «Fingerübungen» entwickelt, die grundlegende pianistische Spielbewegungen anregen. Bei der Taste C steht zum Beispiel Coco, der übermütige Schimpanse Pate, der sich am liebsten von Baum zu Baum schwingt. Coco schwingt sich mittels gebundenen Zweitongruppen von Ast zu Ast, wobei Themen wie Gewicht und Entspannung und das leichte Abziehen der Hand nach der zweiten Note angesprochen werden.

In einem Begleittext erläutert die Autorin jeweils die Technischen Ziele der Übung und zeigt weitere Spielideen auf. Im Vorwort macht sie Mut, mit den Beispielen ideenreich umzugehen und zusammen mit den Kindern eigene Varianten zu (er)finden: durch Transponieren verschiedene Klanglichkeiten erkunden, auch schwarze Tasten einbeziehen, die starre Fünf-Finger-Position so oft wie möglich aufbrechen, sich frei über die ganze Klaviatur bewegen und die Abstände zwischen den Fingern variieren. All dies soll als Bereicherung den Lernprozess auf verschiedenen Ebenen unterstützen. Darum sind die einzelnen Übungen als Anhaltspunkt für Eltern und Lehrpersonen lediglich stark vereinfacht in ihrer Grundstruktur notiert.

Mir gefällt die Einfachheit und gleichzeitig die Vielseitigkeit der Anlage, die sowohl die Fantasie der Lernenden als auch die der Lehrenden anzuregen vermag.

Anna Reichert: Spiel mit uns! Tiergeschichten-Fingerübungen für den Anfang am Klavier, VHR 3518, € 11.80, Holzschuh, Manching

 

Schubert gitarristisch

Jury Clormann hat das «Ständchen» und einige Tänze für zwei Gitarren arrangiert.

Jury Clormann. Foto: zVg

«Leise flehen meine Lieder / Durch die Nacht zu dir…» – die Vertonung von Ludwig Rellstabs Ständchen durch Franz Schubert in der posthum veröffentlichten Liedersammlung Schwanengesang hat schon manch weiteren Komponisten und Herausgeber zu instrumentalen Bearbeitungen angeregt. Auch die Fassung für zwei Gitarren, wie sie uns der Winterthurer Gitarrist Jury Clormann nun vorlegt, ist musikalisch gehaltvoll und zudem auf den zwölf Saiten gut spielbar.

Das Stück war Bestandteil des Repertoires von Clormann und seiner Duopartnerin Elisabeth Trechslin und kann auf Youtube nachgehört werden. Clormann orientierte sich für sein Arrangement geschickt nicht nur an Schuberts Original, sondern auch an der Klavierfassung von Franz Liszt und an der Sologitarrenfassung von Johann Kaspar Mertz. Er übernahm von Liszt die auf kleinem Raum fugierten Triolenmotive, lehnte sich im Schlussteil mit seinen verschiedenen Arpeggi aber an Mertz an. Was bei Mertz gegenüber Schubert an musikalischem Material weggefallen war, wurde bei Clormann wieder ergänzt. Dies alles im Dienste der romantischen Innigkeit von Schuberts Musik und Rellstabs Lyrik: «Lass auch dir die Brust bewegen, (…) Komm, beglücke mich!»

Die Notenausgabe enthält zudem die Arrangements dreier kleiner Klavierstücke: Menuett und Trio, ein Walzer (der erste von 36 Originaltänzen aus op. 9 bzw. D. 365) und ein Deutscher Tanz und Ecossaise – alles vorbildlich editiert, mit Partitur und Einzelstimmen, aber ohne Fingersätze.

Franz Schubert: Ständchen, Menuett, Walzer, Deutscher Tanz und Ecossaise, bearb. und hg. von Jury Clormann, Erstdruck, BP 2883, Fr. 19.50, Amadeus, Winterthur

Unerwartetes bei Brahms

Johannes Schild legt in seinem Buch dar, dass auch die Sinfonien des «progressiven» Brahms versteckte Botschaften und Bedeutungen in sich tragen.

Brahms‘ Musikzimmer in seiner letzten Wohnung an der Karlsgasse 4 in Wien. Pastelkreidezeichnung von Carl Müller, dat. 1906. Quelle: Dorotheum/wikimedia commons

Wer sich beim Zitat im Titel des vorliegenden Buches an Gustav Mahler erinnern wollte, hätte sich geirrt, würde aber zuallerletzt bei Brahms versteckte Botschaften erwarten. Arnold Schönberg hatte ihn gerade deswegen als den «Progressiven» an die Spitze der damaligen Moderne gesetzt, weil sein Komponieren der «tönend bewegten Form» von Hanslick entsprach und die mit Literatur gesättigten «sinfonischen Dichtungen» eines Liszt und Strauss hintanstellte.

Schönberg würde heute staunen, wenn er das Buch von Johannes Schild in die Hand bekäme, wo der Autor in den vier Sinfonien von Brahms viele verborgene Mitteilungen eruiert, die Verbindungen zu Bach, Mozart, Beethoven, Wagner, Liszt u. a. herstellen. Dass nicht nur Mahler, sondern auch Brahms die Sprachfähigkeit der Musik genutzt hat, um über sich und sein Schaffen selbst ins Klare zu kommen, verblüfft bei jedem neuen Fall, den Schild stilsicher und verständlich zu erklären versteht, und dies nicht nur jener Leserschaft, die in der Lage ist, die vielen Notenbeispiele entsprechend auszuwerten.

Die satzübergreifenden Beziehungen in den Sinfonien an sich sind schon interessant, noch ergiebiger sind die werkübergreifenden und jene, die über Musikepochen hinweg Verbindungen herstellen. Ausgehend von Bachs E-Dur-Fuge erschliesst sich über das Finalthema von Mozarts Jupiter-Sinfonie ein ganzer Fächer von Bezügen bis hin zum Schicksalslied.

Besonders verblüffend sind in einem anderen Zusammenhang die Meistersinger-Aspekte, die Tristan-Anklänge oder die musikalischen Hinweise auf den «milchjungen Knaben» Felix, der allenfalls der aus seiner intimen Nähe zu Clara Schumann hervorgegangene uneheliche Sohn von Johannes Brahms sein könnte.

Mit dreihundert Musikbeispielen, sechzig Seiten Anmerkungen und vierundzwanzig Seiten Bibliografie untermauert das Buch die überraschende Fülle von kompositorischen «Innereien», aber auch aussermusikalischen Einflüssen, wie man sie gerade bei Brahms nicht erwartet hätte.

Johannes Schild: «In meinen Tönen spreche ich» – Brahms und die Symphonie, 443 S., € 49.99, Bärenreiter/Metzler, Kassel/Stuttgart 2022, ISBN 978-3-7618-2525-9

Nichts aus heiterem Himmel

Wie geht Komponieren heute? 33 Musikschaffende äussern sich dazu im Band «musik machen».

«Man setzt zusammen, man erfindet nicht», sagt Wolfgang Heiniger über das Komponieren. Foto: Thomas Jäger

Beim Wort «komponieren» schwingt einiges mit: natürlich Kreativität, auch das Ringen um Ideen, das Erdenken neuer Klänge oder neuer Konstellationen. Da ist schon mal bemerkenswert, wenn der in Basel lebende Komponist Wolfgang Heiniger glaubt, dass man Musik nicht «neu erfinden kann». Seiner Meinung nach steckt die Bedeutung von Komposition schon im Wort: «Man setzt zusammen», sagt er.

Das im Vexer-Verlag erschienene Bändchen musik machen mit ein- bis dreiseitigen Stellungnahmen von 33 zeitgenössischen Komponistinnen und Komponisten ist kurzweilig wie inspirierend. Neue Musik ist kaum auf einen Nenner zu bringen. Und das gilt auch für die abgedruckten Texte, die um Ästhetik im Allgemeinen kreisen, um persönliche Arbeitsgewohnheiten oder Schaffensprozesse. Manches erinnert durchaus an ältere Komponisten-Bilder. Dieter Ammann schreibt: «Komponieren bedeutet eigentlich, als Suchender in einer Welt unterwegs zu sein, deren eigener Schöpfer man gleichzeitig ist.» Ammanns Suche kann manchmal dauern. Zuweilen denkt er drei Jahre über ein Werk nach. Ja, da kommt einem vielleicht Beethovens eingekerbte Stirnfalte in den Sinn.

Ammanns Ton ist erfrischend direkt, und das gilt auch für seine Kolleginnen. Isabel Klaus macht aus der Not eine Tugend. Sie braucht Widerstände, sieht die üblichen Auftragsvorgaben – «schreibe ein Stück für diese oder jene Besetzung mit dieser oder jener Dauer» – nicht etwa als Einschränkung ihrer Kreativität, sondern als Möglichkeit, sich kreativ zu reiben an «Steinen, die ihr in den Weg gelegt» werden.

Die von den Herausgebern Désirée Meiser, Matthias Schmidt und Anja Wernicke ausgewählten und interviewten Komponisten stammen zum guten Teil aus dem Basler Umfeld. Manch grosser Name erweitert den regionalen Blick: Wolfgang Rihm etwa, der Deutsche Mathias Spahlinger oder der in den letzten Jahren sehr erfolgreiche Däne Simon Steen-Andersen. Letzterer erwähnt seine «negative Inspiration»: Hört er «tolle Musik», denkt er, dass er sich bemühen muss, «das ganz anders zu machen».

Ganz anders stellt sich letztlich auch das heutige Komponieren dar. Frühere Vorstellungen eines gottgleichen Creatio-ex-nihilo-Genies, das einschüchternd autoritär seine zündenden Funken zu Papier bringt, sind zum Glück passé. Heute, das zeigt der Sammelband eindrücklich, geht es weit mehr um Kooperation mit Musikern, um Einflüsse, manchmal auch ganz bodenständig um eine Arbeit, die getan werden muss. Schön auf den Punkt bringt es der an der Hochschule für Musik Basel als Professor für Komposition lehrende Johannes Kreidler: «Ideen fallen nicht aus heiterem Himmel. Der Anfänger wartet auf den Musenkuss, der Profi fängt an zu arbeiten.»

musik machen, hg. von Désirée Meiser, Matthias Schmidt, Anja Wernicke, 144 S., Fr. 28.00, Vexer, St. Gallen 2023, ISBN 978-3-907112-63-2

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