Alpine Kur- und Hotelmusik

Der Sammelband «Salonorchester in den Alpen» präsentiert die facettenreiche Geschichte der musikalischen Unterhaltung in Tourismus-Hochburgen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.

Orchester bei der Skisprungschanze in Maloja. Quelle: Kulturarchiv Oberengadin, Nachlass Maloja Palace, Falter 4d

Das waren noch Zeiten. Selten hat dieser Satz besser gepasst als für die Welt, die bei der Lektüre des von Mathias Gredig, Matthias Schmidt und Cordula Seger herausgegebenen Sammelbands zur Geschichte der Salonorchester in den Alpen lebendig wird. Im Zuge des frühen Tourismus- und Kurortbooms wurden ab den 1860er-Jahren in unzähligen Hotels Musikformationen – vom Klaviertrio bis zum grossen Kammerorchester – engagiert, um die internationalen Gäste bei ihren kostspieligen Aufenthalten in den Alpen zu unterhalten. Dieses ebenso abenteuerliche wie unterhaltsame Kapitel der lokalen Musikgeschichte wurde erst in den letzten Jahren von der Musikforschung entdeckt.

Der vorliegende Band beleuchtet das Thema anhand 14 kürzerer Essays aus verschiedensten Perspektiven: Den Bogen bilden Untersuchungen von Archivdokumenten aus den Engadiner Hotels Val Sinestra und Maloja Palace; dazwischen finden sich migrationshistorische Texte (etwa zu reisenden Musikerinnen), musiktheoretische Abhandlungen über Opernbearbeitungen, Tourismuskritik, Kurzbiografien, Projektberichte zu neu geschriebenen Salonorchester-Arrangements sowie Fachgespräche mit hohem Unterhaltungswert. Meist zwei Essays sind stimmungsvoll zu kleinen Blöcken angeordnet, sodass beim Lesen kaum Durchhänger entstehen.

Die Kapitel sind anschaulich geschrieben, die Vielfalt an Quellen und Abbildungen sowie die ausgeprägte Narrativität machen die Texte eingängig und lebensnah. Der insgesamt anthologische Aufbau wird durch Leitfiguren wie Fräulein Schubert oder Cesare Galli bereichert, die kapitelübergreifend auftauchen und die Inhalte so allmählich zu einem – wenngleich sehr fragmentarischen – Gesamteindruck zusammensetzen. Geografisch etwas aus der Reihe tanz der Ausflug ins Südtirol, da sich die restlichen Beiträge fast ausschliesslich im Engadin abspielen. Ein Plus sind die vielen konkreten Musikbeispiele, aus denen sich eine schöne Buch-Playlist zusammenstellen lässt.

Die Lektüre des Bands lohnt sich auf alle Fälle. Er vereint erfolgreich Information und Unterhaltung und wird dem Gegenstand damit gerecht.

Salonorchester in den Alpen, hg. von Mathias Gredig, Matthias Schmidt, Cordula Seger, 232 S., Fr. 38.00, Chronos, Zürich 2024, ISBN 978-3-0340-1733-6

Bach – in neuer Artikulation?

Die Neuedition von Bachs Cembalokonzert D-Dur BWV 1054 kann die Frage legato oder non legato letztlich nicht lösen.

Foto: Nikolaev/depositphotos.com

Johann Sebastian Bachs Cembalokonzerte sind berühmt und lassen sich auch gut ohne begleitende Streicher spielen. Zudem sind sie allesamt Bearbeitungen von Konzerten, die man auch mit anderen Soloinstrumenten kennt: Das Konzert D-Dur ist besser bekannt als Violinkonzert E-Dur.

Die Neuausgabe von Studienpartitur und Klavierauszug basiert in Notentext und Vorwort nicht auf Bachs autografer Partitur, sondern auf deren Faksimile, herausgegeben von Christoph Wolff (Bärenreiter), welcher sich, mehr oder weniger ausdrücklich, wiederum auf frühere Forschungen von Werner Breig (Bärenreiter) stützt, der die Konzerte in der Neuen Bach-Ausgabe (Bärenreiter) ediert hatte. Auch die Herausgeber der neuen Henle-Ausgabe müssen in den «Bemerkungen» dann doch – reichlich versteckt – zugeben, dass sie ihr Wissen eigentlich Breig verdanken.

Von früheren Editionen unterscheidet sich ihre Lesung vor allem dadurch, dass sie vorgeben, es mit Bachs flapsiger Schreibweise der Bögen genauer als ihre Vorgänger zu nehmen, aber dennoch einräumen müssen, dass sie es so genau auch nicht wissen. Das können sie angesichts von Bachs skizzenhafter und inkonsequenter Setzung von Legatobögen auch gar nicht. Darum muss man als Interpret oder Interpretin lediglich wissen, dass die unsystematisch hingeworfenen Bögen hier nur eine Gruppierung verdeutlichen, die in der Schreibweise in Vierer-Balken bereits angelegt ist, und dass die Unterschiede der Intervalle in Bachs Zeit letztlich über deren Artikulation entschieden – frei nach Leopold Mozart (1756, 4. Hauptstück, § 29): Die kleinen Intervalle muss man meistens binden. Je grösser sie sind, desto mehr soll man sie «abgesondert vortragen». Wichtig sind feine Differenzierungen, «angenehme Abwechselung.»

Johann Sebastian Bach: Cembalokonzert Nr. 3 D-Dur BWV 1054, hg. von Maren Minuth und Norbert Müllemann; Klavierauszug von Johannes Umbreit: HN 1382, € 17.50; Studienpartitur: HN 7382, € 11.50; G. Henle, München

Glücksmomente beim Üben – nur wie?

Corina Nastoll schlägt abwechslungsreiche Übungen vor und fördert das selbstbestimmte Lernen, damit bei der Arbeit am Instrument oder mit der Stimme kein Frust aufkommt.

Foto: cherrryandbees/depositphotos.com

«Üben ist eine grosse, ewige, fantasievolle Spielwiese.» Ja, der Musikpädagoge Christoph Richter hat recht. Sich mit seinem Instrument oder seiner Stimme zu beschäftigen, ist ein endloser, manchmal auch schwieriger Prozess. Wichtig ist vor allem Kontinuität. Doch leichter geschrieben als getan: Beim Erwachsenen ist das Zeitmanagement ein Problem. Beim Kind gilt es, die Spielfreude zu erhalten, sodass es nicht nur nach den Ermahnungen der Eltern das Übezimmer betritt.

Corina Nastoll präsentiert im Sonderheft der Zeitschrift üben & musizieren einen reichhaltigen Überblick. Sie gibt ganz konkrete Tipps zur Gestaltung des Instrumental- oder Gesangsunterrichts. Da werden schöne Aufwärmübungen vorgestellt, vielfältige Stimulierungen intrinsischer Motivation gezeigt. Und nicht vergessen: Auch die Schülerin, die nicht zum Üben kam, kann im Unterricht lernen. Etwas improvisieren zum Beispiel, eine einfache Melodie rhythmisieren oder auch Blattspiel üben. Da sind schnell 40 bis 60 Minuten nicht nur vorüber, sondern sinnvoll genutzt.

Üben geht klar! macht Spass. Und das liegt auch daran, dass für Nastoll Verzagen kein Thema ist. Als ausgebildete Musikpädagogin kennt sie die grössten Fehler vergangener Zeiten. Obsoletem Perfektionswunsch antwortet sie mit willkommener Fehlerkultur, übertriebenen Stil-Fixierungen mit flexiblem Unterricht, und schliesslich, vermutlich das Wichtigste: Sie plädiert für Selbstbestimmung des Schülers: Wo will ich hin? Welches Stück gefällt mir? Wie viel Zeit will ich mir nehmen? Wie fand ich den letzten Unterricht?

Das gut lesbare und obendrein schön gestaltete Heft ist sicherlich dem Instrumentallehrer von grossem Nutzen. Doch auch Eltern oder Schüler sollten sich ruhig die Zeit nehmen, die 44 Seiten an zwei Abenden zu lesen. Man bekommt jedenfalls richtig Lust, sich nach der Lektüre wieder ans Klavier zu setzen, um manche Dinge auszuprobieren. Da wäre die Übung namens «Eule», die schon vor der Übeeinheit für Lockerung und Durchblutung sorgt. Oder der Monotonie vorbeugende Wechsel von Übungen: mal zwei Takte auswendig lernen, dann ein freies Akkordspiel, am Ende dann vielleicht weiter am Paradestück arbeiten.

Bei all den freudvoll beschriebenen Tipps und Übungen schafft es Nastoll en passant, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, womit einen das eigene Musizieren und Üben belohnt. Sehr eindrücklich fasst es am Ende des Heftes der zitierte Peter Röbke zusammen. Laut dem verdienten Musikpädagogen bekommen wir durch funktionierendes Lernen: «Glücksmomente, Versunkensein in den Klang und wirkliches Hin-Horchen, Dialog und Zuwendung, Aufgehen im selbstvergessenen Spiel, Affektdurchbruch und Gestaltung, Verkörperungen und leibliches So-Sein, beinahe spirituelle Erfahrungen, Als-Ob, Verwandlungen.» Ja, wenn das keine Argumente sind!

Corina Nastoll: Üben geht klar! Effizient und mit Freude üben, 44 S., € 18.50, Schott, Mainz 2023, ISBN 978-3-7957-3094-9

 

Eintauchen in Wiener Klänge

Auf einem Fortepiano des Wiener Klavierbauers Konrad Graf stellt Eloy Orzaiz Werke von Hummel und Schubert nebeneinander.

Eloy Orzaiz. Foto: zVg

Hier Johann Nepomuk Hummel, dort Franz Schubert. Die beiden Komponisten sind Zeitgenossen, doch stilistisch voneinander entfernt. Der einstige Mozart-Schüler Hummel schreibt in einem eleganten postklassischen Stil, gewürzt mit einer Virtuosität, die um 1800 en vogue ist in Wiener Konzertsälen oder Musiksalons. Schuberts Musik ist vergleichsweise dezent-hintergründiger, auch harmonisch reicher. Hört man sich ein in die CD La Contemplazione des spanischen Pianisten Eloy Orzaiz, ist nachzuvollziehen, warum eher Schubert zum Vorläufer oder Wegbereiter für das 19. Jahrhundert wurde.

Orzaiz ist Spezialist für historische Aufführungspraxis, ausgebildet unter anderem an der Schola cantorum in Basel. Hummels und Schuberts Klavierwerke spielt er auf einem Fortepiano aus der Werkstatt des in Wien äusserst beliebten Klavierbauers Conrad Graf. Viel schlanker als auf einem modernen Flügel klingt es, auch subtiler. Orzaiz entlockt dem 1826 oder 1827 gebauten Instrument reiche Klangfarben, die noch mehr zur Entfaltung gekommen wären, wenn er die Tempi nicht so strapaziert hätte. In Hummels Grande Sonate Brillante op. 106 unterstreicht er die virtuosen Aspekte zu sehr. Und gerade in Schuberts so rätselhaftem Spätwerk, zu dem die hier eingespielten Drei Klavierstücke D 946 gehören, ist das Tempo ein neuralgischer Punkt. Das erste Klavierstück in es-Moll wirkt etwas gehetzt. Und im zweiten in Es-Dur fehlt der Musik das leicht Federnde, damit auch die Tempo-Variation.

Nichtsdestotrotz: Diese ansprechend gestaltete CD macht Hörfreude mit abwechslungsreicher Musik – auch mit ihren historischen Qualitäten, die ein unmittelbares Eintauchen in den «Wiener Klang» der 1820-er-Jahre möglich macht.

La Contemplazione. Hummel, Schubert. Eloy Orzaiz, Fortepiano Graf. lbs classical 182023

Ursprünglich für chromatische Harfe

In der Neuausgabe von Debussys «Danses» wird auch eine Phase aus der Entwicklungsgeschichte der Harfe greifbar.

Chromatische Harfe von Pleyel mit gekreuzten Saiten. Instrumentensammlung des Metropolitan Museum of Art. Foto: Susan Dederich-Pejovich/Wikimedia commons

Ein Juwel der Harfenliteratur sind die Danses (mit den beiden Teilen «Danse sacrée» und «Danse profane») von Claude Debussy für Harfe und Streichorchester. Die Farben, die Nuancen und die ganz eigene Dynamik, die durch Verschmelzung der gezupften und gestrichenen Saiten entstehen, sind unübertroffen.

Das Werk war 1903 eine Auftragskomposition der Firma Pleyel für ihre damals gebaute chromatische Harfe. Die Idee dazu – in Konkurrenz zur stetig erweiterten Mechanik der Doppelpedalharfe der Firma Erard – ergab sich aus der zunehmenden Chromatik in der Musik jener Zeit, was hiess, dass die Pedalarbeit immer umfangreicher und schwieriger auszuführen war. Pleyel versuchte, das Problem durch den Bau einer Harfe mit gekreuzten Saiten (diatonische und chromatische Saitenreihen) zu lösen und mit Auftragswerken an namhafte Komponisten für dieses Instrument zu werben. Die Werbestrategien gingen bis hin zu einer Klasse für chromatische Harfe am Conservatoire in Brüssel um 1900 und später in Paris.

Debussy nahm den Auftrag an, aber es verging noch ein Jahr, bis die Sache konkreter wurde. Ausschlaggebend dafür waren wohl das Drängen des Auftraggebers und der Wettbewerb der Revue musicale. Debussy hatte den Jury-Vorsitz. Zu den nominierten Werken gehörte eines des Komponisten Lacerda. Es trug den Titel Danse du voile als Teil einer Suite von Danses sacrées.

Mitte Mai 1904 waren Debussys Danses dann fertig. Er hatte etwas Mühe mit dem Instrument und der ganzen Komposition gehabt, wie man aus seinen Briefen erfährt. Die erste Ausführung fand im November 1904 in Paris statt, gelobt vom Publikum, eher kritisch aufgenommen seitens der Kritiker allen voran Fauré, für welchen das Werk «…vom so ganz eigenen Talent des Herrn Debusy nichts enthüllt [hatte], was nicht bereits bekannt wäre».

Die Pedalharfe wird Standard

Die chromatische Harfe, auch bedingt durch den dünneren und trockeneren Klang, konnte sich nicht durchsetzen. Bereits im Nachdruck der Danses 1910 wurde «chromatische oder Pedalharfe» angefügt. Henriette Renié, Harfenvirtuosin und Komponistin, führte das Werk in jenem Jahr auf der Doppelpedalharfe auf, was Debussy nur recht war, hatte dieses Instrument doch mehr Klangfülle und Ausdrucksmöglichkeiten. Als er 1915 seine Sonate für Flöte, Viola und Harfe komponierte, war die chromatische Harfe kaum mehr in Gebrauch. Die Danses waren zu Lebzeiten Debussys eines seiner meistgespielten Werke.

Die Henle-Neuausgabe, ediert von Peter Jost, wird sicherlich in vieler Hinsicht die Erstausgabe von Durand ersetzen können. Der notierte chromatische Harfenpart kann direkt auf die moderne Doppelpedalharfe übertragen werden, die Lesbarkeit ist vorbildlich und viele langjährige Druckfehler sind korrigiert. Das Vorwort (dt/fr/en) fasst gut zusammen, wie es zu diesem Werk kam und welche Bedeutung die chromatische Harfe hatte. Die Bemerkungen (dt/fr/en) sind sehr detailliert und informativ.

Mir liegt die Studienpartitur vor; es ist ferner ein Klavierauszug erhältlich (HN 1584). Angenehm ist, dass der Harfenpart frei von Fingersatz- oder Pedalvorschlägen ist, denn diese werden durch die Harfenisten individuell umgesetzt.

Claude Debussy: Danses, für Harfe und Steichorchester, hg. von Peter Jost, Studienpartitur, HN 7584, € 11.50, G. Henle, München

Bomben und Kursäle

Mathias Gredig beschäftigt sich in diesem manchmal etwas abschweifenden Buch mit der futuristischen Geräuschkunst.

Luigi Russolo (li) und sein Assistent Ugo Piatti mit den Intonarumori, Mailand 1913. Wikimedia commons

Am 21. April 1914 wurden im Teatro Dal Verme in Mailand die futuristischen Intonarumori vorgestellt. Diese Geräuschmaschinen Luigi Russolos stiessen allerdings beim Publikum auf wenig Verständnis. Beim zweiten Stück, Si pranza sulla terrazza del Kursaal, einer vom Titel her doch eher idyllischen Szenerie, kam es zu einem tumultartigen Aufstand. Auch Italien hatte damit seinen Skandal, er blieb jedoch weitaus weniger bekannt als jene bei Strawinskys Sacre oder beim Wiener Watschenkonzert 1913. Ja, er hat etwas Pittoreskes.

Das Thema drängte sich geradezu auf bei einem Musikwissenschaftler, der über Tiermusik promovierte und sich seit geraumer Zeit der musikalischen Umgebung von Hotels und Kurorten widmet: Mathias Gredig. Ausgehend von jenem Skandal fächert er auf, in welchem kontrastreichen Umfeld der Futurismus zu verstehen ist, nicht bloss als grenzensprengende Kunst, sondern auch als eine, die sich als Teil der Tradition versteht. So wehrte sich Russolo etwa vehement dagegen, seine Geräusche naturalistisch zu verstehen. Der Kritiker Agostino Cameroni erhielt dafür eine Ohrfeige.

In siebzehn Kapiteln gelingt es Gredig, Russolos Schaffen zwischen den Extremen einzuordnen, zwischen friedlicher Hotellobby und der Kriegsbegeisterung Marinettis, des Begründers des Futurismus, zwischen angenehmer Klanglichkeit und Geräuschorgie, zwischen Zurückgezogenheit und Provokation. Russolos Radikalität war vielleicht doch nicht so radikal, sondern auch ein Biografem, wie damals nicht ganz unüblich.

Man muss wohl die Kunst der Digression lieben, um das Büchlein ganz geniessen zu können. Gerne schweift Gredig ab, um sich zum Beispiel ins Risottokochen oder ins Bombenwerfen zu vertiefen. Manchmal gerät er ins Spekulieren, manchmal ist er ein wenig schnellzügig unterwegs, da möchte man noch ein paar zusätzliche Erläuterungen, und ein paar Mal ist er doch etwas gar salopp, beispielsweise wenn er von getöteten Musikern schreibt, sie seien im Sarg gelandet. Eine untergründige Ironie ist fast durchwegs spürbar, etwa gegenüber dem anfangs gar nicht so antifaschistischen Toscanini.

Am Schluss steht eine zerstörte Idylle: die zersplitterten Musikinstrumente im Hotel Kursaal Diana in Mailand nach der Explosion am 23. März 1921.

Mathias Gredig: Grandhotels, Risotto und Bomben, Geschichte der futuristischen Geräuschkunst, Fröhliche Wissenschaft 232, 173 S., € 15.00, Matthes & Seitz, Berlin 2024, ISBN 978-3-7518-3012-6

Etüdenzyklen von Camille Saint-Saëns

Letztlich gehören die Stücke aus Opus 52 und 111 wohl eher zur Übe- als zur Vortragsliteratur. Dort aber bieten sie wertvolle Möglichkeiten.

Das Wunderkind Camille Saint-Saëns mit 11 Jahren, als es vermutlich selber Etüden spielte. Anonyme Zeichnung, erstmals publiziert 1846 in «L’illustration». Wikimedia commons

Der Bärenreiter-Verlag hat sich in den letzten Jahren unter anderem auch sehr um das französische Klavierrepertoire gekümmert. So erschienen in rascher Folge zahlreiche Neuausgaben mit Werken von Debussy, Ravel, Satie, Fauré, Chabrier, Vierne und Camille Saint-Saëns. Von Letzterem jüngst nun auch die beiden Etüdensammlungen op. 52 und op. 111.

Jedes Heft umfasst dabei sechs ganz unterschiedliche Nummern, was vielleicht auf das Vorbild Bach verweist, der ja seine Suiten gerne in Sechsergruppen zusammenfasste. Mit der Gesamtzahl zwölf könnte sich Saint-Saëns aber auch an Chopins Etüden op. 10 oder op. 25 orientiert haben.

An Chopin erinnert jedenfalls manches in der pianistischen Aufgabenstellung. Da gibt es in Opus 111 gleich zwei Etüden, die sich umfassend mit Terzläufen beschäftigen (diatonisch und chromatisch/gross und klein/rechts und links). Auch Arpeggien, chromatische Skalen und Doppelgriffe unterschiedlichster Art sind omnipräsent.

Aber auch Bach kommt zu Ehren. Denn immerhin drei Nummern tragen den Titel «Prélude et fugue». Die Schulung des polyfonen Spiels war für den Klaviervirtuosen Saint-Saëns offenbar ebenfalls zentral.

Die abschliessende Etüde eines jeden Heftes ist etwas ausgedehnter und vereinigt verschiedene Spielformeln zu einem längeren Konzertstück. In Opus 52 ist das ein brillanter Walzer, während Opus 111 mit einer Toccata schliesst, die sich an das Finale des 5.Klavierkonzertes anlehnt (des sogenannt «ägyptischen»).

Auf den Konzertpodien erklingen die beiden Etüdensammlungen selten bis nie. Das hat wohl seine Gründe. Denn mit Ausnahme der beiden genannten Schlussnummern sind die Stücke auf die Länge nicht wirklich musikalisch fesselnd. Zu sehr liegt der Fokus auf dem rein Pianistischen. Und auch die Fugen überzeugen in ihrem akademischen Tonfall nicht wirklich. Als Übematerial für bestimmte technische Herausforderungen sind Saint-Saëns’ Etüden jedoch reichhaltige Fundgruben. Besonders Nr. 2 aus dem ersten Heft (Pour l’indépendance des doigts) bietet originelle und knifflige Aufgaben …

In diesem Zusammenhang sind auch seine Etüden op. 135 zu erwähnen, die sich ausschliesslich mit der linken Hand beschäftigen. Zu allen drei Sammlungen hat Herausgeberin Catherine Massip ausführliche und lesenswerte Einführungen geschrieben. Darin geht es um die Entstehungsgeschichte, die Widmungsträger, die Interpretation und die Rezeption der Werke.

Wer dem Komponisten Saint-Saëns musikalisch näherkommen möchte, sollte sich aber vielleicht eher mit seiner Kammermusik befassen.
Seine Violin- und Cellosonaten, vor allem aber auch seine beiden Klaviertrios op. 18 und op. 92 sind wirkliche Meisterwerke, die in unseren Breitengraden immer noch zu wenig gewürdigt werden.

Camille Saint-Saens: Six Etudes pour piano, Premier livre op. 52, hg. von Catherine Massip, BA 11854, € 21.95, Bärenreiter, Kassel

Id.: Deuxième livre op. 111, BA 11855

Französischer Jugendstil

Die beiden Violinsonaten von Camille Saint-Saëns gehören mit denjenigen von Franck und Fauré zu den wichtigsten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Camille Saint-Saëns, gemalt von Benjamin Constant 1898. Musée de la Musique, Paris/Wikimedia commons

Die späten Violinsonaten von Camille Saint-Saëns sind bald nach ihrer Entstehung ins Repertoire der besten Musiker aufgenommen worden. Die erste, 1895 geschrieben, uraufgeführt vom Komponisten mit dem Violinisten Otto Peiniger in England im selben Jahr, ist ausserordentlich virtuos. Sie ist offensichtlich für den Konzertsaal geschaffen, hat manchen träumerischen Moment und wirkt mit ihren vier abwechslungsreichen Sätzen leichtfüssig.

Die zweite Sonate, 1896 während einer langen Reise in Ägypten entstanden, ist tiefgründiger und eignet sich als Kammermusik. Saint-Saëns hat sie zusammen mit seinem Freund Pablo de Sarasate anlässlich seines fünfzigsten Bühnenjubiläums in der Salle Pleyel uraufgeführt. (1846 war er als 10-Jähriger dort erstmals aufgetreten.)

Beide Sonaten fussen noch auf der traditionellen viersätzigen Form, auch innerhalb der Sätze hört man das klassische Schema deutlich heraus, hier aber fantasievoll erweitert. Harmonisch fallen die kühnen Modulationen auf, die sich im Notenbild mit vielen Vorzeichenwechseln manifestieren. Rhythmisch lässt sich Saint-Saëns gern von antiken Sprachmetren inspirieren, und die Zwiegespräche der beiden Parts sind wechselvoll gleichberechtigt singend – perlend.

Hier eine kleine Beschreibung der zweiten Sonate: Dem punktierten männlichen Hauptthema folgt ein wellenförmiges weibliches Gegenthema und ein seufzendes, dann sich aufbäumendes Schlussthema. In der kurzen Durchführung verschränkt Saint-Saëns die drei und steigert sie virtuos zu einem Höhepunkt, aus dem die Reprise donnert, deren neue Überraschungen in eine fulminante Coda münden. Das witzige synkopische Scherzo hat ein ruhiges bachsches Fugato-Trio. Das dreiteilige Andante mit seinem gedehnt mystischen Gesang, der fein-melismatisch begleitet wird, ist aufgelockert mit einem 3/8-Allegretto-Mittelteil. Ein graziöses Rondo-Finale beginnt harmlos, steigert sich zu aufsteigenden Vogelrufen, die die Sonate fröhlich abschliessen, und erinnert im Mittelteil an ein Motiv aus dem ersten Satz.

Der grosse Notensatz ist ganz unbelastet von herausgeberischen Zusätzen und wendefreudlich. Die Vorwörter der Herausgeber (französisch, englisch, deutsch), aus denen ich die Informationen geschöpft habe, sind insofern wertvoll, weil sie viele Briefe von Saint-Saëns zitieren, die auch Tipps für die Interpretinnen und Interpreten enthalten.

Camille Saint-Saëns: Sonate Nr. 1 für Violine und Klavier d-Moll op. 75, hg. von Fabien Guilloux und François de Médicis, BA 10957, € 31.95, Bärenreiter, Kassel

Id.: Sonate Nr. 2 in Es-Dur op. 102, BA 10958, € 28.95

Fesselnde Fahrt ins Blaue

Sechs Jahre nach ihrem letzten Album veröffentlicht das zehnköpfige Luzia-von-Wyl-Ensemble seinen neusten Musikstreich «Frakmont». Ein Hörerlebnis, getragen von ungestillter Neugier.

Luzia von Wyl und ein Teil des Ensembles. Foto: zVg

Luzia von Wyl, geboren 1985, hat in Zürich, Bern und ihrer Heimatstadt Luzern Klavier und Komposition studiert und bringt ihre Projekte am liebsten selbst auf die Bühne. Die Künstlerin wird insbesondere mit dem sogenannten Third Way in Verbindung gebracht, einer Stilrichtung, die Jazz mit Neuer Musik verbindet.

Schon ihr Debüt Frost (2014) veröffentlichte sie gemeinsam mit ihrer Formation, dem Luzia-von-Wyl-Ensemble. Mittlerweile sind weitere Alben dazugekommen, zuletzt 2024 Frakmont. Dessen Titel spielt auf den volkstümlichen Namen des Pilatus an. Aufgezeichnet haben sie sieben Tracks 2021, inmitten der Corona-Pandemie. Das Werk ist in von Wyls neu gegründetem Label LU-Records erschienen, das der in Luzern und New York lebenden Musikerin künstlerische Kontrolle verspricht und ihr auch erlaubt, sowohl Aufnahmen wie auch Partituren zu publizieren.

Herausfordernd und beeindruckend

Bereits beim ersten Track, Thunder, drückt ihr Flair für Rhythmus, ungerade Taktarten und Emotionalität durch: Was mit ein paar Jingle-Takten beginnt, die wie Einspieler aus einer Nachrichtensendung wirken, nimmt rasch Fahrt auf und verfolgt vielschichtige Pfade – vom donnernden Orchester über verträumte Pianopassagen bis hin zum furios gesetzten Schlusspunkt durch das Schlagzeug von Lionel Friedli.

Weitere Kompositionen wie Mulino, bei dem sich Streicher, Akkordeon und eine Marimba sorgsam abtasten, oder das kapriziöse Ronk, das treibende Rockrhythmen mit frei geformten Klavierintermezzi kombiniert, reissen den Zuhörer mit auf eine Fahrt ins Blaue, die durch wechselnde Klanglandschaften zirkelt. Das ist herausfordernd und beeindruckend zugleich.

Das verbindende Element sind die Rhythmen, die stets aufs Neue fesseln, innovativ sind und auch für ein in den Bergen handelndes Filmdrehbuch herhalten könnten. Frakmont ist ein überaus dynamisches Hörerlebnis, das von Luzia von Wyls ungestillter Neugier zeugt und ihre ungebrochene Leidenschaft zeigt.

Luzia von Wyl Ensemble: Frakmont. Luzia von Wyl, Kompositionen und Klavier; Gary Versace, Akkordeon; Amin Mokdad, Flöte; Nocola Katz, Klarinette; Marcel Lüscher, Bassklarinette; Maurus Conte, Posaune; Vincent Millioud, Geige; Karolina Öhman, Cello; Christoph Utzinger, Kontrabass; Fabian Ziegler, Marimba und Donnerblech; Lionel Friedli, Schlagzeug. LU Label LU01

Berner Revolutionär und Romantiker

In einer umfangreichen Monografie zeichnet Jannis Mallouchos den Lebensweg des Musikers und Bakunin-Vertrauten Adolf Reichel nach.

Adolf Reichel fotografiert von Moritz Vollenweider. Bild: zVg

«Adolf Reichel ist ein Unbekannter», so beginnt Jannis Mallouchos‘ Monografie über den Berner Chefdirigenten, Komponisten, Pianisten und Pädagogen deutscher Herkunft. 652 Seiten später ist der Unbekannte so erschöpfend erforscht wie wohl nur wenige seinesgleichen, in einem wissenschaftlichen Buch, das sich fesselnd wie ein Roman liest. In der Literatur über den Frühsozialismus und den Vormärz ist Adolf Reichel (1816–1896) längst ein alter Bekannter. Doch vergeblich hat vor Jahren eine Handvoll Musiker (Suzanne Reichel, Adrian Aeschbacher, Stefan Blunier) versucht, auf Reichel auch als Komponisten aufmerksam zu machen.

Zur Wiederentdeckung des Schweizer Musikers bedurfte es dann eines griechischen Komponisten und Musikwissenschaftlers, eines deutschen Professors, eines niederländischen Archivs, eines österreichischen Verlags und eines Zufalls: Im Internet stiess Mallouchos auf Reichels Ururenkelin, die soeben die jahrzehntelang verschollenen Notenhandschriften ihres Ahnen aufgespürt hatte.

Hervorragend vernetzte Persönlichkeit

Akribisch zeichnet Mallouchos Reichels abenteuerlichen Weg vom braven preussischen Untertanen zum polizeibekannten Unterstützer von Oppositionellen und Revolutionären (die sich heute wohl das Etikett «Terroristen» gefallen lassen müssten) und schliesslich zum abgeklärten Republikaner und Schweizer mit Emmentaler Bürgerrecht nach, Stammvater einer Dynastie übrigens, die heute lückenlos sechs Musikergenerationen zählt.

Reichels Begegnungen mit zahllosen bedeutenden Persönlichkeiten von Friedrich Schleiermacher über Alexander Herzen (dessen Mitarbeiterin Marija Ern er heiratete), Georg Herwegh, Frédéric Chopin, Pierre-Joseph Proudhon, Karl Marx und Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen, seinen Stationen im «revolutionären und romantischen» (John Eliot Gardiner) Europa und seiner langjährigen symbiotischen Freundschaft mit dem Anarchisten Michail Bakunin geht Mallouchos bis in die feinsten Verästelungen und Querbeziehungen nach. Reichels Lebenserinnerungen, seine Theoriewerke, seine Briefe und seine Kompositionen – schöne und durchaus anrührende Musik, konservativ, aber sehr versiert im Idiom der klassizistischen Romantik zwischen Beethoven und Schumann geschrieben – stellt er scharfsinnig und kenntnisreich in die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge ihrer Epoche.

Das Buch beschliessen Werkanalysen, eine Bibliografie und ein Verzeichnis von Reichels 279 Werken, die wir hoffentlich bald veröffentlicht sehen und wieder aufgeführt hören werden.

Jannis Mallouchos: Adolf Reichel (1816–1896), Politische, kulturhistorische, musiktheoretische und kompositorische Aspekte eines Musikerlebens, 652 S., € 80.00,  Hollitzer, Wien 2023, ISBN 978-3-99094-084-6

 

Lieder zur Nacht

Verblüffend viele bislang unbekannte Namen tauchen in dieser Sammlung von Klavierliedern von Komponistinnen des 19. Jahrhunderts auf.

Nanny (auch: Anna) Bochkoltz, Sängerin («eine der bedeutendsten dramatischen Koloratursopranistinnen ihrer Generation in Deutschland») und Komponistin (1815-1879). Quelle: Wikimedia commons

Beschränkten sich Einspielungen und Rezitals mit Liedern von Komponistinnen in den 1980er-Jahren noch auf wenige Namen wie Clara Schumann und Fanny Hensel, Cécile Chaminade, Mel Bonis und Alma Mahler, kamen 1992 in der Musikalienreihe «Frauen komponieren» bei Schott aus dem 19.Jahrhundert nebst Luise Reichardt, Emilie Zumsteg und Johanna Kinkel auch Josephine Lang und Luise Adolpha Le Beau hinzu.

Wie reichhaltig die von Komponistinnen geschaffene Vokalmusik für eine Singstimme mit Klavierbegleitung ist, bringt erstmals die von Maria Behrendt äusserst sorgfältig herausgegebene Zusammenstellung Abendklänge Nachtgesänge zum Ausdruck. Sie macht deutlich, dass Lieder im Schaffen romantischer Komponistinnen innerhalb des deutschsprachigen Kulturraums eine zentrale Stellung einnahmen. Zu Fanny Hensel, Clara Schumann, Josefine Lang und Johanna Kinkel gesellen sich jetzt zehn Komponistinnen, von denen angenommen werden muss, dass sie der Fachwelt bislang kaum bekannt waren.

Beachtenswert ist auch die Vielfalt der Texte, fallen doch neben den häufig vertonten Lyrikern Goethe, Heine, Lenau, Geibel und Heyse die Dichterinnen Wilhelmine von Gersdorf, Anna Ritter, Aline Sello und Friederike Serre auf. Wieviel Biografisches noch zu erforschen bleibt, geht aus dem Fehlen der Lebensdaten von Isidore von Bülow, Mary Norris und Julie Wilhelmine von Tschirschky hervor.

Da Maria Behrendt ihre sehr spezielle Auswahl auf Abendlieder, Nachtgesänge, Träume, Sehnsucht und nächtliche Stimmungen konzentriert, lässt sich erahnen, wie viel es in Liedern von Komponistinnen des 19. Jahrhunderts ausserhalb dieser Themen weiterhin zu entdecken gibt.

Von den insgesamt 15 Gesängen von ebenso vielen Komponistinnen zeichnen sich die durchkomponierten von Maria Arndts, Anna Bochkoltz, Bertha von Brukenthal, Clara Faisst, Fanny Hensel, Marie von Kehler und Mary Norris gegenüber den Strophenliedern von Josephine Lang, Aline Sello oder Helene Zitelmann durch stärkere Eigenart aus. Zu den weitgehend auf Erstdrucken basierenden Neuausgaben steuerte die Herausgeberin mustergültige Einzelanmerkungen bei, die sowohl über die Quellenlage als auch über Widmungen und Notentextrevisionen präzise Auskunft geben.

Abendklänge Nachtgesänge, ausgewählte Lieder von Komponistinnen des 19. Jahrhunderts für Singstimme und Klavier, hg. von Maria Behrendt, Urtext, EB 9477, € 25.90, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden

Unter die Haut

Das vierte Album von Singer/Songwriter Ella Ronen beginnt fulminant und flacht auch bei den folgenden Liedern nicht ab.

Ella Ronen. Foto: Alessandra Leimer

Es ist nicht leicht, über das Lied hinwegzukommen, mit dem dieses herrliche Album anfängt. Truth erzählt die autobiografische Geschichte einer jungen Frau. Sie kommt in einer Bar, die bekannt ist dafür, Minderjährigen Alkohol auszuschenken, mit einem berühmten Dichter ins Gespräch, lässt sich von ihm überreden, ihn nach Hause zu begleiten, wo sie einem schweren sexuellen Übergriff gerade noch entfliehen kann. Davon handelt das Lied indes weniger als von der Wahrheit, die den Mann vor einigen Jahren eingeholt hat: Er wurde von einer Zeitung – und von Ella Ronen – der serienmässigen Übergriffigkeit überführt.

Ella Ronen verpackt diese Geschichte in eine Melodie, die der elliptisch wiederkehrende Mini-Refrain («The truth is on its way») in Kombination mit der samtenen Altstimme und einem subtilen, mit Conga und Zither (?) tupferhaft akzentuierten Gitarrenarrangement fürwahr unvergesslich macht. Auf englisch würde man die Wirkung als «haunting» umschreiben – eine träfe Übersetzung dafür fällt mir partout nicht ein. Jedenfalls musste ich Truth viele Male hören, ehe ich mich losreissen und auch noch auf die restlichen neun Lieder einlassen konnte.

Umso grösser ist die Freude, reportieren zu dürfen, dass Ronen mit ihrem vierten Album ein rundum freudvoller Wurf gelungen ist. Aufgenommen mit dem amerikanischen Produzenten Sam Cohen (Kevin Morby, Alexandra Savior etc.) in Upstate New York, ist The Girl With No Skin ein bemerkenswert vielfältiges und subtiles Werk, das sich indes auch zornige Momente gönnt («Fuck cute/I’m tired of cute/cute has never ever served me»). Ella Ronen wuchs in Tel Aviv auf, ehe sie als Studentin in Lausanne landete, wo sie 2014 ihr Debutalbum aufnahm. Heute lebt sie mit ihren zwei Kindern in Zürich und ist zusammen mit Brandy Butler und Sarah Palin Mitbegründerin des feministischen Mino Collective.

Ella Ronen: The Girl With No Skin. Irascible Records/BB*Island

 

Dringende Fragen sanft gestellt

Die Pianistin Simone Keller hat Musik von Komponistinnen und People of colour vor allem aus den USA und der Schweiz eingespielt. Ein weiterführendes Buch beleuchtet die Kompositionen und die Hintergründe.

Simone Keller. Foto: Palma Fiacco

«100 minutes of piano music from the last 100 years in the context of social inequality and unequal power relations» verspricht die Doppel-CD der Thurgauer Pianistin Simone Keller. Entstanden ist eine höchst heterogene und diverse Anthologie mit strukturell benachteiligter Musik von Komponistinnen und People of colour, vor allem aus den USA und der Schweiz. Ungleichheit in der Musikgeschichte ist ein brisantes Thema, nur hört man sie den einzelnen Stücken natürlich nicht an. Denn wenn sie so wunderbar interpretiert werden wie hier, fragt man sich wieder einmal, was denn da alles schiefgelaufen ist.

Einige Persönlichkeiten wie Ruth Crawford Seeger oder zuletzt auch Julius Eastman gehören zwar mittlerweile in jeden Grundkurs für neuere Musik. Anderes aber ist zu entdecken, etwa die St. Galler Dichterin und Komponistin Olga Diener (1890–1963), deren Texte Hermann Hesse als «viel zu sehr Traum und viel zu wenig Dichtung» umriss. Ihre «Geheimsprache», so Hesse auch, spricht aber gerade heute wieder durch ihre eigenartigen Wendungen.

Es ist, trotz des Backgrounds, keine aufrührerische, sondern eine eher ruhige Anthologie geworden. Auch Neues ist darunter: das sich langsam entfaltende Stück Black/blackness: After Mantra(s) für Klavier und Elektronik von Jessie Cox, das Fragen der Klimakrise berührt. Oder aber ein Richtig Schottisch der aus der Volksmusikerfamilie stammenden Cristina Janett. «Die Volksmusik mit ihren vielfältigen Einflüssen entdeckte ich viel später», schreibt die aus einer Bauernfamilie stammende Pianistin Keller, «und es wurde mir erst in der Zusammenarbeit mit Cristina Janett bewusst, wie sehr sie Teil meiner Identität ist.» Gerade solche Bewusstwerdungsprozesse sind hier zentral.

Schliesslich ist da die Komponistin Irene Higginbotham (1918–1988), bekannt oder eben kaum bekannt dafür, dass sie den Song Good Morning Heartache für Billie Holiday schrieb. Dreimal taucht er in diesem Album auf und gibt ihm den Titel wie auch einem Buch, das Simone Keller doppelsprachig deutsch/englisch herausgegeben hat. Es enthält nicht nur weiterführende Texte zu den Kompositionen, sondern erhellt auch den soziokulturellen Hintergrund, vor dem sie entstanden, und führt gleichzeitig darüber hinaus in unsere Zeit. Die Fragen, die hier scheinbar sanft gestellt werden, sind dringend.

Simone Keller: Hidden Heartache. Intakt CD 419

Simone Keller u.a.: Facetten 21 – Hidden Heartache, Kulturstiftung des Kantons Thurgau, 320 S. mit Notenheft, Fr. 32.00, Jungle Books, St. Gallen 2024, ISBN 978-3-033-10349-8

Tänze für Schwyzer-Zither festgehalten

Auf dem Heimet Büölacher in Rickenbach wurde früher oft Zither gespielt. Dank Rosmarie Tüzün lebt die traditionsreiche Musik weiter.

Zitherspielerin Rosmarie Tüzün. 25 durch ihre Mutter überlieferte Tänze sind nun in einem Notenheft verewigt. Bild: pd

Rosmarie Tüzün-Gamma aus Oftringen spielt die traditionsreiche Schwyzer-Zither mit grosser Leidenschaft und schon in vierter Generation. Ihre Mutter war Rosa Gamma-Gwerder, eine sehr gute Zither-Spielerin, aufgewachsen auf dem Bauernhof Büölacher in Rickenbach/Schwyz. Auch nach ihrer Heirat nach Schattdorf pflegte das «Büölacher-Rösli» im Kreis von Verwandten und Bekannten Hausmusik zu machen. Zehn Jahre nach ihrem Tod erhielt Tochter Rosmarie sämtliche Tonbandkassetten davon geschenkt. «Die Musik berührte mich so sehr, dass ich zum ersten Mal nach 30 Jahren Mutters alte Schwyzer-Zither aus dem Schrank holte», erzählt sie. Sofort liess sie das Instrument bei Zitherbauer Herbert Greuter in Schwyz revidieren und fand in Luise Betschart, Illgau, eine verständnisvolle Lehrerin.

Melchior Ulrich, Schwyz, notierte aufgrund der Kassetten 25 Tänze: «Die Live-Aufnahmen wurden alle im Elternhaus von Rosmarie Tüzün in Schattdorf aufgenommen als Verwandte und Bekannte gemeinsam musizierten. Durch Gespräche und Gelächter ging die Hauptstimme der Zither oft unter, sie musste stellenweise erahnt werden.» Nun sind die Stücke im «tänzigen» Büölacher-Stil, lüpfig und mitreissend, unter dem Titel Büölacher Schwyzer-Zither-Tänzli als Notenheft greifbar.

Es ist erhältlich unter
Tel. 078 697 07 31 oder rosmariegamma@gmail.com.

Schlagzeug Schritt für Schritt

Das Lehrmittel «Step by Step on Drums» von Marco Kurmann bietet einen strukturierten Aufbau und abwechslungsreiches Lernen in insgesamt vier Heften.

Foto: Jason Leung/unsplash.com

Step by Step on Drums, Band 1, von Marco Kurmann kommt durch die zahlreichen Abbildungen im Comic-Stil sehr ansprechend, interessant und kindgerecht daher. Es führt die Schüler sowie den Pädagogen zielgerichtet voran. Das Lehrmittel wurde als Leitfaden für den Musikschulunterricht konzipiert, enthält bewusst keine Erklärungen und nur wenig Text. So ermöglicht der Autor, dass Lehrerinnen und Lehrer eigene Ideen und Inputs mit einfliessen lassen. Dazu gibt es auf den Seiten auch genügend Platz.

Nach einer kurzen Übersicht, was der erste Step beinhaltet, geht es auch schon los mit Viertel- und Achtelnoten auf der Snare. Nach und nach kommen verschiedene Grooves mit Achtelnoten an die Reihe und schon bald werden die Toms einbezogen. Zwischendurch gibt es kurze Theorieteile, bei denen Antworten auf die jeweiligen Fragen eintragen werden und Raum für eigene Ergänzungen vorhanden ist.

In den fünf Steps von Band 1 lernen die Schüler die einzelnen Instrumente des Drumsets kennen, befassen sich mit grundlegenden musikalischen Begriffen und lernen Noten von der ganzen bis zu Vier-Sechzehntel-Figuren. Drumset-Solos, Snare-Drum-Duette und Drumset-Duette schliessen die jeweiligen Steps ab. Zu den Stücken gibt es auf der Website des Autors die Möglichkeit, Audiofiles als Vollversion oder Klicktrack herunterzuladen. Bei den Duetten sogar mit der ersten oder zweiten Stimme separat und das alles in zwei unterschiedlichen Tempi.

Durch die gelungene Mischung von sinnvollem rhythmischem Fortschreiten und vielen, sich im Schwierigkeitsgrad steigernden Beats bietet dieses Lehrmittel einen klaren, strukturierten Aufbau sowie ein spannendes und abwechslungsreiches Lernen. In 20 Schritten, aufgeteilt auf vier Bände, bildet Step by Step on Drums die ideale Grundausbildung in den ersten vier bis sechs Jahren des Schlagzeugunterrichts.

Marco Kurmann: Step by Step on Drums, Leitfaden für den Schlagzeugunterricht, Band 1, 98 S., € 24.00, Leu-Verlag, Neusäss, ISBN 978-3-89775-189-7

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