Heavy Metal – Resistenztraining für die grosse Deadline

Ausführliche Version des Interviews mit dem Kunstwissenschaftler, Autor, ZHdK-Professor und Heavy-Metal-Fan Jörg Scheller in der Ausgabe SMZ 6/2024 – mit Link zu einer Playlist am Schluss.

 

Jörg Scheller: «Metal war eine Offenbarung für mich.» 

 Was ist das für ein T-Shirt, das du anhast?
Jörg Scheller: Kvelertak, Black ’n’ Roll, norwegische Black-Metal-Band, die Black Metal mit Rockeinflüssen kombiniert und dadurch sowas eher Lebensbejahendes, Enthusiasmierendes hat. Entombed waren die Wegbereiter von Black ’n’ Roll.

Wunderbar, wenn wir schon bei den Definitionen sind. Was ist Power Metal?
Eher so Heldentenor, fette Akkorde, Pathos, Tolkien-Leser-Milieu. Eher so die Stubenhocker-/Insider-Ecke (schmunzelt).

Sind das nicht alle?
Bei mit Core und Punk verbundenen Metalvarianten geht’s eher ein bisschen auf die Strasse.

Was ist Grindcore?
Eher aktivistisch, stark mit Punk verbunden, sehr avant-gardistisch insofern, als es um die Auflösung der Form geht. Die Form im Metal ist eigentlich immer sehr stabil. Anders als in radikal experimentellen Genres wahrt Metal eigentlich immer eine gewisse Form von Stabilität. Eine sichere Maschine. Man hat Entgrenzung, Ekstase und Intensität, aber immer auf einer gesicherten industriellen Grundlage.

Sludge Metal?
Da steig ich dann auch langsam persönlich aus, bei diesen endlos zerdehnten Hyper-Blues-Varianten. Ist mir fast schon zu sehr Kunst. Da wird’s experimentell und Anti-Pop. Was ich am Metal immer mochte, war, dass er eigentlich doch Pop ist, auch wenn das die Metaller nicht zugeben, und gleichzeitig stellt er sich im Pop gegen den Pop. Das fand ich ein interessantes Spannungsverhältnis. Judas Priest. Die waren immer total affirmativ im Hinblick auf die Popindustrie, Marketing, Image, Branding, und gleichzeitig hatten sie immer auch etwas Transgressives.

Deinem Buch («Metalmorphosen – Die unwahrscheinlichen Wandlungen des Heavy Metal», Franz-Steiner-Verlag, 2020) entnehme ich, dass du ein grosser Judas-Priest-Fan bist. Es wirkt im Nachhinein schon sehr erstaunlich, dass es so lang ging, bis man draufkam, dass der Sänger und Bandleader schwul ist.
Es ist eine wunderbare Geschichte mit Rob Halford, dem «Metal God». Den Titel hat er sich sogar schützen lassen! Der Ledergott schlechthin ist jahrzehntelang in so einem Leder-Fetisch-Schwulenkostüm vor den Fans herumgeturnt, alle hätte es sehen können. Es gab Gerüchte, aber Probleme gab es selten. In den 90er-Jahren, als er sich outete, war man easy. IM METAL GEHT ES EBEN IMMER NOCH UM MUSIK UND NICHT NUR UM IDENTITÄT.

Apokalypse – das ist ja irgendwie so ein «glass half full, glass half empty»-Phänomen. Das Ende der Welt. Auf der anderen Seite geht’s jetzt eigentlich erst richtig los, jetzt sind wir in Gottes Reich, das Abplagen ist weg. Wie siehst du das?
Ich bin eigentlich recht überzeugter Apokalyptiker, denn du merkst ja, wenn du keinen endzeitlichen Druck hast, bekommst du nichts gebacken. Das beginnt schon bei einer ganz banalen Deadline. Die Apokalypse ist eigentlich bloss so eine grosse Deadline. Ohne Deadlines funktioniert nichts. Eine Anekdote aus dem Kaff, aus dem ich komme, eine pietistische Kleinstadt im Bible Belt von Baden-Württemberg, wo der Pietcong lebt, die harten Pietisten: Diese Kleinstadt wurde 1819 gegründet als pietistische Idealstadt. Die hatten irgendwie ausgerechnet, dass die Apokalypse im Jahr 1836 beginnt. Die Stadt war chronisch verschuldet – jetzt darfst du dem Messias natürlich nicht verschuldet gegenübertreten. Das heisst, bis 1836 musste bei ihren Gemeindefinanzen alles stimmen. Die haben sich also aufgrund dieses esoterisch-metaphysischen Ereignisses im Weltlichen total angestrengt und es tatsächlich geschafft, die Finanzen rechtzeitig in Ordnung zu bringen. Zwar kam der Messias dann leider nicht, aber die Stadt funktionierte nun.

Toll, und die Stadt steht noch! Aber die müssen ja in ein übles emotionelles Loch gekippt sein, als die Welt dann doch nicht unterging.
Das weiss ich auch nicht, wie man mit sowas umgeht. Aber das ist ja das Schöne, du kannst immer sagen: Gottes Wege sind unergründlich – und fertig, aus. Verantwortung? Der Herr macht halt, was er will. Die Apokalypse verzögert sich.

Sich die Apokalypse als Deadline für ein bestimmtes Ziel zurechtlegen: Könnte man das auch als Versuch deuten, sich Halt zu verschaffen in einer Welt, in der man sich irgendwie verloren fühlt?
Ja. Ich glaube, das ist eine Form des Widerstandes gegen die Wirklichkeit. Die Apokalypse bedeutet ja eben nicht nur Weltuntergang, sondern es ist das Versprechen auf eine sehr viel bessere Zukunft. Gemäss Bibel senkt sich die Stadt Jerusalem herab, eine Stadt aus durchsichtigem Gold. Da wohnt sich’s nicht schlecht. Auch Gott zieht dann selber ein. Es wird eigentlich alles ziemlich gut – für die, die da wohnen dürfen. Und wenn du jetzt in einer Zeit lebst, in der es nicht so gut geht, dann brauchst du zumindest so einen utopischen Vor-Schein von etwas anderem, an das du dich klammern kannst. Das wirkt zwar total esoterisch und irrational, aber ohne das geht’s halt auch nicht. Ich glaube, das hat die Religion früher geliefert: ein Bild, an dem man sich aufrichten kann. Und daran ist erstmal nichts falsch, nur, war es halt ein Machtinstrument, um die Leute klein zu halten im irdischen Leben. Während die Typen in den Schlössern es sich haben gut gehen lassen.

Was uns direkt zur klassischen Situation jedes Teenagers führt. Als Teenager ist man immer verunsichert. Da kommt so ein Rock-Gott wie der Sänger von Judas Priest gerade gelegen.
Jaja. Und vor allem, Metal gibt dir allein schon ästhetisch eine Art Halt. Es ist ja eine transgressive Form von Popmusik, eine, die mit den vorherigen Konventionen bricht, aber gleichzeitig noch Stabilität verspricht. Und das ist schon anders als im Grindcore, wo dann alle Strukturen noch vollends zerstört werden, oder im Sludge oder im Drone, wo es eigentlich keine Form mehr gibt. Metal bietet schon noch Orientierung und Halt, und gleichzeitig ist es eine Rebellion. Das kann man zwar als faulen Kompromiss deuten, aber vielleicht lebe ich schon zu lang in der Schweiz – ich finde einen Kompromiss eigentlich nichts Falsches.

Kannst du dich erinnern an den Moment, wo du zum ersten Mal eine Metal-Platte gehört hast?
Die erste gekauft habe ich als Teenager in Gerlingen in einem Einkaufszentrum beim Wocheneinkauf der Familie. Da gab’s noch CDs zu kaufen. Wir sind daran vorbeigelaufen, all die bunten Covers – und mitten drin steckte ein schwarzes. Es war eine von diesen fünf Millionen Motörhead-Compilations, From the Vaults. Irgendwie, ich weiss nicht warum, wollte ich die unbedingt haben. Sie hat mich dann zu Hause total geflasht. Der Pfarrerssohn hatte einen Plattenspieler und Metal-Platten, Guns ‘N’ Roses, Appetite for Destruction und Helloween, Keeper of the Seven Keys Part 1 und Part 2, glaub ich, und ich war komplett weg-geflasht. Da hat man schon gemerkt, jetzt beginnt etwas Neues. Du wirst nie wieder loskommen von dem Gift, das dir da ins Ohr geträufelt wurde.

Ein Pfarrerssohn, das war natürlich auch ein Zeichen – Lemmy (Anm.: Motörhead-Leader) war das ja auch …
Jaja, ein Zeichen, ja, von ganz oben war das gewollt.

Mit 14 hattest du die passende Montur und hast deine erste Metal-Band gestartet. Wie war das mit den Pietisten rundherum, haben die dich geschnitten von da an?
Man hat sich gegenseitig geschnitten. Wir lebten in zwei Welten nebeneinander. Deshalb kam’s dann eigentlich nicht mehr zu so viel Begegnungen.

Gab es keine Techno-Fraktion?
Doch, die gab’s. In der Schule hatten wir die. Das waren die, die am Morgen immer mit übernächtigten Augen in der Bank hingen. Die waren wirklich hart partymässig unterwegs. Dann gab’s noch Punks, die mochte ich nicht damals, die waren so sendungsbewusst, wussten immer was falsch und richtig war, wussten immer, wo der Feind steht. Wussten, was zu tun ist. Es gab damals schon die Nahostthematik, genau wie heute, Solidarität mit den Palästinensern usw. Es hat sich nicht viel geändert. Die haben mich eher an die Religiösen erinnert, die Dogmatiker. Die Metaller dagegen, das waren eher so die etwas Introvertierteren. Gar nicht so sehr die Lauten, Nach-vorne-Drängenden, Superselbstbewussten, sondern man hat als Metaller wirklich auch Musik gehört, stundenlang, Texte auswendig gelernt, versucht, die Texte zu verstehen, wo die Lyrics nicht abgebildet waren, versucht zu kapieren, was es mit diesem und jenem Sub-Genre auf sich hatte – alles Tätigkeiten, die man allein macht, zu Hause für sich. Oder du hast dich im Proberaum mit den technischen Herausforderungen herumgeschlagen.

Es gab – und gibt – ja auch diese Bestrebungen, eine Fusion von Metal und Klassik herzustellen. Deep Purple zum Beispiel haben das versucht. Diverse wagnerianisch aufgezogene Werke, bei denen ich immer das Gefühl hatte, sie seien auch von einer Art Minderwertigkeitsgefühl motiviert. Man wollte von den «seriösen» Musikerinnen ernst genommen werden, zeigen, dass man genauso virtuos sein konnte wie Konzertgeiger. Hat dich sowas je gelockt?
Interessante Frage, denn es gab bei uns in der Band so nach einem, eineinhalb Jahren ein Zerwürfnis. Ich wollte primitiv bleiben, ich wollte einfach rumschreien, ich wollte kein Gesangstraining machen und ich wollte mich nicht verbessern. Die anderen sind mehr auf die Klassik-Rock-Virtuositätsschiene gegangen, haben exzessiv Unterricht genommen, haben sich krass weiterentwickelt, waren dann technisch sehr stark. Daran ist die Band dann eigentlich zerbrochen. Insofern kann ich die Frage mit Nein beantworten. Ich verspürte die Versuchung nicht so. Wir hatten dann nochmal eine ähnliche Geschichte mit einer Krautrockband, longjumpmin hiessen die, wir nannten es «gehobenen Mittelstandsexperimentalrock mit stark technoidem Einschlag» und hatten am Anfang eine superanarchische Phase. Nach ein paar Jahren gab es innerhalb der Band Ambitionen, technischer zu werden, virtuoser, kam dann auch nicht so gut, wurde ein bisschen langweiliger. Ich übe aber schon auch, spiele Bass, hauptsächlich. Und um Metal zu spielen, brauchst du schon eine bestimmte Kompetenz, um die Geschwindigkeit und die Härte zu erzeugen.

Du beschreibst im Buch Heavy Metal als Freiraum, in dem die Wonnen pubertärer Faszination nicht unterdrückt werden müssten. Metal gebe den nie ganz überwundenen Tagträumen jener Zeiten einen Resonanzraum. Erlebst du das jetzt noch so?
Jaja. Ich glaube, es ist sogar ziemlich wichtig, dass man bestimmte Erfahrungen oder Gefühle, die man in der Pubertät hatte, nicht irgendwann beerdigt. Denn das sind die Geister, die dich später jagen werden. Im Metal kann man die Träume, Energien und Utopien aus dieser Aufbruchszeit irgendwo noch am Leben erhalten. Und das ist es wohl, was Metal auch ein bisschen das Peinliche gibt. Wo Leute sagen: Um Gottes Willen, da steht ein 50-Jähriger im Lederkostüm auf der Bühne und singt über irgendwelche mythischen Drachen. Aber gerade dieses Peinliche hat, finde ich, auch was Unschuldiges. Etwas, was dich als 12-, 13-Jährigen einmal geflasht hat. Und das hat Lemmy auch mal gesagt: Er spiele, was er spielte, weil es ihn als Teenager so getroffen habe, so ein Gefühl ausgelöst habe, dass er es behalten möchte. Er möchte nicht wegkommen davon.

Die totale Freiheit vom Coolness-Zwang also. Andererseits hast du gerade in diesen verschiedenen Metal-Genres ein quasi-sektiererisches Festhalten an gewissen Regeln. Ein Paradox?
Das beisst sich. Aber ich vergleiche es immer mit der Schweiz. Es gibt einen Bund, der heisst Heavy Metal, aber in diesem Bund gibt’s Bundesstaaten die zum Teil unterschiedlicher nicht sein könnten. Das clasht natürlich. Und alle habe ihre eigenen Steuergesetze, die Krankenkasse kostet überall unterschiedlich viel, es clasht eigentlich die ganze Zeit, und gleichzeitig gehört man doch irgendwie zusammen. Das merkst du, wenn du ein Metal-Magazin liest – Rock Hard, Metal Hammer –, da wird alles zusammengeführt. Grindcore, Power Metal, Death Metal, Black Metal, alles nebeneinander. Allein schon durch die Medien ergibt sich so eine Zusammengehörigkeit. Insofern spiegelt es vielleicht einen liberal-pluralistisch-demokratischen Geist, wo man sich fetzt, weil es wirklich auch Differenzen gibt, aber es ist in letzter Konsequenz doch dann nicht ganz sektiererisch.

Man hat sich schon auch umgebracht, oder?
Haha, ja, aber doch dann eher selten. Das gehört zumindest nicht zur Tagesordnung.

Offenbar ging es damals in Norwegen (Anm.: die norwegische Death-Metal-Szene brannte Kirchen ab, worauf diese um die Uhr bewacht werden mussten; auch kam es unter den Musikern zu ideologisch motivierten Morden) um die Verteidigung eines bestimmten Freiheitsverständnisses. In den Augen dieser Szene stand organisierte Religion mit ihren Kirchen für das Gegenteil von Freiheit. Habe ich das richtig verstanden?
Und darüber wurden sie selbst religiös. Denn sie haben im Grunde nichts anderes gemacht als die frühen Christen, welche die Tempel der Heiden zerstörten. Ich glaube, dieser Furor der skandinavischen Extreme-Metaller ist eigentlich Metal-untypisch. Denn die wurden richtig aktivistisch. Die wollten die Kirche wirklich aus dem Land haben. Der klassische Heavy Metal operiert eher im symbolischen Raum. Metallica, Megadeth oder Judas Priest, Slayer, da gibt’s keine politische aktive Bewegung, die damit verbunden wäre. Das war bei den Black Metallern anders. Menschen, die davon überzeugt sind, das Gute, Wahre und Richtige gefunden zu haben, neigen ja oft zu Gewalt. Weil man es auch durchsetzen will, wenn man quasi den heiligen Gral in Händen hält.

Es gibt die These, dass das Apokalyptische Halt gebe in einer Gesellschaft, der es fast zu gut gehe. Du schreibst auch, dass von Mexiko bis Moskau und Südamerika Heavy Metal, Folk-Metal, Mittelalter-Metal und all diese Arten, die das Apokalyptische an sich haben, auf dem Vormarsch sind. Verliert sich die Welt im Sumpf des Wohlstands?
Da müsste man prophetische Kompetenzen haben. Was diese neue, weite Verbreitung vielleicht anzeigt: Wir leben in einer Umbruchszeit, es ist grade alles offen, man weiss nicht so recht, in welche Richtung es kippt. Ob alles mal autoritärer wird, ob die Demokratie doch nochmal kommt, wie’s mit dem Klima weitergeht. Sehr viele Variablen sind im Spiel, es gibt sehr viele Risiken zurzeit. Metal ist eine Musik, die dem Ausdruck verleihen kann. Wo diese ganzen, auch düsteren Themen immer sehr offen verhandelt wurden. Vielleicht wächst Heavy Metal deswegen global, weil es einfach ein Medium für das Apokalyptische ist, das derzeit wieder relevant ist. Ich fand das sehr interessant während der Corona-Pandemie. Da hiess es oft: Wir hätten nie damit gerechnet. Ich sage: Ihr habt einfach zu wenig Metal gehört! Da ist ständig die Rede von Pandemien, Seuchen, Krisen, Tod, Verderbnis, Fäulnis. Wenn jemand vorbereitet war, dann die Metaller. Insofern ist vielleicht die Verbreitung von Metal ein ästhetisches Resistenztraining für diese Härten des Lebens, die jetzt bevorstehen, und eine Einstimmung auf die Apokalypse im Sinne eines Untergangs und Neubeginns.

Die ganze Ästhetik – auf der einen Seite das schwarze Album von Motörhead und Spinal Tap, let’s not forget, und auf der anderen Seite diese post-Rodin-post-mittelalterlichen episch-biblisch-schlangenbekämpfenden Schwertkämpfer –, man könnte sagen, das ist wie Fantasy-Literatur. Aber aus deiner gerade beschriebenen Sicht könnte man es auch als eine Gegenwartsanalyse auf symbolischer Ebene betrachten.
Im Grunde so, wie es auch bei der Bibel der Fall war. Das letzte Buch des Neuen Testaments, die Offenbarung des Johannes, ist ja eigentlich reine Fantasy-Literatur. Mit Spektakel, Horror, mit allem, was man sich wünscht. Aber es sind natürlich auch Symbole und Metaphern für die damalige Gegenwart. Im Metal ganz ähnlich. Du beschreibst die Verhältnisse vielleicht nicht so direkt wie beim Hip-Hop, wo es eher darum geht: Hey, auf der Strasse passiert gerade das, in der Umgebung läuft’s gerade so. Metal verpackt die Gegenwart in apokalyptische Metaphern. Vielleicht wirkt es auch darum wie – wie soll man sagen? – wie Religion. Warum hat sich die Offenbarung des Johannes so global verbreitet? Das sind einfach Bilder, die gut funktionieren, in Afrika, Asien, Europa, überall. Bilder, die starke Affekte auslösen. Und da Metal auch mit solchen Bildern operiert, ist es auch so ein trans-nationales Genre geworden. Ich glaube, das sind Chiffren für die Gegenwart. Man sieht die Gegenwart durch die Chiffren des Mythologischen, des Fantastischen. Und damit ist Metal eigentlich auch schon ziemlich gut vorbereitet für Zeiten der Zensur. Bei Zensur kannst du dich nicht direkt ausdrücken, musst immer Umgehungsstrassen nehmen, die Bedeutung des Gesagten mittels bestimmter Codes und Symbole kaschieren. Metal macht sowas schon seit sehr langer Zeit.

Woher kommt das oft ans Selbstparodistische gehende Vokabular, die Namen, die Albumtitel? Grossartig, die kreative Energie, die in diese bizarren Wort- und Namensschöpfungen fliesst!
Das ist das Lustige am Metal. Auf der einen Seite ist es häufig sehr ernst gemeint, die grosse Geste, das Monumentale. Auf der anderen Seite spürt man oft auch eine Form von Selbstironie. Ein Name wie Megadeth, das kannst du ja gar nicht parodieren – auch noch ohne «a»! Oder Metal Church. Die Selbstironie zeigt, dass wir schon auch wissen, was wir tun, so überdreht und übersteigert, dass es ins Groteske geht. Man fährt die Ästhetik bis an ihre Grenzen, wo sie sich selbst unterwandert. Das gibt’s im Metal. Aber es gibt auch Dumm-Metal, wo Leute das mit heiligem Ernst betreiben. Metal ist eigentlich immer too much. Es gibt auch Gegenbewegungen. Metallica waren eine Gegenbewegung zum Hair Metal, sie trugen Jeans, T-Shirt, Sneakers, Lederjacke. Man wollte wegkommen von den barocken Gesten. Metal ist wohl einfach so pluralistisch, dass es wie in der Kirche all die verschiedenen Konfessionen gibt, die miteinander ringen und streiten. Mal geht’s ins Parodistische, Peinliche, mal ins Puristische, Protestantische.

Gibt’s Metal-Bands, die von John Cage beeinflusst sind?
Es gibt ein paar Cover-Versionen von 4’33’’ von Metal-Bands auf Youtube. Stehen sie halt dann einfach im Metal-Look da. Ansonsten fällt mir grad nichts ein. Vielleicht in der Mr.-Bungle-Ecke, die haben zumindest Kenntnisse von Fluxus und so.

In einem anderen Buch (Bill Peel, «Tonight it’s a World We Bury – Black Metal, Red Politics», Repeater Books, 2023) wird dargestellt, wie all diese Sub-Stile von Metal äusserst wichtig sind für die Sozialisierung von Teenagern. Und gleichzeitig, wie Bands, die für diese Sozialisierung so wichtig werden, dass sie über die Grenzen des Genres hinaus Erfolg geniessen, genau damit ihre Glaubwürdigkeit verlieren. Einerseits erfordert es harte Arbeit, um von einer Genre-Gruppierung als dazugehörend akzeptiert zu werden. Andererseits braucht jede solche Gruppierung Jungblut, um nicht zu versteinern. Wieder so ein Paradox…
Jaja. Da sind wir wieder ein bisschen beim Anarchismus. Was mich immer interessiert hat, sind Bands, die versuchen, die eigenen ökonomischen Zügel in der Hand zu behalten, und «to practice what you preach». Nicht wie Rage Against the Machine, die irgendwie ein kommunistisches Programm in den Lyrics haben und dann doch bei einem Major unterschreiben. Da fand ich immer Leute wie Henry Rollins super, die mit der eigenen Plattenfirma, mit dem eigenen Verlag unterwegs sind. Das entspricht eher dem anarchistischen DIY-Ideal.

Im Punk war es ähnlich. Jemand, der Erfolg hatte, galt automatisch als suspekt. Ich nehme an, beispielsweise Metallica ist auch vor diesem Background gross geworden. Das muss ja ein komisches Gefühl sein, plötzlich als superreicher Gigant durch die Welt zu reisen!
Das ist wiederum eine sehr symbolische Situation für die heutige Gesellschaft. Es ist oft der Business-Punk, der es dann ganz nach oben schafft, weniger die braven, den Gruppengesetzen Angepassten, sondern eher die etwas Abseitigen, Originelleren, aber halt nicht ganz so Radikalen. Da passen Metallica super rein. Metal-radikalisiert, aber gleichzeitig smarte Geschäftsleute und insofern «the best of both worlds». Transgression – schneller, härter – und gleichzeitig sehr geschäftssinnig. Ein altes Spiel im Metal: Jemand schafft’s nach oben, sogleich werden Sell-out-Vorwürfe laut. Genauso wie im Hip-Hop.

Das ist dann auch eine Art Apokalypse.
Der Höllensturz der Verdammten! Ich kann verstehen, dass man Metallica kritisch sieht. Ein Riesenbusiness mit unglaublichem Management rundum, das auf jeden Trend springt und alle möglichen Produkte verkauft. Gleichzeitig bringt sowas Metal in den hintersten Winkel der Welt, bringt die Leute zumindest mal in Kontakt damit. Dann kommen sie vielleicht auch mit extremeren Sub-Genres in Kontakt und entwickeln sich weiter.

Die unglaubliche Vielfalt von Sub-Genres zeugt von einem ständig sich erneuernden Umfeld. Die Szene ist letztlich doch sehr offen.
Das wird im Metal oft übersehen. Man hat dieses Image, das stark aus den Medien kommt, einer geschlossenen Bruderschaft. Dass Metal konservativ sei, dass sich da nichts ändere. Das ist empirisch einfach falsch. Grad all diese Sub-Genres zeugen davon, dass man sich immer wieder abgrenzt, Neues schafft. Kaum hat sich Death Metal etabliert, kommt Melodic Death Metal und sagt: Wir wollen hier nochmal einen anderen Akzent setzen. Kaum ist der akzeptiert, etabliert sich wieder eine andere Variante, die das kritisiert.

Was ich auch spannend fand in deinem Buch, ist der Vergleich zwischen Blues und Metal. «Keine Genres für Gewinnertypen».
Musikhistorisch sagt man, Metal löst sich vom Blues. Das stimmt schon, musikalisch. Die Bluesform wird aufgegeben. Die Form wird offen, die Musik wird riff-basiert, diese klassischen Blues-Schemata sind mehr oder weniger Geschichte. Aber gleichzeitig, finde ich, tritt Metal sozusagen die Nachfolge des Blues in soziologischer Hinsicht an. Blues richtet sich ja an die, denen es vielleicht nicht so gut geht. Das ist im Heavy Metal auch so. Nicht der Happy-go-lucky-Poptyp, let’s celebrate and dance, sondern die Apokalypse ist immer im Bewusstsein. Wenn man im Metal feiert, dann im Bewusstsein, dass es zu Ende sein könnte, dass die nächste Seuche bald kommt, der nächste Krieg bevorsteht. Nicht: Let’s forget everything.

Oder man trifft den Teufel an der Kreuzung.
Genau. Wie im Blues. Der Teufel ist immer irgendwo ums Eck. Deswegen kann man Metal mit dem mittelalterlichen Memento mori vergleichen. Er warnt, hält das Bewusstsein wach, dass es den Tod gibt, Krankheit, Seuchen, Klagen, Leid auf Erden. Und dass man das nicht so einfach unterdrücken und verdrängen kann. Blues hatte eine ähnliche Funktion. Jedenfalls, bevor daraus ein durchakademisiert-normalisiertes Genre wurde.

Warum muss Heavy Metal so laut sein? Ist die Apokalypse laut?
Kennst du das neue Buch von Hartmut Rosa? Das ist der Soziologe, der die Resonanztheorie geprägt hat. Er ist Soziologe, eher religiös gesinnt, führt in einem anderen Buch aus, warum die Demokratie Religion braucht. Und er ist Metal-Fan. Er argumentiert, dass die Lautstärke eine andere Resonanzerfahrung erzeugt und eine eher körperliche Dimension hat. Ich kann Musik auch in geringer Lautstärke hören, aber dann habe ich eher ein kognitives Erlebnis. Dieser Lautstärkenkult im Metal ist nicht einfach Kult, sondern es geht darum, dass die Musik den ganzen Körper erfasst und in Schwingung versetzt. Finde ich eigentlich sehr einleuchtend.

Nur gehen dann die Ohren kaputt.
Dann hört man halt mit dem Rest des Körpers. Metal ist auf der einen Seite eine sehr kognitive Musik mit vielen komplexen Patterns, Soli, alles auskomponiert. Auf der anderen Seite ist es sehr körperlich. Auch da «best of both worlds», vielleicht.

Mit der Band damals hatten wir einen kleinen Proberaum, und ich stand neben dem Amp des Bassisten, habe immer den Sound voll aufs Ohr bekommen, und das ist bis heute das schlechtere Ohr. Aber Tinnitus habe ich nicht.

Malmzeit ist also quasi der Selbsterhaltungstrieb, der hervorgetreten ist? (Anm.; Malmzeit ist Schellers seit über zwanzig Jahren bestehendes Duo, das Heavy Metal auf Bestellung ins Haus liefert wie Pizza; dabei sind die Herren in Anzüge gekleidet, spielen im Sitzen und trinken nur Tee.)
Genau. Das bürgerliche Sicherheitsbedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit. Aber wenn der Kunde das richtig laut haben will, liefern wir das auch. Wir haben unsere Ohrstöpsel dabei, in dem Sinn sind wir relativ safe.

Wie kommt das bei den «richtigen» Heavy-Metal-Leuten an, so eine ironische Hinterfragung?
Gemischt! Je nach Ironiefähigkeit. Es gibt Leute, die nehmen Manowar ernst. Und Leute, die Manowar ernst nehmen, die hassen Malmzeit. Naturgemäss. Und Metal-Liebhaber, die Ironie oder das Absurde bei Manowar erkennen können, die überhaupt vielleicht ein kritisches und reflexives Verhältnis zu Metal haben, die mögen uns wiederum sehr gern. Denn wir machen uns ja nicht über Metal lustig. Wir haben uns damals überlegt: Wie können wir es anders machen, nicht in diese Klischeeposen reingehen. Das konnte ich irgendwann nicht mehr: auf die Bühne stehen und den hier (Gitarrero-Pose) machen, immer die gleichen Posen, Bein auf die Box, schreien. Da kommt man sich mit der Zeit albern vor. Insofern fanden wir es eine viel radikalere Geste, uns hinzusetzen, Anzüge zu tragen, übers Wetter zu singen und Tee zu trinken. Das kann durchaus auch eine Provokation sein. Manche provoziert es auch wirklich. Es gibt ein Bild von einem unserer Konzerte, wo eine Reihe von Zuhörern demonstrativ mit dem Rücken zur Bühne sitzt. Aber die waren noch jung und sehr identitär.

Das Konzept würde nicht funktionieren, wenn ihr nicht so gut Gitarre spielen könntet, oder?
Kann schon sein. Man zeigt dann auch ein bisschen, dass man könnte, wenn man wollte…

Das ist auch ein Punkt – was immer man im Metal macht, das Wichtigste ist, dass es organisch erarbeitet und gefühlt wird.
Richtig so. Im Metal wird es geschätzt, dass man sich vertieft mit der Materie auseinandersetzt. Der Metaller goutiert Materialkenntnis. Man fachsimpelt sehr gern. Man sagt nicht: Ich hab da diesen einen Song von dieser einen Band gehört und ich fand den ganz gut. Sondern man muss dann schon wissen aus welchem Jahr, welches Album, welche Besetzung. Wenn so ein paar Typen ein Metal-Kostüm anziehen und sich ein paar Riffs anschaffen, dann wird das in der Szene nicht ernst genommen. Kann man im Retortenpop machen.

«Langsame Prozesse sind halt auch nachhaltiger, als wenn das Kulturstaatsministerium käme und sagen würde, in allen Metal-Bands müssen jetzt mindestens 50 Prozent Frauen sein.» 

Du bemerkst irgendwo, dass Frauen weniger auf apokalyptischen Metal ansprechen. Worauf führst du das zurück?
Wenn man die Frage polemisch stellt, kann man fragen: Hat Metal ein Problem mit Frauen? Oder haben Frauen ein Problem mit Metal? Oder haben beide ein Problem miteinander? Ich glaube, traditionell war Metal ein bisschen männerbündlerisch, Kids, die sich in diesen Bandkollektiven organisiert haben als verschworene Gemeinschaft. Und du hältst die anderen eher aussen vor. Und nach traditionellen Geschlechterrollen hat man den Jungs eher nachgesehen, wenn sie so eine Phase hatten, wo sie die Hörner abstossen, ein bisschen saufen, ein bisschen aggressiver waren. Bei den Mädchen hat man das viel stärker tabuisiert. Die Jungs lässt man ein paar Jahre lang Metal machen, dann kommen sie schon wieder zur Vernunft, aber bei den Girls schaut man, dass sie gar nicht erst da reingehen. Was es dann aber auch wieder sehr viel interessanter für Frauen macht, weil Metal ja gerade Musik ist, die nicht von ihnen erwartet wird. Du kannst mit Metal sehr viel stärker Geschlechterklischees aufbrechen als Frau oder Drittgeschlechtlicher oder Trans, Queer, Inter, was auch immer, gerade weil es traditionell so maskulin konnotiert ist. Viele Metallerinnen sagen, dass sie genau deswegen dort reingegangen sind.

Es gibt ja heute auch viel mehr als nur schon vor zehn, zwanzig Jahren.
Ja. Die Entwicklung geht in eine absolut tolle Richtung. Was ich immer schön finde, ist, wenn Diversity nicht von oben orchestriert wird, wenn da nicht jemand darüber wacht, dass gleich viele Männlein und Weiblein repräsentiert sind, sondern dass es sich organisch entwickelt. Und im Metal gehen jetzt mehr Frauen in Bands, gründen Bands, sind auch prominent. Alissa White-Gluz von Arch Enemy zum Beispiel ist schon eine globale Ikone mittlerweile. Da tut sich was. Braucht natürlich seine Zeit, aber so langsame Prozesse sind halt auch nachhaltiger, als wenn das Kulturstaatsministerium käme und sagen würde, in allen Metal-Bands müssen jetzt mindestens 50 Prozent Frauen sein. Sowas funktioniert nicht. Soziale Gruppen kann man nicht designen. Da bin ich dann wieder Anarcho.

Mein grosser Liebling ist ja kein Metaller, ich weiss gar nicht, was er musikalisch präferiert, aber es ist Spongebob, Schwammkopf, die Zeichentrickfilmfigur. Spongebob sagt: You cannot change a person, but you can be the reason for a person to change. Das find ich sehr schön. Übertragen auf Frauen im Metal: Man braucht Vorbilder und Leute, die gewillt sind, Frauen zu featuren, über sie zu schreiben. Man braucht vor allem Frauen, die das selber aktiv betreiben, die das verkörpern.

Ich habe immer recht viele Frauen gekannt, die auf Metal standen. Zum Vergleich: Schon vor dreissig Jahren hatte es in einem Heavy-Metal-Konzert viel mehr Frauen als in einem King-Crimson-Konzert.
Ja! Ich glaub auch im Metal waren sie eigentlich immer schon da, immer schon unterwegs. Aber das wird oft nicht repräsentiert in den Medien oder wenn, dann halt so klischeehaft, «oh, die Powerfrau, oh, wir haben da wieder eine so herausragende einzelne Frau, da schaut her». Statt dass man ganz selbstverständlich die Musik anschaut, die Performance anschaut, darüber berichtet, was sie eben machen. Das haben Motörhead übrigens immer getan. Die fand ich immer absolut sympathisch. Die haben Girlschool mit auf Tournee genommen, Lemmy hat seine Duette gemacht mit Frauen. Das Herz auf dem rechten Fleck.

Die Klischees und Exzesse wurden vor mehreren Dekaden in «This is Spinal Tap» herrlich auf die Schippe genommen. Wie wird dieser Film eingeschätzt von den Heavy-Metal-Fans?
Ich glaub, die Jüngeren kennen ihn inzwischen nicht mehr so. Aber bei den älteren ist er natürlich Kult. Was wiederum zeugt von dieser Ironiefähigkeit der Szene. Dieses immer wieder Zerbrechen an der Grösse der eigenen Geste. Das ist ein bisschen das Prinzip des Metal. Tod und Teufel, Himmel und Hölle, Leben und ich weiss nicht was alles, diese Riesenthemen. Und am Ende ist es halt doch auch Geisterbahn, Kulturindustrie, Spektakel – und einfach Pop. Und das mag ich am Metal immer noch sehr gern. Hat auch etwas Rührendes. Das sich Abarbeiten an diesen grossen Themen und am Ende ist es halt ein Song mit einem Totenkopf auf dem Cover.

Wenn in den 90er- und 00er-Jahren ein Interview ins Stocken geriet, musste man bloss ein Zitat aus Spinal Tap auftischen und gleich lief alles wieder wunderbar.
Meine Lieblingsszene ist immer noch die, wo sie in den Katakomben des Stadions verloren gehen. Sie rennen los, «rock’n’roll», rennen und rennen und wenn sie ankommen, ist das Konzert vorbei. Oder auch die Szene mit dem Verstärker. These go up to eleven! Sowas wird nicht alt.

Was hörst du jetzt so?
Es gibt Klassiker, die hör ich gern beim Training, AC/DC, Guns N’ Roses, Metallica. Classics, die man so gut kennt, dass man auch mal vergessen kann, dass sie als Kulisse laufen. Sonst habe ich in den letzten Jahren nicht so viel kennengelernt, was mich geflasht hätte. Wohl eine Alterserscheinung. Chthonic aus Taiwan finde ich nach wie vor super. Es ist interessant, wie sie diesen eigentlich norwegisch-identitären Metal entdeckt und dann in ihren Begriffen und für ihren Hintergrund und ihre Erfahrungen neu interpretiert haben. «Aha, die Norweger setzen sich für ihre indigenen Traditionen ein, das müssten wir hier doch eigentlich auch tun.» Bei den Norwegern ist es rechts-konnotiert, aber Chthonic sind links. Da sieht man, wie sich die Begriffe und Konzepte verschieben, je nachdem in welche Welt und Gegend man kommt. Dann hör ich immer noch sehr gern Nashville Pussy, das ist schmutziger Schweinerock, finde ich immer noch sehr angenehm. Riverside, polnisch, pink-floydig, aber besser als Pink Floyd. Dann Necromorph, eine deutsche Grindcore-Band, sehr solide produziert, stabil, kapitalismuskritisch, die sehr gut ballert. Total lustig, der Mundart-Grindcore von Muggeseggl – die singen auf Alemannisch. Du verstehst nichts, aber es soll alemannisch sein.

Fast schon dadaisitisch.
Jaja, posieren auch so in Bauernmonturen im Weinberg. Dann hab ich immer wieder so Manowar-Rückfälle. Das ist so krass grotesk und peinlich, dass es eben wieder geil ist. Dann mache ich aber oft auch Ausflüge in die Klassik.

So weit weg ist das ja nicht.
Eben, oft ist es sehr nah dran.

Wie bist du denn als Heavy-Metal-Fan bei Straight Edge gelandet? Ist ja viel mehr eine punkige Geschichte. (Anm.: Eine in den USA gestartete spätere Form von Hardcore-Punk, dessen Anhänger keinerlei Alkohol und Drogen konsumieren, dafür auf körperliche Fitness setzen.)
Dadurch, dass ich recht früh in die Metalszene kam, mit 13, war ich sehr früh mit diesem Saufen konfrontiert. Und mich hat das einfach immer angewidert. Ich mochte das nie. Da trinkst du als Teenager ein paar Bier bei einem Konzert, und mir hat das Zeugs einfach nicht geschmeckt. Ich mochte die Rituale nicht und ich mochte vor allem auch den Gruppenzwang nicht, dass Drogen und Musik so unmittelbar verbunden waren. Da fühlte ich mich unter Druck gesetzt. Man kann mich in alles Mögliche gut einbinden, kann mit mir arbeiten, kann mich überreden, kann Argumente darlegen, dann bin ich für vieles zu haben. Aber ich reagiere nicht auf Druck. Und dieser implizite oder explizite Druck, du musst jetzt auch saufen, noch einen Schnaps nach dem Bier, damit konnte ich nicht. Da war Straight Edge ein sehr guter Ausweg. Du konntest in diesem gegenkulturellen Bereich bleiben, diesem rebellischen Bereich und musstest gleichzeitig nicht bei den Drogenritualen mitmachen. Ich fand schon damals das Paradox interessant, dass man so eine bürgerlich-asketisch-abstinenzlerische Dimension kombiniert mit einer rebellischen Underground-Dimension: eine total reizvolle Kombination. Und davon habe ich mich innerlich nie distanziert. Dahinter stehe ich noch heute. Es werden zu viele Verbrechen durch Drogen begünstigt. Man setzt Soldaten unter Drogen, um sie in den Krieg zu schicken. Vergewaltigung, sexualisierte Gewalt hat oft mit Alkohol-Enthemmung zu tun. Darum habe ich mich so entschieden, aber es hatte nichts mit der Musik zu tun. Ich mag einige Sachen sehr gern im Straight Edge, Strife, das Album One Truth etwa. Fugazi liebe ich heiss und innig. Henry Rollins. Die Faszination im Metal war für mich ganz klar die Musik.

Ist es möglich, dass du nie die Apokalypse eines richtigen Katers erlebt hast?
Als Jugendliche haben wir durchaus mit dem Vollrausch experimentiert. Aber ich merkte schnell, dass das nichts für mich ist. Die konstruktive Energie des Straight Edge Hardcore überzeugte mich eher. Und eine wirkliche Apokalypse bedeutet ja die Offenbarung von etwas Neuem und Besserem. Ein Vollrausch ändert erstmal gar nichts. Man krebst einfach langsam wieder zum Normalzustand zurück. Andererseits: Ein Vollrausch, der einen erkennen und beschliessen lässt, den Vollrausch sein zu lassen – das hat zumindest minimale apokalyptische Qualitäten.

Das muss ja irrsinnig Disziplin gebraucht haben, das in dieser Umgebung durchzuziehen.
Jaja, bis heute. Ich bin im Vereinsvorstand Metal Storm Concerts, und da wird um einen rum natürlich getrunken. Du bist immer derjenige, der nicht trinkt, und derjenige, der sich irgendwie erklären muss. Wer trinkt, muss sich nie erklären, das gehört dazu. Wenn man straight edge ist, merkt man erst, wie viel in der Gesellschaft auf Alkohol basiert. Andererseits verehre ich Lemmy, und der hat gesoffen, und wie! Ein Pegeltrinker. Ich glaub auch gar nicht an eine Prohibition, die Entscheidung muss man selber fällen. Und für mich passt das ganz gut.

Ein apokalyptisches letztes Wort?
Die Apokalypse bedeutet ja eigentlich nicht den Untergang, sondern die Offenbarung. Das ist die ursprüngliche Bedeutung im religiösen Sinn: dass sich die letzten Geheimnisse enthüllen. Das übersieht man oft, wenn man von diesen Hollywood-Filmen mit Weltuntergängen herkommt. Insofern war Metal eine Offenbarung für mich. Da ging wirklich eine neue Welt auf. Bis heute empfinde ich eine gewisse Dankbarkeit diesem Genre gegenüber, auch wenn’s eine Hassliebe ist, und viel Peinliches darin steckt, viel Prolliges, vieles was mich stört. Aber dafür, dass es mir damals eine neue Welt aufgetan hat, bin ich bis heute dankbar. Möchte auch diese Verbindung nicht abbrechen. Kleine Offenbarung.

 

Link zur Playlist von Jörg Scheller auf Spotify

 

Holger Jacob hat Jörg Scheller in Zürich vor einigen öffentlich zugänglichen Totentanz-Motiven Harald Naegelis fotografiert. Wo sie überall zu finden sind, ist auf der Website sprayervonzürich.com verzeichnet.

Ausgabe 06/2024 – Focus «Apokalypse»

Jörg Scheller fotografiert von Holger Jacob

Inhaltsverzeichnis

Focus

Heavy Metal und die grosse Deadline
Der Musiker und Kunstwissenschaftler Jörg Scheller im Interview
Link zum ausführlichen Gespräch 
Link zur Playlist

Das Ende der Zeiten in Musik gesetzt
Vertonungen der Offenbarung im Laufe der Jahrhunderte

Allgegenwärtige Apokalypse
Über Facetten eines viel verwendeten Begriffs

Die Apokalypse als Ventil
Zwei Lausanner Metaller über die Szene und ihre Beweggründe

Zuhören oder vom Verhindern des musikalischen Niedergangs
Steckt die Musik in einer Krise?

 (kursiv = Zusammenfassung in Deutsch des französischen Originalartikels)

Critiques

Rezensionen von Tonträgern, Büchern, Noten

Echo

Das neue Jazzhaus in Zürich
Das Zurich Jazz Orchestra hat eine Heimat gefunden

Radio Francesco
Lili Marleen (Ausschnitte aus O Lungo Drom, interpretiert vom Alban-Berg-Ensemble Wien, können in der Sendung «Pavillon suisse» vom 30. April 2024 nachgehört werden, bei 1:56:55)

Des racines à la nature
La rythmique Jaques-Dalcroze poursuit son évolution

Chatten über …
Johannes Rühl und Noémi Büchi: Zukunftsmusik, die 100 Jahre in der Nationalphonothek aufbewahrt und erst dann gespielt werden soll

Die Klassikbranche und ihre dringlichen Fragen
Classical:Next 2024

Mechanismen im Musikgeschäft
Workshop in St. Gallen

Neues Chorkonzept
Boys Choir Luzern mit «Bilder (k)einer Ausstellung» im April im Maihof Luzern

Orpheus multimedial
Bilderreigen und Musikcollage

Friedenskonzert
Parallel zur Ukraine-Konferenz auf dem Bürgenstock

Die AHV-Philharmonie
Profis im Ruhestand geben gemeinnützige Konzerte


Basis

Artikel und Nachrichten aus den Musikverbänden

Eidgenössischer Orchesterverband (EOV) / Société Fédérale des Orchestres (SFO)

Konferenz Musikhochschulen Schweiz (KMHS) / Conférence des Hautes Ecoles de Musique Suisse (CHEMS)

Kalaidos Musikhochschule / Kalaidos Haute École de Musique

Schweizer Musikrat (SMR) / Conseil Suisse de la Musique (CSM)

CHorama

Schweizerische Gesellschaft für Musik-Medizin (SMM) / Association suisse de Médecine de la Musique (SMM)

Schweizerische Musikforschende Gesellschaft (SMG) / Société Suisse de Musicologie (SSM)

Schweizerischer Musikerverband (SMV) / Union Suisse des Artistes Musiciens (USDAM)

Schweizerischer Musikpädagogischer Verband (SMPV) / Société Suisse de Pédagogie Musicale (SSPM)

SONART – Musikschaffende Schweiz

Stiftung Schweizerischer Jugendmusikwettbewerb (SJMW)

Arosa Kultur

SUISA – Genossenschaft der Urheber und Verleger von Musik

Verband Musikschulen Schweiz (VMS) / Association Suisse des Écoles de Musique (ASEM)

 

Vom Wasser angezogen
Rätsel von Walter Labhart

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Die Klassikbranche und ihre dringlichen Fragen

Das internationale Treffen Classical:Next fand erstmals in Berlin statt. Mehr 1400 Menschen aus 49 Ländern haben an dem intensiven Vernetzungs- und Bildungsprogramm vom 13. bis 17. Mai 2024 teilgenommen – aber nur wenige aus der Schweiz.

Nach der erfolgreichen Vergangenheit in Rotterdam war der Abstecher nach Hannover nicht sonderlich geglückt. In Berlin nun erhofften sich die Veranstalter mit tatkräftiger Unterstützung der Berliner Kulturpolitik ein geeignetes Umfeld. Glanzvoll eröffnet im Pierre-Boulez-Saal, wurde die elfte Ausgabe der Classical:Next im alten Kino Colosseum im Prenzlauer Berg und am Holzmarkt in Friedrichshain erfolgreich durchgeführt, ergänzt durch eine Messe, an der sich nationale Kulturorganisationen, Veranstalter und Dienstleister vorstellten. In 16 Showcase-Konzerten und 21 Projekt-Pitches wurde eine breite Palette aktuellen Musikschaffens präsentiert, vom wundervollen Oorkaan-Ensemble aus den Niederlanden über immersives XR-Musiktheater bis zum «tanzenden» Kammerorchester Geneva Camerata.

Eröffnung im Pierre-Boulez-Saal. Foto: twinematics/Classical:Next 2024

Das weltweit grösste Branchentreffen für Fachleute des diversifizierten Kulturbereichs «klassische Musik» stellte Fragen, welche schon in der Vergangenheit relevant waren, neu und prononcierter: Wer sind die Partner in unserem Netzwerk? Wer kann sinnvollen Input auf einem europäischen Level teilen? Was können etablierte Institutionen, Hochschulen, Theater oder Konzerthäuser, jungen Ensembles und ihren Publika eigentlich bieten? Die zahlreichen jungen Kulturverantwortlichen stellten Fragen nach verantwortlicher Verwendung digitaler (Nutzer-)Daten, nachhaltiger Karriereplanung, anderen Modellen bei Wettbewerben oder inklusivem Personalmanagement bspw. bei Neubesetzung von Orchesterstellen.

Die Zukunft der Branche

Zahlreiche Beiträge des dichten Tagungsprogramms mit mehr als 30 international besetzten Sessions kreisten um Themen wie organisationales Change Management, Audience Development, Künstliche Intelligenz und generell um Fragen der Best Practices. Das Motto «Die Zukunft der Klassik» wird als Arbeitsauftrag verstanden, denn die Branche sieht sich glücklicherweise nicht in Frage gestellt, seien es Ensembles, Musikzentren oder Hochschulen. Jedoch äusserten viele der Teilnehmenden abwartende Vorsicht ob der sich abzeichnenden Verschiebungen der politischen Verhältnisse.

Musikalisches Schaffen aus vielen Ländern wurde an der Messe vorgestellt. Foto: twinematics/Classical:Next

Raus aus den Schubladen

Mit erheblicher Vehemenz wurde das bereits früher vorgebrachte Bedürfnis nach Öffnung der Genres geäussert. So ist Genre-Fluidity für die australische Musikerin Xani Kolac und den Leiter des Labels Nonclassical Gabriel Prokofiev aus London bereits erfolgreich gelebte Arbeitsrealität – nach jahrelangem «unlearning» der an Hochschulen nach wie vor verlangten Spezialisierung. Die Zersplitterung des Publikums ist eine Tatsache, welcher unterschiedlich begegnet wird: zielgruppenspezifische Kommunikation (die einen bekommen ihre Opuszahl-Angaben, die anderen ein Tiktok-Schnipselchen), Community-Projekte und immer noch beliebt: der aussergewöhnliche Konzertort. So ist die Kategorisierung einerseits ein Hemmnis, sich neue Publikumssegmente zu erschliessen (und wer mag schon Crossover sein?), andererseits noch immer notwendig, um sich Geldgebern verständlich zu machen. Es wird wohl stillschweigend gehofft, dass diese Diskrepanz mit der Zeit abnimmt, da der Publikumsnachwuchs die Konzerttraditionen ohnehin verändert.

Ökologisches Verhalten von oben initiieren

Das Thema Nachhaltigkeit im Klassikbetrieb gewinnt an Dringlichkeit. Klimabotschafterin Lea Brückner veranstaltet Green-Monday-Konzerte im regulären Saisonprogramm der Tonhalle Düsseldorf, in welchen eine konkrete CO2-Reduktion eingeplant und mit dem Haus sowie mit dem Publikum realisiert wird. Das Ludwigshafener Sustainable Impact Model sucht Wege, die Wirkung des Klassik-Jahresbetriebs erweitert darzustellen und die eindimensionale Kennzahl «Jahresauslastung» sinnvoll zu ergänzen. Eine solche Haltungsänderung ist nur nachhaltig und überzeugend, wenn sich Institutionen von der Spitze her zum Handeln entschliessen –Konzerttourneen, wo CO2-Emissionen reduziert werden müssen, sind nicht der Hauptfaktor. Das Publikumsverhalten kann nur positiv beeinflusst werden, wenn die Veranstaltenden sich ernsthaft und nachweislich bemühen, den ökologischen Fussabdruck zu verkleinern.

Öffnung gegen schwindende Unterstützung

Am Eröffnungsabend im Pierre-Boulez-Saal fand der Berliner Kultursenator Joe Chialo lobende und bestärkende Worte – doch insgesamt wurde in zahlreichen Diskussionen von zurückgehender Unterstützung berichtet. Gleichwohl: Die Klassikbranche mit ihren unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren sollte die kulturellen Plattformen dem Diskurs zur Verfügung stellen, die Räume der (Stadt-)Gesellschaft öffnen und die Ausübenden sich ganz vehement als Schöpfer eines Ökosystems «kulturelles Erlebnis» verstehen.

Classical:Next-Innovation-Awards 2024 gingen an Extensión Usach (eine zur Universität Santiago de Chile gehörende Musikabteilung, die zahlreiche kostenlose Konzerte in benachteiligten Stadtvierteln anbietet), das in den USA beheimatete Gateways Music Festival sowie The Sound Voice Project aus England, das sich mit den Geschichten von Menschen mit Stimmverlust auseinandersetzt.

Auffällig war die Abwesenheit der Schweizer Musikwirtschaft; man kann hoffen, dass sich Wege (und Mittel) finden, diese internationale Plattform wieder mit hochkarätigen Botschafterinnen und Botschaftern der hiesigen Szene zu bespielen. Die nächste Classical:Next findet vom 12. bis 15. Mai 2025 erneut in Berlin statt.

Die Gewinnerin und due Gewinner des Innovation-Awards 2024. Foto: twinematics/Classical:Next

Kompakte Einführung ins Musikbusiness

Wer sich einen Überblick über die Mechanismen im heutigen Musikgeschäft verschaffen wollte, hatte am 10. und 11. Mai die beste Gelegenheit dazu. Ein Bericht.

Workshopteilnehmer werben vor Label-Vertretern (Robin Kreimeyer von Sony, links, und Andreas Ryser, Mouthwatering Records) für den Newcomer Qeller. Foto: Wolfgang Böhler

An der Hochschule St. Gallen kümmert sich ein Verein Studierender namens «Amplify» darum, dass an der Wirtschafts- und Management-Schmiede auch die Musik ihren Platz hat. Auf ihn ist das Music Managers Forum (MMF) Schweiz, der «schweizerische Verband der MusikmanagerInnen» zugegangen. Den Vorschlag, einen Workshop zu Berufsmöglichkeiten in der Musikbranche zu veranstalten, hat Amplify bereitwillig aufgenommen. Gelungen ist dabei auf Anhieb ein hochinteressanter Einblick in den Maschinenraum der Branche. Dass der Workshop unter dem Titel «Music Business 360°» sogar international eine Lücke füllt, zeigte sich nicht zuletzt daran, dass auch zahlreiche Interessierte aus Deutschland anreisten, um von Crashkurs und Networking profitieren zu können.

Die Karriere starten

Unter Mitwirkung von Talenten am Anfang ihrer Karriere spielten die Teilnehmer durch, wie Eigenmarketing auf den sozialen Medien, Kontakte zu Management, Labels und schliesslich Konzertorganisationen gestaltet werden müssen. Modell standen die real existierenden Newcomer Qeller, Katy Delusion und Manic Pixxies.

Da erfuhr man zunächst, dass mit Blick auf den Karrierestart im Musikbusiness ein ganz neuer Markt entstanden ist. Labels und Agenturen engagieren sich heute in der Regel, wenn Newcomer mit Hilfe von Onlineplattformen wie Spotify, Youtube, Instagram und Tiktok eine solide Fangemeinde aufgebaut haben und Singles, EP (Extended Play) oder ganze Alben inklusive Videomaterial bereits vorweisen können. Das hat den Markt für Start-ups geöffnet, die den Aufbau einer Fanbasis in den sozialen Medien aktiv mitgestalten. Vertreten waren in St. Gallen die Berliner Jukebird und die Londoner Playliveartist, die Unterstützung im digitalen Aufbau von Reichweite bieten.

Globale Nischen finden

Hellhörig machten Aussagen von Andreas Ryser, dem CEO des Schweizer Indie-Labels Mouthwatering Records mit Acts wie Black Sea Dahu und Evelinn Trouble. Ryser ist auch Präsident des Verbands unabhängiger Musiklabels der Schweiz. Die Indies haben ihre Stärken in den Nischen, die für die drei Grossen – Sony, Warner und Universal – wegen zu viel Aufwand in zu kleinen Märkten uninteressant sind. Der sehr kleine und überdies auch noch sprachlich fragmentierte Markt in der Schweiz müsste ein solche Nische sein – geografisch gesehen. Internet, Streaming und Social Media haben das Verständnis von Nischen allerdings völlig neu definiert und paradoxerweise globalisiert.

Wer sich in einer Nische positioniert, hat in einem Land möglicherweise eine viel zu kleine Community. Wer dieselbe Nische aber weltweit in allen Ländern findet, hat einen sehr interessanten Markt. Das führt dazu, dass in einer Nische Aktive auch in der Schweiz gar nicht mehr ein einheimisches Publikum ins Auge fassen, sondern von Beginn weg global zu agieren versuchen. Globalisierung, Diversität und Identitätspolitik haben den Markt darüber hinaus mittlerweile derart fragmentiert, dass man feststellen kann: Die Nische ist der neue Mainstream. Geografisch-lokale Identitäten spielen, wie Ryser weiter ausführte, in der globalen urbanen Musikszene kaum mehr eine Rolle.

Kasse machen mit «alten» Songs

Die Streamingdienste – Spotify, Apple, Amazon etc. – haben den Markt aber auch in anderer Hinsicht revolutioniert. Das erläuterte Robin Kreimeyer als Vertreter von Sony Music GSA (wobei GSA für «Germany, Switzerland and Austria» steht). Wurde früher mit Neuerscheinungen in der Anfangsphase Umsatz generiert, hören die Nutzenden auch (und vor allem) wieder die Musik vergangener Zeiten, womit sich der Umsatz eines Songs über Jahre, ja Jahrzehnte erstrecken kann. Die grossen Labels machen deshalb hauptsächlich mit dem Back-up-Katalog Kasse. Die Urheberrechte eines Musikers, einer Musikerin werden so zu einem Investitionsgut, vergleichbar einer Aktie, die über Jahre oder Jahrzehnte hinweg eine Dividende erzielt. Es erstaunt denn auch nicht, dass etablierte Top-Acts wie Bob Dylan, Bruce Springsteen, Neil Young, Rod Stewart und andere die Rechte an ihren Songs mittlerweile für zum Teil dreistellige Millionenbeträge veräussern können.

Schweizer Player im Aufwind

Der St. Galler Crashkurs endete mit einem Public Viewing des European Song Contests. Der Sieg Nemos unterstrich den Eindruck im Workshop, dass die Schweiz daran ist, zu einer gewichtigen Mitspielerin in der europäischen Kreativwirtschaft oder gar zu einer Trendsetterin der Branche zu werden.

Die Dynamik hat bereits alle Bereiche von Produktion und Management erfasst. Dienstleister wie die Aarauer Produktionsfirma Solver, die auch schon umfassende Konzerttourneen auf vier Kontinenten organisiert hat, oder die Zürcher NoHook, die in der Rap-Szene mittlerweile über die Landesgrenzen hinweg mitredet, dürften auch hierzulande bekannter werden. Die Szene vernetzt sich international immer intensiver. Gast in St. Gallen war zum Beispiel auch der legendäre englische Produzent und Manager Stephen Budd, der mit seiner Warmherzigkeit und Empathie im Coaching von Newcomern das Klischee der zynischen und materialistischen Musikbranche auf eindrückliche Weise relativierte.

Nina Mathys (Playliveartist) und Stephen Budd (Stephen Budd Music Ltd). Foto: Wolfgang Böhler

Innosuisse Scale-up Award für Matchspace Music

Patrick Koller und Olivier Kipfer haben 2020 die Plattform Matchspace Music gegründet. Innosuisse hat das Start-up im April zusammen mit weiteren 21 Unternehmen in die zweite Phase des Scale-up-Coaching-Programms aufgenommen.

Foto: 936+_+/depositphotos.com

Damit unterstützt Innosuisse, die Schweizerische Agentur für Innovationsförderung, Unternehmen im Wachstumsprozess. Verschiedene Coaches stehen beratend zur Seite, um das «Wachstum in der Schweiz zu beschleunigen und in neuen Märkten im Ausland Fuss zu fassen». (Link zur Quelle). Das Programm dauert 24 Monate.

Matchspace Music bezeichnet sich selbst als «aufstrebendes Schweizer Edutech Startup, das mit seiner innovativen Plattform Musikunterricht für alle Menschen zugänglich macht.» (Link zur Quelle )

Mit einem «Riesenhosenlupf» zum eigenen Haus

Nach jahrelanger Suche hat das Zurich Jazz Orchestra an zentraler Lage eine Heimat gefunden. Geschäftsführerin Bettina Uhlmann und Co-Leiter Daniel Schenker erzählen, wie es zum neuen Jazzhaus kam und was es für die Big Band bedeutet.

Das Zürcher Jazzhaus. Foto: Hannes Henz

Seit April ist das 1995 gegründete Zurich Jazz Orchestra (ZJO) an der Heinrichstrasse 69 in Zürich zu Hause, mitten im hippen Kreis 5. Das in einem Innenhof gelegene Haus, ein ehemaliger Handwerksbetrieb, wirkt auf den ersten Blick unscheinbar. Einzig die massiven Metalltüren und die leicht zu übersehende Beschriftung «Jazzhaus» deuten darauf hin, dass im Innern nicht etwa gewohnt wird, sondern die Musik spielt.

Vor bald 24 Jahren übernahm Bettina Uhlmann die Geschäftsführung des ZJO. «Alles, was ich damals vorfand, waren ein leerer Notenkasten, 16 rote Notenständer und etwas Schulden», erinnert sie sich – und schmunzelt. Doch sie war von der Aufgabe fasziniert und trug über die Jahre viel dazu bei, das ZJO zu etablieren. «Dafür war auch ein wenig Glück nötig. Zum Beispiel der Umzug des Jazzclubs Moods in den Schiffbau. Dadurch verfügte unser Orchester ab 2000 erstmals über eine passende Konzert-Plattform.»

Wenige Proben, ambitionierte Stilvielfalt

Als Uhlmann zum ZJO stiess, probte dieses noch im Kirchgemeindehaus des Neumünsters. «Zwar konzertierte man zu dieser Zeit schon, doch das Ensemble war noch eher locker unterwegs», erklärt sie. In der Folge hätten der damalige Leiter, Stefan Schlegel, und sie verstärkt auf Strukturen gesetzt und auf Pünktlichkeit gepocht. «Das geschah Schritt für Schritt und häufig durch Learning by Doing», räumt die Stadtzürcherin ein. Und wie nimmt sie das ZJO heute wahr? «Was mich beeindruckt, ist dessen künstlerisches Niveau. Mehr denn je zeichnet sich das Orchester durch musikalische Flexibilität und seine grosse stilistische Bandbreite aus.» Weil die Ressourcen des ZJO beschränkt seien, erfordere dies von allen Beteiligten nicht nur grosses Engagement, sondern auch viel Disziplin. «Geprobt wird pro Projekt zwei bis drei Mal, jeweils drei bis vier Stunden. Was wenig ist.» Umso wichtiger sei es, dass alle am selben Strick zögen. «Nur so ist und bleibt es uns möglich, auf hohem Niveau zu konzertieren.»

Noch länger verbunden mit dem ZJO ist Daniel Schenker. Der Dozent für Trompete und Gehörbildung an der Zürcher Hochschule der Künste war mit dem Orchester schon in dessen Anfangszeiten vertraut und leitete es mehrfach ad interim. Aktuell ist er sowohl Musiker als auch Co-Leiter. Somit fungiert er als Mittelsmann zwischen den insgesamt 20 Musikerinnen und Musikern sowie dem US-amerikanischen Bandleader Ed Partyka, der sich vor allem als Arrangeur versteht.

«Es gehört zu meinen Aufgaben, Bettina Uhlmann zu entlasten und bei der Programmgestaltung mitzuhelfen», erläutert Schenker. Aufgrund seines grossen Netzwerkes ist er ausserdem dafür zuständig, beim Ausfall eines Musikers im Nu für Ersatz zu sorgen. Laut dem Co-Leiter ist die aktuelle Besetzung des ZJO ambitioniert, vielseitig und fähig, unterschiedlichste Stilrichtungen zu spielen – von Count Basie über Duke Ellington und Gil Evans bis hin zu Avantgarde-Kompositionen. «Unser aktuelles Programm nennt sich ‹The Art of Arranging› und ist namentlich auf Bandleader Ed Partyka und Gäste wie etwa den Trompeter Thomas Gansch oder den Vokalisten und Songschreiber Ola Onabulé ausgerichtet.»

Mit vereinten Kräften zum Jazzhaus

Vor rund sieben Jahren musste das ZJO aus seiner damaligen Ateliergemeinschaft ausziehen. Die Suche nach einem neuen Proberaum gestaltete sich erwartungsgemäss schwierig. «Wir sind ein grosses Ensemble, wir brauchen Platz, wir sind laut», weiss Bettina Uhlmann. Eine Erkenntnis, die sie dazu anspornte, eine dauerhafte Heimat für das Orchester aufzuspüren. Im Wissen darum, dass es in Zürich hürdenreich sein würde, eine passende und auch zahlbare Liegenschaft zu finden. «Doch wir hatten das Glück, einen Partner für unser Unterfangen zu bekommen, die Stephan-à-Porta-Stiftung.» Mit vereinten Kräften stiess man auf eine geeignete Immobilie.

Obschon das Projekt, wie es Uhlmann nennt, ein «Riesenhosenlupf» war, kam man überein, das Wagnis einzugehen. Die Stiftung erstand das Haus, doch die 1,6 Millionen Franken für den über 6-monatigen Umbau musste das Zurich Jazz Orchestra grösstenteils selbst akquirieren. Fündig wurde man bei Stiftungen und Privaten, Unterstützung gab es ausserdem von der Stadt und vom Kanton. Gratis residiert das Ensemble jedoch nicht im Jazzhaus, weshalb das ZJO aktuell auf der Suche nach Untermietern ist.

Der grosse Saal. Foto: Hannes Henz

Herzstück des neuen Domizils ist der gut 80 Quadratmeter grosse und mehr als fünf Meter hohe Probenraum mit vorzüglicher Akustik. Über einen separaten Eingang gelangt man ins Obergeschoss, wo sich ein Büroraum und zwei kleinere Übungsräume befinden, die den Geruch des Neuen und von Fichtenholz verströmen. Noch müssten sich die Musikschaffenden an die Umgebung gewöhnen, hält Bettina Uhlmann fest. Zugleich ist sie überzeugt, dass sich dank der neuen Nachbarschaft auch neue Begegnungen kultureller Art ergeben werden.

 

www.zjo.ch

Open House am 21. April 2024. Foto: Palma Fiacco

Über das Glück zu viert

Im Dezember letzten Jahres fand die Premiere der neuen, hauseigenen Streichquartett-Akademie «The Quartet Experience» am Künstlerhaus Boswil statt. Diesen November wird die Akademie zum zweiten Mal durchgeführt. Sie ist ein einzigartiges Angebot in der Schweiz.

The Quartet Experience 2023. Foto: zVg/Künstlerhaus Boswil

Das auf Anregung des künstlerischen Leiters Hugo Bollschweiler ins Leben gerufene Format reiht sich nahtlos in die lange Akademie-Tradition des Künstlerhauses ein. Es richtet sich an junge Streichquartette am Anfang ihrer beruflichen Karriere und unterstützt sie in ihrer beruflichen Entwicklung.

Die erste Ausgabe 2023

Letztes Jahr kamen vier ausgewählte junge Quartette aus Schweden, Deutschland, Spanien und der Schweiz mit einem Stipendium versehen nach Boswil, um eine Woche lang nachhaltig ins Universum Streichquartett einzutauchen. Mit dem spanischen Cuarteto Quiroga konnte eines der herausragenden Streichquartette der jüngeren Generation als Ensemble in Residence und Dozentenquartett für die Akademie ans Haus geholt werden.

Mit einem begeisternden Kickoff-Konzert stellte sich das Quartett zu Beginn der Woche dem Publikum und den Teilnehmenden vor. Nebst regelmässigem Ensemble-Unterricht – abwechselnd bei allen Dozenten -, gemeinsamen Klassenstunden und intensiver Probearbeit umfasste die Akademie zusätzliche Bausteine wie Partiturstudium, Auftrittscoaching, Programmdramaturgie, Karriereplanung und Workshops zum Thema innere und äussere Kommunikation mit der Mentaltrainerin Evamaria Felder.

Im Zentrum der Woche stand vor allem anderen der Lernprozess: Zusammen mit den Dozierenden wurden die Studierenden Teil einer grossen Lernfamilie, die sich gegenseitig austauschte, ermutigte und inspirierte. Am öffentlichen Abschlusskonzert in der Alten Kirche Boswil präsentierten die vier Quartette vor einem begeisterten Publikum die Resultate der Akademie-Woche und liessen zum besinnlichen Abschluss gemeinsam mit dem Cuarteto Quiroga einen Bach-Choral aus allen vier Ecken der abgedunkelten Alten Kirche in den Himmel steigen.

Jetzt anmelden für die Akademie 2024

Die zweite Ausgabe von «The Quartet Experience» findet vom 17. bis 24. November 2024 statt. Dieses Jahr reist das 2001 gegründete finnischen Quartett META4 ans Künstlerhaus Boswil. Anmeldeschluss: 8. September 2024

https://www.kuenstlerhausboswil.ch/kurse/quartet-experience/

Freiwillige für das WJMF 2024 gesucht

Vom 11. bis 14. Juli findet das Welt Jugendmusik Festival Zürich (WJMF) statt. Helferinnen und Helfer werden Teil einer internationalen Musikgemeinschaft.

 

Eröffnungsfeier des letzten Festivals 2017. Foto: WJMF

Rund 60 Formationen aus Bulgarien, China, Deutschland, El Salvador, Hongkong, Irland, Japan, Schweden, der Schweiz und Taiwan sind laut der Teilnehmerliste des WJMF angemeldet.

Für die Betreuung der Orchester, Unterstützung der grossen Anlässe und vieles mehr sucht das Festival Helferinnen und Helfer. Wer sich beim WJMF engagiert könne wertvolle Erfahrungen in verschiedenen Bereichen sammeln, schreibt das WJMF. Total werden 450 Freiwillige gesucht.

Weitere Informationen zum WJMF über https://wjmf.ch/ und Anmeldung zur Mitarbeit https://wjmf.ch/helfer-gesucht/

Die AHV-Philharmonie spielt

Das von Bruno Schneider ins Leben gerufene Orchester aus pensionierten Berufsmusikerinnen und -musikern hat Mitte April ein erstes Konzert gegeben und den Erlös an Procap übergeben.

Foto: AHV-Philharmonie

Im Dezember 2022 beschrieb Bruno Schneider in der Schweizer Musikzeitung sein Vorhaben: «Ich lanciere daher die Idee eines schweizerischen Orchesters von Profis im Ruhestand, offen für alle Musikerinnen und Musiker, die in der Schweiz an einer musikalischen Institution gearbeitet haben und AHV beziehen. Das Ziel wären ein oder zwei Projekte unter einer zu findenden Orchesterleitung, das heisst: ein oder zwei Konzerte im Jahr, deren Erlös wir einer karitativen Organisation schenken würden.»

Ein erstes Konzert

Im Frühjahr 2024 wurde die Idee verwirklicht. Roland Perrenoud schreibt: «Die AHV-Philharmonie wurde geboren und am Freitag, 19. April 2024, um 19 Uhr getauft. Zu diesem Anlass war der Musiksaal in La Chaux-de-Fonds gut besetzt. Ein staunendes Publikum sah und hörte den grauen Köpfen zu, die mit Feuereifer ein prächtiges Programm von Mozart (Sinfonia concertante) und Dvořák (8. Sinfonie) spielten. Der Erfolg war der Leistung angemessen. Schon in der Pause war die Freude der Musikerinnen und Musiker zu spüren, ihr herzlicher Kontakt untereinander und mit dem Publikum sowie ihre Professionalität. Mit Nandingua Bayarbaatar hatten sie eine junge Dirigentin aus Ulan Bator ausgewählt. Sie hatte an der Musikhochschule in Genf studiert und ihre Eleganz und Effizienz  überzeugte alle.»

Das nächste Konzert ist für den 15. Dezember dieses Jahres in Bern geplant.

Zukünftige Rentnerinnen und Rentner sind herzlich willkommen und können sich bei Bruno Schneider, brubru@swissonline.ch, melden.

Zu den Quellen gehen und auf die Berge

Chouchane Siranossian gehört zu den wenigen Geigerinnen, die ganz selbstverständlich zwischen einem Barockinstrument und einer modernen Violine wechseln. Ein Gespräch über ihr Leben in der Schweiz und armenische Musik.

Chouchane Siranossian. Foto: Tashko Tasheff

Chouchane Siranossian, Sie sind beim diesjährigen Bodensee-Festival (27. April bis 20. Mai) Artist in Residence. Welche Beziehung haben Sie zu dieser Gegend?
Ich habe zwei Jahre in der Nähe des Bodensees gelebt, als ich Konzertmeisterin im Sinfonieorchester St. Gallen war. Ich habe sehr schöne Erinnerungen an eine Bootsfahrt mit meinen Grosseltern. Und war sehr häufig auf dem Säntis zum Bergsteigen.

Auf Ihren jüngsten Alben spielen Sie Barockvioline, im kommenden Eröffnungskonzert in Friedrichshafen dann Mendelssohn auf einem modernen Instrument. Ist dieser Wechsel nicht schwierig?
Nein. Beim Solo-Rezital in der Klosterkirche Münsterlingen spiele ich sogar beide Instrumente in einem Konzert. Es sind verschiedene Welten, zwischen denen ich mich gerne hin und herbewege. Das Barockinstrument hat Darmsaiten und ist anders gestimmt. Auch die Bögen sind natürlich unterschiedlich. In der Barockzeit haben die Musiker häufig verschiedene Instrumente gespielt.

Ihr Solistendiplom machten Sie auf der modernen Violine bei Zakhar Bron in Zürich. Danach waren sie mit 23 Jahren als jüngstes Orchestermitglied Konzertmeisterin im Sinfonieorchester St. Gallen. Wie war diese Zeit für Sie?
Ich habe sehr viel gelernt – musikalisch, aber vor allem auch menschlich. In dieser Position hat man eine grosse Verantwortung. Man ist das Bindeglied zwischen dem Orchester und dem Dirigenten. Jetzt leite ich viele Orchester von der Violine aus.

Wurden Sie gleich akzeptiert vom Orchester?
Das war zu Beginn nicht einfach als junge Frau und dazu noch als Ausländerin. Mir ging es immer um die Musik. Aber jedes Orchester ist ein Mikrokosmos, den man kennenlernen muss. Ich habe wirklich gelernt, mit Menschen umzugehen. Ich habe immer versucht, jede und jeden zu motivieren, das Beste zu geben.

Sie haben die feste Stelle aufgegeben, um nochmals zu studieren – und zwar Alte Musik bei Reinhard Goebel am Mozarteum in Salzburg.
David Stern, der damalige Chefdirigent in St. Gallen, empfahl ihn mir, weil ich viele Fragen zur Musik stellte. Und auch mich in Frage stellte. Als ich Reinhard Goebel dann kennengelernt hatte, war ich sofort fasziniert von seinem enormen Wissen über Alte Musik. Im ersten Jahr bei ihm las ich nur Bücher und studierte Manuskripte, bevor ich wieder die Violine in die Hand nahm. Diese intensive Recherche hatte nicht nur einen grossen Einfluss auf mein Musizieren mit der Barockvioline, sondern auf jede meiner Interpretationen.

Was haben Sie von ihm gelernt?
Alles (lacht). Ich habe durch ihn verstanden, dass es grosse Unterschiede gibt zwischen modernem Violinspiel und historisch informiertem. Der Ausdruck in der Alten Musik wird viel mehr mit der rechten Hand, also mit dem Bogenstrich gemacht. Ich habe gelernt, die richtigen Fragen zu stellen und immer an die Quelle zu gehen – also an das Autograf oder den Erstdruck.

Was spielen Sie lieber? Barockvioline oder moderne Violine?
Da kann ich nicht sagen. Wenn Sie mich fragen, ob ich Französin, Armenierin oder Schweizerin bin, kann ich das auch nicht sagen. Ich bin alle drei. Bei der Violine ist das ähnlich. Italienische Barockmusik spiele ich schon besonders gerne. Aber gerade der Wechsel ist für mich reizvoll.

Sie sind in Lyon geboren, haben armenische Vorfahren und leben schon lange in der Schweiz. Wo ist Ihre Heimat?
Ich lebe seit zwanzig Jahren in der Schweiz. Auch als Kind war ich oft dort, weil ich bei Tibor Varga in Sion Unterricht hatte. Die Schweiz ist mein Lebensmittelpunkt, auch wenn ich oft in Frankreich und ab und zu auch in Armenien bin.

Welche Rolle spielt armenische Musik in Ihrem Leben?
Die armenische Musik war immer präsent. Mein Vater ist auch Musiker und Spezialist der armenischen Musik. Meine Grosseltern haben oft armenische Lieder gesungen. Die armenische Kultur ist gefährdet – nicht nur durch den türkischen Völkermord 1915, sondern auch gegenwärtig in Bergkarabach, wo Armenier durch die Besatzungsmacht Aserbaidschan vertrieben wurden. Sie möchten auch unsere Kultur auslöschen, aber unsere Musik können sie nicht zerstören. Deshalb ist es wichtig, diese Musik zu pflegen und öffentlich zu machen.

Was zeichnet armenische Musik aus?
Armenien ist das erste Land, das im Jahr 301 offiziell christlich geworden ist. Deshalb spielt die religiöse Musik eine grosse Rolle. Daneben ist Volksmusik sehr wichtig. Der Komponist Komitas hat viel davon aufgeschrieben, bevor er wegen des Völkermordes, den er erleben musste, verrückt wurde. Armenien war immer eine Brücke zwischen Europa und dem Orient – das ist auch zu hören.

Auf Ihrer Website sind Sie im Abendkleid mit einer Violine in der Hand auf einem Berggipfel zu sehen. Ist das Foto echt oder eine Montage?
Natürlich echt. Bergsteigen ist eine grosse Leidenschaft von mir. Ich habe auch schon auf dem Mont Blanc Violine gespielt. 2020 war ich noch auf dem Matterhorn, bevor ich zum ersten Mal schwanger wurde.

Was gefällt Ihnen am Bergsteigen?
Die Freiheit. Der Kontakt zur Natur. In den Bergen ist man weg vom Lärm, weg von den Menschen. Diese Stille geniesse ich sehr. Bergsteigen ist für mich auch eine Art Meditation – zurück zu meinen Wurzeln. Mit zwei kleinen Kindern muss ich noch darauf verzichten, aber irgendwann kann ich sie mitnehmen in die Berge. Und im Rucksack sind sie jetzt schon dabei bei kleineren Touren.

Welche Verbindungen sehen Sie zwischen Geigenspielen und Bergsteigen?
Wenn ich mich stundenlang in der Natur bewege, kommen mir die besten musikalischen Ideen. Diese frische Luft tut mir einfach gut. Alleinsein in der Natur ist wirklich eine grosse Inspiration für mich. Musik heisst auch immer, eine Geschichte zu erzählen. Nach einer Bergtour habe ich viel neue Seelenkraft – das tut meinem Musizieren gut.

Sie konzertieren auch mit Ihrer Schwester, der Cellistin Astrig Siranossian. Ist es leichter oder schwieriger, mit der eigenen Schwester zu spielen?
Beides. Leichter ist es, weil wir uns so gut kennen und uns auch wunderbar ergänzen. Aber wir sind auch gegenseitig die grössten Kritikerinnen und in den Proben besonders streng zueinander.

Was bedeutet Ihnen Familie?
Alles. Ich kann heute auf die Bühne gehen, weil ich meine Familie habe, die mich unterstützt. Ich bin immer unterwegs mit meinen beiden Kindern. Ich bin auch mit einer sehr grossen Familie aufgewachsen. Wenn wir ein Familienfest feiern, sind wir schnell über hundert Personen.

Wagner-Manuskript nach 170 Jahren wieder in Zürich

Die Universität Zürich hat die Handschrift von Richard Wagners (1813–1883) «Mitteilung an meine Freunde» erworben. Darin nimmt der Komponist eine autobiografisch-künstlerische Standortbestimmung vor und blickt in die Zukunft. Die Erforschung des Manuskripts soll neue Erkenntnisse zu Wagners Zürcher Zeit bringen.

Manuskript «Mitteilung an meine Freunde» von Richard Wagner, 1851. Foto: Zentralbibliothek Zürich

In ihrer Mitteilung vom 24. April schreibt die Universität Zürich (UZH), Wagner habe während seines Zürcher Exils von 1849 bis 1858 neben der Arbeit u.a. an Der Ring des Nibelungen auch wegweisende musik- und dramentheoretische Schriften verfasst. «Das originale Arbeitsmanuskript einer dieser Schriften mit dem Titel Eine Mitteilung an meine Freunde ist nun nach rund 170 Jahren an ihren Entstehungsort zurückgekehrt.» Wagner habe es 1851 in Zürich Enge geschrieben. «Erschienen ist der Text im selben Jahr als Beigabe und Vorwort zu den Libretti der Opern Der fliegende Holländer, Tannhäuser und Lohengrin. Die Schrift ist eine Art autobiografische Standortbestimmung, bezogen auf die Werke vor der Revolution und das grosse nach-revolutionäre Ring-Vorhaben.»

Handschrift als Untersuchungsobjekt

Die Zentralbibliothek Zürich (ZB) bewahrt das Manuskript auf. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Zürich erforschen es. Bisher sei der Text «nur im Erstdruck sowie in der Fassung der gesammelten Schriften und Dichtungen Richard Wagners verfügbar. Die Handschrift lässt dagegen eine intensive Arbeit erkennen.» Man erwartet, dass die Forschungen «neue Erkenntnisse und Einblicke in das Werk, das Denken und das Wirken Richard Wagners in Zürich ermöglichen werden. Nach Abschluss der Forschungsarbeiten wird die Handschrift durch die ZB verfügbar gemacht werden.»

Stiftungen ermöglichten den Kauf

Der Erwerb des Manuskripts bei Sotheby’s wurde möglich dank Zuwendungen der UBS-Kulturstiftung in Zürich und der Bareva Stiftung in Vaduz. Der Kauf dieser Handschrift sei für Zürich, die UHZ und die Wissenschaft von grosser Bedeutung, sagt UZH-Rektor Michael Schaepman in der Mitteilung. Laurenz Lütteken, Co-Direktor des Musikwissenschaftlichen Instituts der UZH, wo Wagner zu den Forschungsschwerpunkten gehört, meint: «Solche hochkarätigen Handschriften Wagners sind sonst kaum auf dem freien Markt verfügbar». Das Arbeitsmanuskript der Mitteilung an meine Freunde sei «eine weitere Perle in der bedeutenden Wagneriana-Sammlung an der ZB, die Musik- und Textmanuskripte, Musikdrucke, Druckschriften und Briefe umfasst», bilanziert die UHZ.

Link zur originalen Medienmitteilung der Universität Zürich

Mutiges neues Chorkonzept in Luzern

Vor drei Jahren führte der Boys Choir Luzern eine «Carmina Burana» in choreografierten Tableaux auf. Jetzt doppelte er mit dem gleichen Konzept nach: «Bilder (k)einer Ausstellung» im April im Maihof Luzern.

Ballett der unausgeschlüpften Küken. Foto: Manuela Jans

Der 2011 von Andreas Wiedmer und Regula Schneider gegründete Boys Choir Luzern kann eine kurze und eindrückliche Erfolgsgeschichte vorweisen. Einladungen ans Europäische Jugendchorfestival in Basel, die Aufführung von Carmina Burana 2021 im Maihof Luzern, die Schweizer Erstaufführung von Les Choristes am KKL 2023 und vieles mehr zeugen von einer zielgerichteten Chorarbeit. Der Identifikationsfaktor ist hoch. Die Kinder bleiben bis über den Stimmbruch hinaus dabei und wechseln meist nahtlos in den Herrenchor. Die Knaben- und Herrenstimmen bilden heute dank einer kompetenten und ambitionierten Aufbauarbeit einen Kinder- und Jugendchor, der zu den besten Europas gehört. Besonders in letzter Zeit regnete es Auszeichnungen. Wettbewerbsgewinne und Goldmedaillen im In- und Ausland sind fast schon selbstverständlich geworden.

Il vecchio castello. Foto: Manuela Jans

Energie umwandeln

Um Knaben zum Chorsingen zu bringen, bedarf es heute anderer Rezepte, als einen zappligen Haufen ruhig zu stellen und Kinderlieder aus dem Liederbuch vortragen zu lassen. «Knaben der 4. bis 6. Klassen, die singen, gelten unter Gleichaltrigen als extrem uncool», sagt Regula Schneider. Sie hält es deshalb für sinnvoll, diese Altersgruppe separat zu betreuen, um ihre speziellen Anlagen und Bedürfnisse ideal fördern zu können. Knaben in dem Alter haben viel Energie. Es gelte, diese zu nutzen und in musikalische Energie umzuwandeln.

Chorleiter Andreas Wiedmer sagte im Porträt des Chores in der Sternstunde Musik des Schweizer Fernsehens (23.09.23): «Singen ist für die Jungen lange ein Nebenprodukt, sie könnten eigentlich auch Fussball spielen. Es geht darum, in der Gruppe zusammen zu sein, sich fordern zu lassen und sich mit den andern zu messen.» Werde zu lange am Gleichen gearbeitet, langweilten sie sich schnell. Auf ein Ziel hin zu arbeiten und häufiges Auftreten seien wichtig, um sie bei der Stange zu halten.

Sanfte Klänge zum Auftakt

Das Hauptereignis des Konzertabends im Maihof war die Uraufführung von Modest Mussorgskis Bilder einer Ausstellung in der Bearbeitung von Regula Schneider.  Vorangestellt war die Mass of the Children von John Rutter (Uraufführung, New York 2003), ein eingängiges, musicalähnliches Werk mit den traditionellen Messtexten, ergänzt mit zusätzlichen religiösen Texten. Rutter hatte es in seiner Zeit als Knabensopran immer aufregend gefunden, mit Erwachsenen zusammen an einem Konzert mitwirken zu dürfen. Deshalb schrieb er später dieses Stück für gemischten Chor und Kinderchor.

Der Boys Choir Lucerne in John Rutters Kyrie: Awake my soul. Foto: Manuela Jans

Das Ad-hoc-Orchester unter der Leitung von Philipp Hutter klang präzis und verband sich sehr gut mit dem Gesang. Die Sopranistin Samantha Herzog, der Bariton Andreas Wiedmer und die Chormitglieder Loris Sikora und Jonathan Kionke hatten wohlklingende solistische Einsätze. Der Charakter des Stücks wurde durch meist weiche, anmutige Bewegungen des Chores illustriert. Das «Qui tollis» erhielt durch markante Armbewegungen eine besondere Note. Auffallend war die selbstverständliche Bühnenpräsenz der jungen Leute, welche sich im darauffolgenden Werk noch stärker akzentuieren sollte.

Musikalische Bildbetrachtung

Zum 10-jährigen Bestehen 2021 führte der Chor Carl Orffs Carmina Burana auf. Als zusätzliche Herausforderung übernahmen die Chormitglieder die Choreografie selbst. Dabei wurde besonderer Wert auf die Umsetzung der Bildlichkeit des Werks gelegt. Der Erfolg der Aufführung weckte den Wunsch, ein weiteres Stück im gleichen Stil zu gestalten. Der Weg zu Bilder einer Ausstellung von Mussorgsky war nicht weit, zumal es sich hier um eine Art musikalische Bildbetrachtung handelt. Bewegungen und Bildinterpretationen sind in der Musik bereits angelegt.

Jetzt ging es noch darum, Gesang und Texte einzubauen. Regula Schneider nahm die Bearbeitung für Kammerorchester von Bruno Peterschmitt als Vorlage und arrangierte aus den Melodielinien eine Gesangspartitur, mehrheitlich unisono mit einigen mehrstimmigen Abschnitten. Co-Leiter Marcel Fässler schrieb dazu einen poetischen Text, der von Mussorgskis imaginärem Museumsbesucher stammen könnte. Bis auf eines versah Schneider alle Bilder mit Gesang – und es hat funktioniert! Die Originaltonarten des Stücks erwiesen sich als gut singbar. Wo es etwas hoch wurde, setzten die Herren schon mal auf elegante Weise das Falsett ein. Zusätzlich zu den rund 45 Knaben- und Herrenstimmen trat ein Frauen-Projektchor mit noch einmal an die 25 Stimmen in Erscheinung.

Der Gnom. Foto: Manuela Jans

Klare Bewegungsmuster, ausdrucksstarke Gesten

Trotz gut singbarer Musik ist es immer eine Herausforderung, gleichzeitig zu singen und sich zu bewegen. Die Choreografin Yvonne Sieber verzichtete auf zu komplexe Tanzfiguren und beschränkte sich meist auf klare Bewegungsmuster und ausdruckstarke Gesten, die den Inhalt der Bilder verdeutlichten. Eine starke Lichtregie unterstrich das Bühnengeschehen vortrefflich. Nach einem wirkungsvollen Aufmarsch der Chöre wuselten Zwerge im ersten Bild «Gnomus» über die geräumige Spielfläche des Maihof. In «Tuileries» hatten die Knaben einen erfrischenden Auftritt, während die Herren und Damen in «Bydlo» mit dem einfachen Motiv des Hinkens Wirkung erzielten.

Beim «Ballett der unausgeschlüpften Küken» waren wieder die Knaben im Mittelpunkt. Obwohl sie zunächst hinter dem Orchester aufgestellt waren, klang ihr Gesang präsent und kompakt. «Samuel Goldenberg und Schmuyle» wurde von neun Herren bestritten. Das Solo übernahm Jonathan Kionke mit seiner makellosen Counterstimme. Er ist seit Jahren Mitglied des Chors und studiert inzwischen Gesang an der Zürcher Hochschule der Künste. Mit aussagekräftigen Armbewegungen sorgten die Darstellenden im Bild «Die Hütte auf Hühnerbeinen» für inhaltliche Assoziationen. «Das grosse Tor von Kiew» war als monumentales Schlussbild gestaltet.

Zum Schluss Das grosse Tor von Kiew. Foto: Manuela Jans

Ausgabe 05/2024 – Focus «Stabspiele»

Tchiki-Duo: Jacques Hostettler und Nicolas Suter. Foto: Holger Jacob

 

Inhaltsverzeichnis

Focus

Wie zwei Seiten eines einzigen Instruments
Das Tchiki-Duo spielt Bach oder Scarlatti auf Marimbas – Interview

Ursprung und Verbreitung der Stabspiele
Kurze kompakte Geschichte

Die unbekannteren Verwandten des Drumsets
Mallets an Musikschulen

Vom Explorieren zum Musizieren
Die Rolle der Stabspiele im Orff-Instrumentarium

 (kursiv = Zusammenfassung in Deutsch des französischen Originalartikels)

Critiques

Rezensionen von Tonträgern, Büchern, Noten

Echo

Künstliche Kunst
Festival Interfinity in Basel

Partitions d’occasion en mobilité douce
Vendre par un triporteur

Auf die Pandemie folgt eine Blütezeit
26. Ausgabe von m4music

God save the «Nachwuchsarbeit»
Junger Chor Solothurn

Radio Francesco
Das Versprechen

Die Stimme einer «stummen Nation»
Das Afghan Youth Orchestra in Genf

Chatten über den Instrumentalunterricht im Aargau
Valentin Sacher und Andreas Schlegel

Carte blanche
für Jürg Erni


Basis

Artikel und Nachrichten aus den Musikverbänden

Eidgenössischer Orchesterverband (EOV) / Société Fédérale des Orchestres (SFO)

Konferenz Musikhochschulen Schweiz (KMHS) / Conférence des Hautes Ecoles de Musique Suisse (CHEMS)

Kalaidos Musikhochschule / Kalaidos Haute École de Musique

Schweizer Musikrat (SMR) / Conseil Suisse de la Musique (CSM)

CHorama

Schweizerische Gesellschaft für Musik-Medizin (SMM) / Association suisse de Médecine de la Musique (SMM)

Schweizerische Musikforschende Gesellschaft (SMG) / Société Suisse de Musicologie (SSM)

Schweizerischer Musikerverband (SMV) / Union Suisse des Artistes Musiciens (USDAM)

Schweizerischer Musikpädagogischer Verband (SMPV) / Société Suisse de Pédagogie Musicale (SSPM)

SONART – Musikschaffende Schweiz

Stiftung Schweizerischer Jugendmusikwettbewerb (SJMW)

Arosa Kultur

SUISA – Genossenschaft der Urheber und Verleger von Musik

Verband Musikschulen Schweiz (VMS) / Association Suisse des Écoles de Musique (ASEM)

 

Das Xylofon im Glaspalast
Rätsel von Pia Schwab

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Orpheus als Bilderreigen und Musikcollage

Nach vierjähriger Pause präsentiert Musikwerk Luzern Beni Santoras multimediale Inszenierung des Orpheus-Mythos. Das Basler Vokalensemble Domus Artis singt Jacopo Peris Oper «Euridice» inmitten einer filmischen Revue.

Premiere von «… und er schaute zurück» im Moderne Karussell am 11. April 2024. Foto: Musikwerk Luzern / Priska Ketterer

Beni Santora hat Musikwerk Luzern 2015 gegründet, um moderne Klassiker wie Béla Bartók oder Igor Strawinsky in neuartigen Konzertformaten aufzuführen. Das filmische Element hat ihn dabei stets interessiert. So hat er als Cellist auch Filmregie studiert und sich zum Kameramann weitergebildet. Seine multimediale Collage zur Orpheus-Mythologie … und er schaute zurück zeugt von dieser Doppelbegabung. Die Musik bekommt Zeit und Raum, um zu wirken.

Der technische Aufwand ist jedoch enorm. Die notwendige Infrastruktur fanden Santora und sein Team im ehemalige Kino Moderne. Durch den Umbau zum «Moderne Karussell» ist daraus ein grosszügiger Raum mit drei Kinoleinwänden entstanden. Fünf Hochleistungsprojektoren stehen zur Verfügung, um 360-Grad-Projektionen zu ermöglichen.

Sanft belebte Bilder

Für seine filmische Umsetzung suchte Santora weltweit nach Orpheus-Darstellungen aus 4000 Jahren Kulturgeschichte. Diese bekannteste Liebesgeschichte der Antike hat Künstler seit jeher inspiriert. Orpheus ist der griechische Held, der in die Unterwelt hinabstieg, um seine geliebte Eurydike aus dem Totenreich zurückzuholen. Bei der Rückkehr hätte er jedoch nicht zu ihr zurückschauen dürfen. Er tat es doch und verlor sie ein zweites Mal.

Die ausgewählten Bilder projiziert Santora wie in einer Galerie nebeneinander an die drei Wände: eine antike Bronze, ein frühbyzantinisches Mosaik, griechische Statuen, ein Gobelin aus dem 17. Jahrhundert oder Ölgemälde aus der Romantik. Diese Galerie-Perspektive zieht sich als roter Faden durch die Produktion. Ähnlich wie Mussorgski in den Bildern einer Ausstellung kehrt Santora immer wieder zu ihr zurück.

Foto: Musikwerk Luzern / Priska Ketterer

Grundsätzlich arbeitet er mit stehenden Bildern, die er sanft belebt. Er zoomt eines der Sujets heran, vergrössert Ausschnitte oder bewegt einzelne Figuren, und das über die drei Screens hinweg. Die Luzerner Agentur 360 Emotion hat diese «Ausstellung in bewegten Bildern» mit modernster Technik umgesetzt.

Als Zuschauer sitzt man in bequemen Kinosesseln mittendrin. Dank der ruhigen Dramaturgie hat man genug Zeit, sich die Bilder genauer anzusehen. Die Figuren werden durch die Vergrösserungen lebendig und kommen einem nahe. Längst vergangene Zeiten tauchen raumfüllend auf.

Livemusik und Tonaufnahmen

Und die Musik? Hier wagt Santora einen Dialog zwischen der Liveaufführung von Jacopo Peris Oper Euridice und Aufnahmen, die er zu den Bildern einspielt: antike römische Festmusiken, mehrstimmige Madrigale, Sinfonisches von Franz Liszt, Claude Debussy, Igor Strawinsky, Hans Werner Henze und Philipp Glass, stets mit Bezug zur Orpheus-Thematik.

Auch wenn diese Tour d’Horizon durch die Musikgeschichte auf die jeweils dargestellte Kunst abgestimmt ist, strengen die ständigen stilistischen Wechsel an. Besonders heikel aber ist das Nebeneinander von Livemusik und dem Surround-Klang über Lautsprecher. Kaum hat man sich in die Eigenart der Renaissancemusik eingehört, wird man von einer Tonaufnahme jäh wieder herausgerissen.

Doch mit der Zeit gewöhnt man sich auch daran. Peris Oper ist die musikalische Instanz, zu der man immer wieder zurückkehrt, sie bildet den erzählerischen Rahmen. 1600 in Florenz uraufgeführt, ist sie die älteste vollständig erhaltene Oper der Musikgeschichte. Überraschenderweise kann sich dieses schlichte Werk im multimedialen «Gesamtkunstwerk» gut entfalten.

Das Basler Vokalensemble Domus Artis sang die fünf Partien an der Premiere vom 11. April mit engagierter Hingabe, begleitet von Guilherme Barroso an der Theorbe und Inés Moreno Uncilla am Cembalo. Die konzertant auftretenden Sängerinnen und Sänger packten die Aufmerksamkeit mit ihrer lebendigen Artikulation und natürlichen Phrasierung.

In der Hauptpartie des Orpheus rührte einen der Tenor Cyril Escoffier mit einem hingebungsvollen Lamento. Sein warmes Timbre passte auch gut zum klaren hellen Sopran von Jaia Niborski, welche die stolze Eurydike gab. Und die reiche Farbpalette des Ensembles kam in den beschwingteren Chorliedern eindrücklich zur Geltung. So enorm der Aufwand für diese Orpheus-Produktion auch war, sie hat dem antiken Stoff ein stimmiges, modernes Gesicht gegeben.

Weitere Aufführungen: 24. und 25. April sowie 2., 3. und 5. Mai. Ab 25. April bis 13. Juni ist eine verkürzte Version ohne Domus Artis jeweils Do bis So, 16 bis 21 Uhr, zu sehen.

musikwerkluzern.ch

Foto: Musikwerk Luzern / Priska Ketterer

Neue Dozenten an der ZHdK

Die Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) hat auf das Herbstsemester 2024 zwei neue Hauptfachdozenten ernannt: Linley Marthe für E-Bass und Petter Eldh für Kontrabass Jazz und Pop.

Petter Eldh (links) und Linley Marthe unterrichten ab Herbst in Zürich. Fotos: Dovile Sermokas (Eldh) und Jeff Ludovicus (Marthe)

Als Kontrabassist, Produzent und Komponist habe Eldh, schreibt die ZHdK, «einen einzigartigen Stil geschaffen, der die Grenzen jeglicher Musikgenres hinter sich lässt.» Als Bandleader und Mitwirkender habe er mit Künstlern wie Django Bates, Kit Downes, Jameszoo und Christian Lillinger zusammengearbeitet, was zu wegweisenden Alben führte, die «sein breites Spektrum an künstlerischen Fähigkeiten zeigen und die von elektronischer Musik bis Avantgarde-Jazz reichen.»

Auch der E-Bassist Linley Marthe überwinde mit seinem Schaffen Grenzen und Genres: Sein «kulturelles Erbe dient als reiches Geflecht, das Groove-Musik und die vielschichtigen Rhythmen des Jazz mit den Melodien Afrikas und den komplexen Kompositionen Indiens verwebt. Seit 2003 war Linley Marthe ständiges Mitglied des Joe Zawinul Syndicate, wo er durch seine einzigartigen Performances ein globales Publikum faszinierte. Besonders bemerkenswert ist der Grammy Award, den er für die 75th Birthday-Tour des Zawinul Syndicate im Jahr 2007 erhielt. Kurz vor seinem Tod ernannte Joe Zawinul Linley Marthe zum künftigen Leader des Syndicate. Seither ist Linley Marthe mit den renommiertesten Jazz & World Artists rund um den Globus unterwegs.»

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