Mizmorim: Weit über den eigenen Tellerrand hinaus

Das zehnte Mizmorim-Kammermusikfestival zeigte Psalm-Adaptionen aller Orte und Zeiten.

Eröffnungskonzert am 25. Januar im Musiksaal des Stadtcasinos Basel mit dem Lucerne Festival Contemporary Orchestra unter der Leitung von Tito Ceccherini und u.a. mit Ilya Gringolts. Foto: Zlatko Mićić

«Wer ist Frank Zappa?», fragt eine ältere Dame in der Reihe hinter mir in der Basler Gare du Nord. Das ist ihr gutes Recht. Denn die in der New Yorker Avantgarde schwadronierende Rock-Ikone hat mit «Tehillim», dem Motto des diesjährigen Mizmorim-Kammermusikfestivals, nur am Rande zu tun. Soeben hatte sich der Schlagzeuger Christian Dierstein im Konzert 150 + 1 Psalmen in einem imposanten Aufbau aus Röhren, Platten und Perkussionsinstrumenten in Position gestellt. Er brachte Peter Eötvös‘ Solostück Psalm 151. In memoriam Frank Zappa aus dem Jahr 1993 zu Gehör. Eötvös bezeichnet seinen Nekrolog als «Psalm». Die «Tehillim», der alttestamentarische Psalter, umfasst bekanntermassen 150 Psalmen. Den 151. Psalm gibt es dort also nicht.

Diese programmatische Hinterlist zeigt die Strategie zur zehnten Austragung des Festivals vom 24. bis zum 31. Januar. Seit 2015 setzt man, was aus dem Rahmen der eigenen jüdischen Kultur hinausweist und für Musikerinnen und Musiker anderer religiöser Prägungen zur Inspiration wurde, in ästhetisch und historisch spannende Zusammenhänge: «Mizmorim» heisst im Hebräischen «Psalmen» und ist demzufolge ein Gattungsbegriff, der sich gleichermassen auf Quellentexte und seine Vertonungen oder andere Adaptionen bezieht.

Jüdisches Leben und jüdischer Glaube

Bis zur diesjährigen Ausgabe konnten die künstlerische Leiterin Michal Lewkowicz, die in den früheren Festivals auch als Klarinettistin aufgetreten war, und Präsident Guy Rueff das Profil mit Hilfe eines wissenschaftlichen Beratungsteams schärfen. Zusammen mit der festlichen Eröffnung im Musiksaal des Casinos Basel gab es zwölf Konzerte: Solostücke, Lieder, Kammermusik und ausnahmsweise Werke an der Schwelle zu grösseren Orchester- und Vokalbesetzungen. Jugendangebote, Vernetzungen, Auftragskompositionen waren zum Jubiläum doppelt so zahlreich, das Festival doppelt so lang wie sonst.

Jazz mit dem Vein-Trio: Michael Arbenz (Klavier), Thomas Lähns (Kontrabass), Florian Arbenz (Schlagzeug). Foto: Zlatko Mićić

«Es freut mich, dass das Publikum den Weg zu uns findet», sagte Lewkowicz nach dem Eröffnungskonzert, artikulierte aber Ängste über die kriegerischen Entwicklungen im Gazastreifen seit dem 7. Oktober 2023. Acht Wochen vor Festivalbeginn hatte sie vorsorgend eine deutliche Willkommensbotschaft ausgesendet. Es sollte sich niemand vom Jubiläum ausgeschlossen fühlen, vor allem nicht bei der zwei Jahre lang vorbereiteten Kooperation zwischen Mizmorim und der Beit-Yosef-Synagoge der Israelitischen Gemeinde Basel. «Die Synagoge ist nicht nur Gebetsort, sondern auch ein Versammlungsraum. Letzteres wird oft vergessen», sagte Lewkowicz. «Das Festivalbüro wurde mit ‹Free Palestine› besprüht und Rabbiner Moshe Baumel wurde angespuckt»,» berichtete sie wenige Tage vor Festivalbeginn der Basler Zeitung.

Zum ersten Mal stand Mizmorim nicht unter einem Motto mit konkretem historischem oder theoretischem Bezugspunkt wie in den letzten Jahren, als 2023 zum Beispiel im «Projekt Blau-Weiss» eine musikalische Perspektive auf die Bewegung für einen jüdischen Nationalstaat vor Gründung des Staates Israel entwickelt worden war. Jüdisches Leben und Gläubigkeit sollten im Jubiläumsjahr erst recht mit möglichst vielen, auch für Aussenstehende interessanten Facetten und Farben reflektiert werden.

Ein mustergültiges Beispiel für die programmatische Mizmorim-Strategie war das Konzert Psalm geheim am Freitagvormittag. Ein regulärer Werktag für eine Matinee ist ungewöhnlich und zeugte vom Mut der Veranstalter. Der Zunftsaal im Schmiedenhof war gut gefüllt, obwohl nur ein «Zugstück» (Biblische Lieder des katholischen Tschechen Antonín Dvořák), dafür eine tönende Visitenkarte des Festivals auf dem Programm stand: Secret Psalm für Violine solo von Oliver Knussen (1952–2018), als Schweizer Erstaufführung Der Ewige ist mein Hirte, Psalm 23, von Alexander Uriyah Boskovich (geb. 1954) sowie Werke von Aram Hovhannisyan, Victor Alexandru Colțea und Eleni Ralli, den Preisträgern der ersten drei Mizmorim-Kompositionswettbewerbe 2018, 2020 und 2022.

Konzert «Psalm geheim» im Zunftsaal im Schmiedenhof. Foto: Zlatko Mićić

Viel Musik des 20. und 21. Jahrhunderts

«Ich liebe Mendelssohn sehr, aber anderes ist heute weitaus wichtiger», sagte Lewkowicz. Ohne dass es explizit im Titel steht, gehört das Festival inzwischen zu den Hotspots der Neuen Musik in Basel. Wer die Mizmorim-Programme der letzten Jahre Revue passieren lässt, wird ein Abnehmen von Liedern und dafür eine wachsende Zahl von Werken mit individuell gemischten Instrumental- und Vokalbesetzungen feststellen. Die Aufführung der Tehillim von Steve Reich mit dem Lucerne Festival Contemporary Orchestra unter dem für den erkrankten Baldur Brönnimann eingesprungenen Tito Ceccherini im Casino Basel war auch die erste Kooperation von Mizmorim mit den Basler Madrigalisten. Eine weitere Premiere war die Liveübertragung von Mizmorim Jazz mit Psalmen-Improvisationen des Vein-Trios aus dem SRF-Radiostudio. Das Publikum – insgesamt zählte man 3200 Besucherinnen und Besucher – reagierte auf die Novitäten mit offenherzigem Applaus und Begeisterung für die spieltechnischen Herausforderungen. Vielbeschäftigt als Berater und Geiger war Ilya Gringolts.

Kompositionen in traditionellen Kammerbesetzungen erklangen von Alfred Schnittke, Frank Martin, Gideon Klein, Bohuslav Martinů und Arnold Schönberg, im Eröffnungskonzert zudem die Uraufführung des Auftragswerks Mimma’amaqim für Stimmen und Ensemble von Helga Arias (geb. 1984). Das  Konzert Pro Pacem unter der künstlerischen Gesamtleitung von Jordi Savall in der Martinskirche Basel beendete das Festival. Der Anteil von Musik des 20. und frühen 21. Jahrhunderts war ausserordentlich hoch. Die besondere Anknüpfung an den 100. Geburtstag von György Ligeti ergab sich durch die Ausstellung Ligeti-Labyrinth im Musikmuseum Basel. Die Kuratorin Heidy Zimmermann – sie ist eine dem Mizmorim-Festival seit Gründung eng verbundene Beraterin – wies darauf hin, dass Ligeti, dessen Vater und Bruder in Konzentrationslagern ums Leben gekommen waren, seine jüdische Herkunft immer als Privatsache, nicht als künstlerisch wesentliches Thema betrachtet hatte.

Schlusskonzert «Pro Pacem» in der Basler Martinskirche. Foto: Zlatko Mićić

Festivals mit dem Anspruch auf Vielfalt und Exklusivität gibt es viele. In einer Phase der politischen Zuspitzung, in welcher sich Teile der jüdischen Bevölkerung sogar in der Schweiz zunehmend bedroht fühlen, bewies das Mizmorim-Kammermusikfestival hohes Format. Es lud ein zu einer Werkschau mit Wurzelfäden hebräischen Ursprungs in internationale Kulturen und stellte Adaptionen aus weltlichen Kulturkreisen vor. Das Genre des Psalms («Mizmorim») und die Anthologie «Der Psalter» («Tehillim») wurden als über religiöse Dimensionen hinausweisende Quellen kenntlich.

Nächstes Jahr findet das Mizmorim-Kammermusikfestival vom 29. Januar bis zum 2. Februar in Basel statt.

 

Ergänzung am 29. Februar 2024:
Link zur Ausstrahlung des Eröffnungskonzerts auf Pavillon Suisse 

«Heil dir, Helvetia»

Das schweizerische Nationalbewusstsein beruht auf Mythen. Eine Tagung an der Hochschule der Künste Bern fragte, welchen Zwecken sie dienen. Warum sie in Kunst und Wissenschaft manchmal zertrümmert werden, kam nur am Rand zur Sprache.

Leo Dick, Leiter des Forschungsprojekts «Opera mediatrix», an der HKB-Tagung «Mythenzertrümmerung: schmerzhaft & lustvoll» vom 23. Januar 2024. Foto: Daniel Allenbach/HKB

Die Frau ist allgegenwärtig. Sie ziert Münzen und Briefmarken, thront als Statue oben auf der Front des Bundeshauses und kommt in der ehemaligen Landeshymne vor: Es ist die allegorische Figur der Helvetia, der Beschützerin und Mutter der Eidgenossenschaft. Unser Nationalbewusstsein beruht zu einem grossen Teil auf Mythen. Auch die Erzählungen von Wilhelm Tell, von der Wiege der Demokratie, der Willensnation oder der Neutralität sind solche Mythen. In der Nachkriegszeit, vor allem aber im Gefolge der Achtundsechziger-Bewegung wurden diese in Kunst und Wissenschaft kritisch hinterfragt und oft genussvoll demontiert.

Identitätsbildendes Handeln

«Mythenzertrümmerung: schmerzhaft & lustvoll», lautete das Motto der Tagung vom 23. Januar an der Hochschule der Künste Bern. Anlass dazu bot die Vorstellung der Publikation Musicking Collective – Codierungen kollektiver Identität in der zeitgenössischen Musikpraxis der Schweiz und ihrer Nachbarländer, die an der Hochschule der Künste Bern (HKB) im Rahmen eines Nationalfonds-Projekts entstanden ist. Herausgeber sind der Komponist, Regisseur und Musikwissenschaftler Leo Dick, die Komponistin und Interpretin Noémie Favennec und die Performerin und Musikforscherin Katelyn Rose King. Mit der Wortschöpfung «Musicking», die vom amerikanischen Musikologen Christopher Small übernommen wurde, teilen die Herausgeber die These, dass das Wesen der Musik nicht primär in Kompositionen, sondern im kollektiven Handeln von Personen begründet sei. Musikausübung wirke somit identitäts- und gemeinschaftsstiftend.

Die Beiträge des Sammelbandes befassen sich mit dem zeitgenössischen Musiktheater vorwiegend in der Schweiz unter dem Aspekt der Konstruktion und Dekonstruktion von Wir-Identitäten. Dick selber stellt in seinem Aufsatz Der Schatten von Mutter Helvetia zwei Vertonungen von Jeremias Gotthelfs Novelle Die schwarze Spinne einander gegenüber. In Heinrich Sutermeisters Funkoper von 1934 erkennt der Autor den affirmativen Reflex der Geistigen Landesverteidigung, in Rudolf Kelterborns Fernsehoper von 1984 dagegen die kritische Auseinandersetzung im Gefolge der Jugendunruhen in verschiedenen Schweizer Städten.

Gesellschaftskritik und Zukunftsmusik

Bei den übrigen Referaten der Berner Tagung lag der Fokus nicht immer auf der Musik. Heike Bazak, Leiterin des PTT-Archivs in Bern, entschlüsselte den Zusammenhang zwischen den verschiedenen ikonografischen Darstellungen der Helvetia auf Schweizer Briefmarken und dem jeweiligen Zeitgeist. Die Historikerin Noëmi Crain Merz sprach über neuere Frauenbewegungen in der Schweiz und ihren Umgang mit Geschlechterrollen.

Zurück zur Musik führte der Beitrag der Musikethnologin und Filmemacherin Lea Hagmann. Sie stellte ihren Dokumentarfilm Beyond Tradition: Kraft der Naturstimmen (2023) vor, den sie zusammen mit Rahel von Gunten und dem Produzenten Thomas Rickenmann realisiert hatte (Red. siehe Film-Bericht von Wolfgang Böhler). Dokumentiert werden der Appenzeller Naturjodel sowie zwei vergleichbare ausländische Traditionen. Die beiden Filmemacherinnen waren an der Frage interessiert, wie sich solche Traditionen mit innovativen Ansätzen verbinden lassen. Dabei habe sich herausgestellt, dass sowohl der Hauptdarsteller als auch der Produzent Angst vor einer möglichen «Mythenzertrümmerung» bekommen hätten. Vor dem Hintergrund des Konflikts zwischen Kunst und Kommerz sei der Film schliesslich weniger gesellschaftskritisch geworden, als Hagmann das gerne gehabt hätte.

Zu Mythen können auch Institutionen oder Publikationen werden. Geradezu Kultstatus hat inzwischen der 2002 eröffnete Gare du Nord im Badischen Bahnhof von Basel erlangt. Der kuratierte Produktions- und Aufführungsbetrieb für die zeitgenössische schweizerische (und internationale) Musikszene bekommt im Sommer 2024 mit dem Komponisten und Performer Andreas Eduardo Frank eine neue künstlerische Leitung. Im Gespräch mit Leo Dick skizzierte der Designierte seine Vorstellungen: Generationenwechsel bei Künstlern und Publikum, Strukturveränderungen und pluralistischer künstlerischer Ansatz. Zu Konkreterem liess sich Frank trotz Nachfragen nicht bewegen.

Dissonanzen und Partisanen

Zu einem Mythos «post festum» ist auch die 2018 eingegangene Zeitschrift Dissonance/Dissonanz, das Leitmedium der zeitgenössischen Schweizer Musikproduktion, geworden. Die Gründe für das Ende waren finanzielle Schwierigkeiten und Meinungsverschiedenheiten zwischen Redaktion und Trägerschaften. Wie Phönix aus der Asche ist 2022 mit der Online-Plattform Partisan Notes ein neues Medium erstanden. Der Musikphilosoph Christoph Haffter, Mitherausgeber der Plattform, und die Musikwissenschaftlerin Jasmin Goll orientierten über die Ausrichtung des neuen Organs. Es handelt sich dabei nicht um eine direkte Nachfolgepublikation von Dissonance/Dissonanz. Denn Partisan Notes ist international ausgerichtet und erscheint auf Englisch. Die Plattform steht für Unabhängigkeit, ästhetischen Pluralismus und Parteinahme für eine zeitgenössische Musik, die sich der Kritik stellen will. Neben Essays zu verschiedenen Themen bietet die Plattform Berichte von Workshops, die mit wechselnden Veranstaltern zeitgenössischer Musik durchgeführt werden. Bei den Workshops kommen Kritiker, Komponisten und Interpreten miteinander ins Gespräch und «erleuchten» sich wechselseitig.

Podiumsdiskussion zu Partisan Notes: v.l. Leo Dick, Jasmin Goll, Christoph Haffter und Katelyn King. Foto: Daniel Allenbach/HKB

In der anschliessenden Diskussion meldeten sich vorwiegend kritische Stimmen: Durch die internationale Ausrichtung verliere die schweizerische Szene an Bedeutung. Das Englische habe die in Dissonance/Dissonanz herrschende helvetische Zweisprachigkeit des Deutschen und des Französischen verdrängt. Mit dem Online-Medium gehe die Sinnlichkeit einer physischen Publikation verloren. Und Partisan Notes sei zu abgehoben.

Zur Versöhnung und Abrundung überraschte Katelyn King in Cathy van Ecks In paradisum für Performerin und Live Electronics mit einer witzigen Darbietung. Die apfelessende Eva konnte man im Zusammenhang des Tagungsthemas auch als eine feministische Umdeutung von Tells Apfelschuss interpretieren.

Katelyn King in Cathy van Ecks In paradisum für Performerin und Live Electronics. Foto: Daniel Allenbach/HKB

«Bitte, ich versuche zu sprechen»

Diesen Titel setzte Jürg Halter über seine Intervention am Symposium «Sprachkunst in der Musiktherapie» an der ZHdK. Improvisierend reflektierte er das Verstehen und Verstandenwerden und bewegte sich virtuos an den Übergängen von Sprache, Musik und körperlicher Darstellung.

Jürg Halter trat am 26. Januar 2024 am ZHdK-Symposium «Sprachkunst in der Musiktherapie» auf. Foto: zVg/ZHdK

Begriffe wie Musiksprache, Wortmusik, Körpersprache weisen darauf hin, dass Sprache, Musik und Körper sich aufeinander beziehen, sich gegenseitig gar bedingen. Im Idealfall – und das wissen nicht nur Bühnenkünstlerinnen und -künstler – verdichten sich die drei Elemente zu einem kunstvollen Ganzen.

Das Symposium «Sprachkunst in der Musiktherapie» vom 26. und 27. Januar an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) thematisierte «die Übergänge zwischen Sprache und Musik». Fachleute aus Literatur, Musik, Performance und Therapie beleuchteten das Dachthema in Vorträgen und Workshops aus verschiedenen Blickwinkeln. Beate Roelcke und Diandra Russo moderierten die Veranstaltung.

Musik und Sprache werden in der Therapie verantwortungsbewusst, wissenschaftlich fundiert, aber auch auf künstlerisch-kreative Weise eingesetzt. Der Leiter der Abteilung Musik an der ZHdK, Michael Eidenbenz, sagte dazu in seinem Grusswort: «Musikmachende tragen Verantwortung, gute Musik zu machen. Im therapeutischen Kontext gilt dies erst recht.»

Drei Keynote-Referate breiteten die mannigfaltigen Aspekte aus: Sandra Lutz Hochreutener sprach unter dem Titel «Körper-, Musik- und Wort-Sprache im Trialog» über das wissenschaftliche Gerüst der Musiktherapie und veranschaulichte ihre Arbeit mit Beispielen aus der Praxis. Benjamin Hoeltje berichtete über die bei «Risiko-Jugendlichen» gut funktionierende «Rapmusiktherapie», und der bekannte Schweizer Autor, Lyriker, Performer und bildende Künstler Jürg Halter erwies sich als die perfekte Besetzung, um die Bedeutung von Sprache in Verbindung mit Musik in künstlerischer Form zu demonstrieren.

Sinn und Klang vereinen

Jürg Halter hat unter anderem als Poetry-Slammer und als Kunstfigur Kutti MC erfolgreich als Rapper gearbeitet. Zu Beginn seines Vortrags «Bitte, ich versuche zu sprechen» stellte er den Titel gleich szenisch dar. Stammelnd und nach Worten ringend begab er sich zur Bühne und erörterte anhand vieler Beispiele und Zitate, teils aus eigenen Gedichten, seine Auffassung von Sprache. Ruhelos wanderte er dabei zwischen zwei Notenständern hin und her, als ob er seine Argumente zusammensuchen wollte. Tatsächlich sprach er frei, und über weite Strecken improvisierte er. «Wenn Geist und Körper sich zusammentun, kann Sprache entstehen», sagte er und fuhr fort: «Sinn und Klang, ich werde euch vereinen.» Das Aneinanderreihen von Wörtern müsse immer auch einen Rhythmus aufweisen. Er nannte dies «Wortmusik». Er zitierte nicht nur, sondern performte die Textausschnitte, kleidete sie in einen eigentümlichen Sprechgesang und versah sie mit den vom Rap her bekannten, coolen Vorwärtsbewegungen der Arme.

Keine Angst vorm Scheitern

Improvisieren in Musik und Sprache habe viel mit Selbsterfahrung und Selbsterweiterung zu tun, führte Halter aus und knüpfte damit wieder beim Thema der Veranstaltung an. Der Angst vor dem Scheitern setze er sich bewusst aus und bereite sich nie bis ins Letzte auf Auftritte vor. Er möge Menschen, die sich dem Risiko der Blamage auslieferten. «Es fragt sich allerdings, auf welchem Niveau man scheitert», fügte er schmunzelnd hinzu. Als Vorbereitung einer Improvisation begebe er sich in einen «Zustand zwischen absoluter Konzentration und Loslassen».

Auf verblüffende Weise demonstrierte er seine Improvisationskunst mit einer spontanen Performance über den aus dem Publikum vorgegebenen Begriff «Enten». Nach kurzer Zeit befand er sich in einer Art Trance. Als ob er von einem imaginären Teleprompter abläse, trug er einen in seiner Sinnlosigkeit vollendet gestalteten Text vor.

«Sprache ist der Versuch, sich verständlich zu machen», betonte Halter, und doch begleite ihn die Gefahr, missverständlich zu sein. Ziel wäre es, eine gemeinsame Sprache zu finden, in der Missverständnisse weitgehend vermieden werden könnten. Eine kritische Reflexion über das Medium Sprache sei für den denkenden Menschen unverzichtbar.

Mendelssohn-Trouvaillen aufgeführt

Das Klavierduo Soós-Haag spielte im Januar erstmals die vor einiger Zeit in der Sacher-Stiftung aufgespürten Kadenzen von Felix Mendelssohn zu Mozarts Konzert für zwei Klaviere und Orchester KV 365.

Klavierduo Soós-Haag Foto: Irene Zandel

Vor Jahren schon entdeckte das Klavierduo Soós-Haag zwei Kadenzen von Felix Mendelssohn zu Mozarts Doppelkonzert KV 365, die nun in Lindau, Liestal, Lutry und Boswil endlich aufgeführt werden konnten. Zu den damaligen Recherchen erläutert Ivo Haag: «In einem Brief vom 1. Juni 1832 an seine Familie in Leipzig schreibt Mendelssohn aus London, er spiele an diesem Abend zusammen mit Ignaz Moscheles das Doppelkonzert von Mozart und er habe aus diesem Anlass ‹zwei lange Kadenzen› geschrieben.»

Durch einen Hinweis von Ralf Wehner von der Leipziger Mendelssohn-Forschungsstelle erfuhren sie, dass diese «Londoner» Kadenzen in der Paul-Sacher-Stiftung in Basel liegen. Bisher waren sie nur einigen wenigen Spezialisten bekannt. Haag beschreibt den Augenblick der Entdeckung als «magisch»: «Ich habe sofort gesehen, dass es hochinteressantes Material ist und wollte es unbedingt in eine aufführbare Form bringen.» Da die Manuskripte nur als Fragment erhalten sind, harrten die Kadenzen lange ihrer Vollendung und Aufführung.

Im Konzert von Chaarts vom 20. Januar im Künstlerhaus Boswil war Mozarts Doppelkonzert eingebettet in Werke von Bach, Veress und eine Mozart-Sinfonie. In Bachs Konzert C-Dur BWV 1061, ursprünglich für zwei Tasteninstrumente ohne Orchester geplant, konnte das Duo Soós-Haag seine Qualitäten demonstrieren: den Wettstreit der beiden ebenbürtigen Partner im ersten Satz oder der feinsinnige Siciliano. Die beiden Klaviere überstrahlten die hier noch etwas träge Begleitung des Ensemble Chaarts.

In den Vier transsylvanischen Tänzen drehte dieses dann aber mächtig auf. Veress hat die Volksmusik aus seiner Heimat geschickt in ein Streichorchester-Werk von hoher Intensität verwandelt. Die Komposition wurde 1950 von Paul Sacher in Basel uraufgeführt. Veress’ Nachlass befindet sich, wie die Mozart/Mendelssohn-Kadenzen, in der Sacher-Stiftung.

Die Tänze sind in guter Suitentradition gehalten. «Lassú» beeindruckt durch den romanzenhaften Gestus, ihm folgt mit «Ugros» ein Springtanz. Der schwermütige «Lejtös» beginnt mit einer getragenen Bratschenmelodie, während «Dobbantós» einen energischen Kehraus präsentiert, bei dem Dirigent Gábor Takács-Nagy gar bühnenreif ins Hüpfen kam.

Die Interpretation trug unverkennbar die Handschrift von Chaarts, die in Mozarts Sinfonie Nr. 29 A-Dur KV 201 noch prägnanter hörbar wurde. Energisches, fast überdrehtes Streichen, Energieballungen von höchster Intensität bei kurzer Phrasierung. Zu diesem hochdynamischen Ansatz passte auch das Andante: Gemäss Partitur sollen alle Streicher mit Dämpfer spielen, was einen weichen, hintergründigen Klang hervorruft. War es Absicht, dass bei etlichen Musikern der Dämpfer fehlte? Jedenfalls ging der vorgeschriebene Sordino-Effekt verloren. (vergl. Gegendarstellung von Andreas Fleck*)

Aus der Improvisation entstanden

Im Mittelpunkt des Abends stand aber das Doppelkonzert von Mozart mit den beiden unbekannten Kadenzen. Dem Duo Soós-Haag war es gelungen, für die Vervollständigung des Funds Robert David Levin zu gewinnen. Es ist höchst selten, dass sich Manuskripte von Kadenzen erhalten, und so war Levin, der sich mit Rekonstruktionen von Mozart-Werken einen Namen gemacht hat, sofort interessiert. Besonders spannend ist, dass es Originalkadenzen von Mozart gibt, die «a tempo» gespielt werden.

Und bei Mendelssohn? Im Gegensatz zu Mozart ist es offensichtlich, dass Mendelssohns Kadenzen aus der Improvisation heraus entstanden sind, wie Haag erläutert: «Sie sind lockerer gefügt, Moscheles und Mendelssohn haben oft und gern zusammen improvisiert. Die zum ersten Satz ist mehr oder weniger ausgeschrieben, bis auf eine Stelle des ersten Klaviers, die auf einer nicht notierten Improvisation von Moscheles beruht. Robert Levin hat diese Stelle auf kongeniale Weise ergänzt. Das Skizzenmaterial zu der des dritten Satzes ist sehr rudimentär.» Levin musste also mehr ergänzen.

Als Zuhörerin im Konzert fragte ich mich natürlich, wie dies nun klingen mag: mehr nach Mozart oder mehr nach Mendelssohn? Die Auflösung war in mehrerlei Hinsicht frappant. Zum einen öffnet Mendelssohn das Tor weit in die Romantik, er ist freier, kühner in der Harmonik, und er schenkt den beiden Solisten je eine grosse eigene Partie. Das Klavierduo Soós-Haag liess sich nicht zweimal bitten, spielte die Eigenheiten gekonnt aus, agogisch raffiniert und quasi improvisando.

Bei der zweiten Kadenz bedauerte man die Kürze, man hätte der basslastigen Partie und den Girlanden à la Chopin gerne noch etwas länger nachgehört. Raffiniert, wie das Ensemble Chaarts unter Gábor Takács-Nagy den Spagat zwischen Klassik und Romantik bewältigte, mit weicherem Ansatz, längeren Phrasierungen und schmelzender Oboen-Kantilene. Die Kadenzen bilden eine Bereicherung des Repertoires und werden vermutlich veröffentlicht.

 

* Gegendarstellung von Andreas Fleck, Ensemble Chaarts, vom 8. Mai 2024:

  1. schreibt Mozart (wie üblich), nur Dämpfer für die Violinen vor (siehe Screenshot Partitur unten)
  2. haben alle Geiger:innen mit Dämpfer gespielt und folglich die anderen (6) nicht.
  3. Anbei der Link zur Aufnahme, wo die unterschiedlichen Klänge innerhalb der Streicher gut hörbar sind
    https://open.spotify.com/intl-de/track/2KOtCvJIDHl80h2hrqkETG?si=099d88c994154cfc
  4. Das aufgezeichnete Video zeigt (in nämlichem Konzert zwei Tage später), dass alle Geiger ihren Dämpfer selbstverständlich aufsetzen.

 

 

Anm. d. Red.: Änderung resp. Ergänzung ausgeführt am 13. Mai 2024

Ars Electronica Forum Wallis 2024

Die Resultate des 9. Wettbewerbs für akusmatische Musik Ars Electronica Forum Wallis sind bekannt. Die gekürten Werke werden im März in Münster/Goms aufgeführt.

Komponistinnen und Komponisten der Ars Electronica Forum Wallis 24  (AEFW) Selection (die andere Hälfte ist am Ende des Beitrags zu sehen). Bildkomposition: AEFW

301 Komponistinnen und Komponisten aus 51 Ländern und sämtlichen Kontinenten haben insgesamt 327 Werke eingereicht, so viele wie noch nie. Bemerkenswert ist, dass der Anteil an Werken von Komponistinnen bei den Einreichungen unter 20 Prozent liegt, bei den gekürten Werken jedoch knapp 30% beträgt. Auch war im Vergleich zu früheren Jahrgängen ein signifikant höherer Anteil an ausgewählten Werken von Komponistinnen und Komponisten aus lateinamerikanischen und asiatischen Ländern (45%) zu verzeichnen.

In die Ränge der Ars Electronica Forum Wallis 2024 Concert Selection kamen insgesamt 23 Werke. Dazu kamen 18 weitere Stücke mit Special Mention.

Concert Selection (in alphabetischer Reihenfolge)

Gabriel Araújo, Saw (BRA)
Bariya Studio (Pratyush Pushkar & Riya Raagini), Delhi Polyphones (IND/IND)
Natasha Barrett, Impossible Moments from Venice 2 (NOR/GBR)
Beau Beaumont, No Input (GBR)
Sébastien Béranger, Superflu(x) (BEL)
Alex Buck, Otherness (BRA)
Mikel Kuehn, Unlocking The Keys (USA)
Léo Magnien, un relief suspendu par transparence (FRA)
Paolo Montella, Cairo Backwards (ITA)
Cameron Naylor, Spent (GBR)
Naxal Protocol (Piero Stanig), Microinsurrezioni (ITA/SGP)
Paul Oehlers, Automaton (USA)
Lucie Prod’homme, Tu es démasqué (FRA)
Luis Quintana, Junkyard Construction (PRI)
Francesco Santagata, Overthinking – listening to music and not talking is the best, I think (ITA)
Dimitris Savva, Tranglitchuilizer (CYP)
Bernd Schumann, Kanon für 4 Lautsprecher (GER)
Sylvain Souklaye, invisible body (FRA/USA)
Mehmet Ali Uzunselvi, Iklık Park (TUR)
Frida Vasquez de la Sota / Kathia Rudametkin, Climbing (MEX/MEX)
Jorge Vicario, Poltergeist II (ESP)
Bihe Wen, unfold (CHN)
Yunjie Zhang, Le Caméléon (CHN)

Special Mention  (in alphabetischer Reihenfolge)

Giuseppe De Benedittis, sottosuolo (ITA)
Manuella Blackburn, Cupboard Love (GBR)
Maria Fernanda Castro, Arbóreo (COL)
Mauro Diciocia, Rygerfjord (ITA)
Christian Eloy, Dans les jardins de Cybèle (FRA)
Juro Kim Feliz, Kinalugarán (PHL)
Nicole Fior-Greant, un-Form 3 (CHE)
John Fireman, Lacis (USA)
Mariam Gviniashvili, Free Flow (GEO)
Andrew Lewis, Two Lakes (GBR)
Yannis Loukos, 3D Meditation (GRC)
Manolo Müller, emblematic identities (CHE)
Rodrigo Pascale, Discontinuous Meditation I (BRA)
Lucie Prod’homme, Comme un malentendu (FRA)
Paul Rudy, From one drop an ocean (USA)
Nicolas Vérin, Méditation sur l’Ukraine (FRA)
Chen Wang, Cyberspace Paradox (CHN)
Otto Wanke, Cycling (CZE)

Die Stücke der Ars Electronica Forum Wallis 2024 Concert Selection werden am 8., 9. und 10. März auf dem 16-Kanal-Akusmonium des MEbU (Münster Earport) im Rahmen des Festivals für Neue Musik Forum Wallis von Simone Conforti (IRCAM Paris) gespielt. In der Jury walteten die Japanerin Kotoka Suzuki (UTSC Toronto), der Peruaner Jaime Oliver La Rosa (Waverly Labs NYU New York), der Neuseeländer Reuben de Lautour (Canterbury University NZ) sowie der Schweizer Javier Hagen (ISCM Switzerland, Forum Wallis, Jurypräsident).

Das Forum Wallis ist das alljährlich stattfindende Festival für Neue Musik, das von der IGNM-VS, der Walliser Ortssektion der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik, organisiert wird. 2024 findet es zum 17. Mal statt.

Komponistinnen und Komponisten der Ars Electronica Forum Wallis 24  (AEFW) Selection (die andere Hälfte ist am Anfang des Beitrags zu sehen). Bildkomposition: AEFW

Andrea Bischoff wird Dozentin für Oboe an der HSLU

Das Institut für Klassik und Kirchenmusik der Hochschule Luzern – Musik (HSLU) begrüsst Andrea Bischoff per Studienjahr 2024/25 als neue Hauptfach-Dozentin für Oboe.

Andrea Bischoff. Foto: zVg

Andrea Bischoff absolvierte ihr Lehr- und Orchesterdiplom bei Louise Pellerin in Zürich und erlangte anschliessend in der Klasse von Heinz Holliger an der Musikhochschule in Freiburg im Breisgau ihr Konzert- und Solistendiplom mit Auszeichnung.

Seit 1997 ist sie Solooboistin im Luzerner Sinfonieorchester und wird vielerorts  immer wieder als Gast-Solooboistin engagiert (u.a. Camerata Salzburg, Berner Symphonieorchester, Camerata Zürich, Orchestre de Chambre de Lausanne, Philharmonia Zürich). Als Kammermusikerin ist sie unter anderem Mitglied des Heinz Holliger Oboentrios. Solistische Auftritte mit dem Kammerensemble St. Gallen, dem Zuger Stadtorchester, dem Luzerner Stadtorchester, mit La banda ANTIX, dem Luzerner Sinfonieorchester, dem Neuen Orchester Basel oder der Zuger Sinfonietta runden ihre künstlerische Tätigkeit ab. Auf historischen Instrumenten konzertiert sie mit dem Ensemble Corund und vielen anderen Kammermusik- bzw. Orchesterformationen.

Ihre langjährige Tätigkeit als Registerleiterin beim Zentralschweizer Jugendsinfonieorchester (ZJSO) und beim «Auftakt», dem Nachwuchsprojekt des ZJSO, dokumentiert schliesslich auch ihr Engagement für den künstlerischen Nachwuchs.

Ausgabe 01_02/2024 – Focus «Original»

Inhaltsverzeichnis

Focus

«Es kommen Voodoo-Touristen aus der ganzen Welt»
Interview mit Labelbetreiber und «Original» Reverend Beat-Man
Link zur Voodoo-Rhythm-Playlist auf Spotify

Historisch, Aufführung, Praxis
Reflexionen zum Stand der Alten Musik von Thomas Drescher

Suche nach dem Originalklang
Alte Musik am Département de musique ancienne in Genf
Originalartikel von Elizabeth Dobbin auf Englisch

Ein weiteres Leben geben
Musikalische Bearbeitung am Beispiel der Laute

Wie originell darf’s denn sein?
Über das (allzu?) Ausgefallene

Chatten über …
«Originale» im Geigenbau

 (kursiv = Zusammenfassung in Deutsch des französischen Originalartikels)

 

Critiques

Rezensionen von Tonträgern, Büchern, Noten

 

Echo

Città della Musica in Lugano
Der Tessiner Musik-Campus nimmt Form an

Musiklexikon der Schweiz
Fortschritte und Hindernisse für das Online-Nachschlagewerk

Salaires décents
Les démarches de la FGMC

Radio Francesco
Le loup | DerWolf

Ligeti-Labyrinth
Ausstellung in Basel

Sprung ins Ungewisse
Dritte Folge von Sonic Matter

Carte blanche
für Max Nyffeler

Basis

Artikel und Nachrichten aus den Musikverbänden

Eidgenössischer Orchesterverband (EOV) / Société Fédérale des Orchestres (SFO)

Konferenz Musikhochschulen Schweiz (KMHS) / Conférence des Hautes Ecoles de Musique Suisse (CHEMS)

Kalaidos Musikhochschule / Kalaidos Haute École de Musique

Schweizer Musikrat (SMR) / Conseil Suisse de la Musique (CSM)

CHorama

Schweizerische Gesellschaft für Musik-Medizin (SMM) / Association suisse de Médecine de la Musique (SMM)

Schweizerische Musikforschende Gesellschaft (SMG) / Société Suisse de Musicologie (SSM)

Schweizerischer Musikerverband (SMV) / Union Suisse des Artistes Musiciens (USDAM)

Schweizerischer Musikpädagogischer Verband (SMPV) / Société Suisse de Pédagogie Musicale (SSPM)

SONART – Musikschaffende Schweiz

Stiftung Schweizerischer Jugendmusikwettbewerb (SJMW)

Arosa Kultur

SUISA – Genossenschaft der Urheber und Verleger von Musik

Verband Musikschulen Schweiz (VMS) / Association Suisse des Écoles de Musique (ASEM)

 

Originalität am Original
Rätsel von Torsten Möller

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Ausgabe für CHF 8.- (+ CHF 2.- Versandkosten) bestellen

Norient vermittelt Welten mit Ton und Bild

Im Rahmen des 13. Norient-Festivals führte die kenianische Künstlerin und Festivalleiterin Emma Mbeke Nzioka auch Workshops für Schulklassen durch.

Foto: Norient/Marianne Wenger

Dieses Jahr fand das Norient-Festival vom 10. bis zum 14. Januar an unterschiedlichen Orten in der Innenstadt von Bern statt. Es war, wie auch seine Vorgänger, kein Anlass für schwache Nerven. Der Name Norient (No-Orient) stellt sich gegen den Orientalismus und Exotismus. Norient sieht sich als weltweite Gemeinschaft aus Kunstschaffenden, die ihr Gedankengut an ein breites, interessiertes Publikum bringen und einen kulturellen Austausch herstellen. Dies geschieht durch Auseinandersetzung mit diversen sozialkritischen und geopolitischen Themenfeldern. Auf dem diesjährigen Programm standen Formate wie (Kurz-)Film- und Podcast-Screenings, Podiumsgespräche, DJ-Sets oder Online/live-Hybrid-Konzerte von Künstlerinnen und Künstlern aus der ganzen Welt. In diesen Formaten wurden zum Beispiel die Verbindung von Ton und Storytelling, der Israel-Palästina-Konflikt, das Aussterben der Musiksprache der Hmong oder die westliche Ausbeutung afrikanischer Ressourcen thematisiert, wobei der musikalische Aspekt meist im Mittelpunkt steht.

Inmitten dieser schwer verdaulichen Denkanstösse fand man etwas überraschend zwei Workshops für Schulklassen, veranstaltet vom Berner Verein Bee-flat. Bee-flat und Norient sind dafür ideale Partner. Beide suchen auf der ganzen Welt nach spannenden Themen, die sich musikalisch umsetzen lassen, um den Horizont des Publikums zu erweitern. Die kenianische DJ, Fotografin und Cinematografin Emma Mbeke Nzioka (aka DJ Coco Em) erklärte in der einen ungefähr 90-minütigen Veranstaltung routiniert die Basics der elektronischen Musikproduktion anhand des Programms Ableton. Nzioka, die künstlerische Leiterin des diesjährigen Festivals, animierte die Kinder gekonnt zur Beteiligung. Kreativ produzierten sie Beats und fragten zum Schluss interessiert nach der vorgestellten Software und der künstlerischen Tätigkeit Nziokas.

Respekt schaffen, Selbstverständlichkeiten hinterfragen

Trotz der Leichtfüssigkeit, mit der sich Nzioka und der Leiter des zweiten Workshops, Justin Doucet (aka DJ Huilly Huile), musikvermittelnd bewegten, sind Kinder nicht das Kernpublikum des Festivals. Auf die Frage, inwiefern solche Workshops ins Festivalprogramm passen, sagt Nzioka: «Es soll dabei ein gewisser Respekt für das entstehen, was man konsumiert, wie es entsteht und welche Arbeit sich dahinter versteckt. Es ist wichtig, den gesamten Prozess zu verstehen und mit diesem in Berührung zu kommen.» Auch wenn die Workshops im Festival auf den ersten Blick fremd wirken, harmonieren sie mit der Rolle von Norient als «Überbringer».

Es geht darum, Selbstverständlichkeiten der modernen Welt zu hinterfragen, sowohl in den Veranstaltungen für Kinder wie auch in den komplexen Inhalten des restlichen Festivals. Reisefreiheit beispielsweise ist für Nzioka nicht selbstverständlich. Am 12. Januar erzählte sie an einem Podiumsgespräch von ihren eigenen Erfahrungen mit der Visums-Politik Europas. Auch sie war bereits Opfer von willkürlichen Rückweisungen, da sie als kinderlose und unverheiratete Afrikanerin von europäischen Behörden als Risiko eingestuft wird. Es werde davon ausgegangen, dass sie sich illegal hier aufhalten wolle und nicht mehr zurückfliegen werde. Beweise von Auftritten, Arbeit und Rückflügen reichten nicht. Wie zum Beweis konnten auch am diesjährigen Norient-Festival gleich zwei Kunstschaffende nicht antreten. «Man sollte die Bewegungsfreiheit afrikanischer Künstlerinnen und Künstler nicht für selbstverständlich halten, weder in Europa noch innerhalb Afrikas», ergänzte Nzioka.

Neue Gedanken, die haften bleiben

Abends waren Filme in zwei Kinos zu sehen. Einen Höhepunkt bildete der Dokumentarfilm Songs That Flood the River. Diesen Film empfiehlt Nziokas wärmstens. Er handelt von der Auslöschung spiritueller kultureller Praktiken im Zusammenhang mit der Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Darüber hinaus spricht er den künstlerischen Prozess des Songwritings an und zeigt auf, inwiefern externe Faktoren diesen beeinflussen können. Das Publikum wird mit Gedanken entlassen, die nicht mehr abzuschütteln sind. Nzioka sagt dazu: «Das Publikum wird nicht finden: ‹Wir ändern heute noch die Welt!›, nein, aber vielleicht werden Zuschauerinnen und Zuschauer immerhin einen Aspekt in ihrem Leben verändern … Vielleicht ihren Umgang mit anderen Leuten oder die Bildung ihrer Kinder.»

Bei den Norient-Festivalbesucherinnen und -besuchern, so verschieden sie sind, fördern Musik und Bilder das Verständnis für wenig bekannte Teile dieser Welt. Es ist zu hoffen, dass Norient durch diese Vermittlung eine neue Art kulturellen Bewusstseins schaffen kann.

Check für female+ des Künstlerhauses Boswil

Am 18. Dezember übergaben die Soroptimisten Bremgarten einen Unterstützungsbeitrag von 5000 Franken in Form eines Checks an das Förderprogramm female+ für junge Musikerinnen.

Manuela Luzio (Vizepräsidentin Soroptimisten Bremgarten), Rose-Marie Mülli, Stefanie C. Braun, Dorothee Bokhoven, Therese Kron, Stefan Hegi, Michaela Allemann. Foto: Künstlerhaus Boswil

Am Jubiläumsanlass zu seinem 30-jährigen Bestehen führte der Service Club Soroptimist International – Club Bremgarten-Freiamt im September 2023 eine Spendenaktion in Form einer Versteigerung zugunsten des Musikfonds female+ des Künstlerhauses Boswil durch. Üblicherweise findet alle zwei Jahre ein Benefizkonzert zugunsten von female+ statt. Gäste und Soroptimistinnen waren aber auch von diesem Spendenprojekt überzeugt und beteiligten sich grosszügig an der Versteigerung. Am 18. Dezember wurde im Künstlerhaus Boswil der Check in der Höhe von 5000 Franken an den Musikfond female+ übergeben.

Das nächste Benefizkonzert findet am 8. September 2024 statt.

Link zur Medienmitteilung des Künstlerhauses Boswil

Tessiner Musik-Campus nimmt Form an

Einige der wichtigsten musikalischen Institutionen des Kantons sollen auf dem heutigen Radio-Gelände in Lugano ein gemeinsames Zuhause finden. Mit der Vorstellung des siegreichen Architekturprojekts wurde am 12. Dezember erstmals umfassend über das ambitionierte Vorhaben «Città della Musica» informiert.

Visualisierung des neuen multifunktionalen Probensaals der Città della Musica in Lugano. Bild: Architecture Club

Die Città della Musica, so der Name des Projekts, entsteht auf dem bisherigen Areal von Radio Svizzera italiana (RSI) im Quartier Besso oberhalb des Bahnhofs SBB. Hauptnutzer ist das Conservatorio della Svizzera italiana (CSI), Partner sind das Orchestra della Svizzera italiana, der Coro RSI und die Barrocchisti von Diego Fasolis, die Schweizerische Nationalphonothek und der Verband Sonart. (Das Radio belässt einige Studios hier, zieht aber mit allen anderen Aktivitäten auf das Gelände des Fernsehens an den Stadtrand nach Comano um.) Die Gesamtkosten werden auf rund 45 Millionen Franken veranschlagt. Geldgeber sind die Stadt Lugano, der Kanton und, was das CSI angeht, der Bund. Rund ein Drittel soll von Privaten kommen. Der Baubeginn ist für 2025 geplant, und bis 2028 soll die Città stehen.

Kultureller Brennpunkt mit überregionaler Ausstrahlung

Mit dem Projekt entsteht, in Ergänzung zum modernen Konzertbau des LAC am Seeufer, ein kultureller Cluster, der die wachsende Bedeutung Luganos als Musikstadt auf halbem Weg zwischen Zürich und Mailand unterstreicht. Aus lokaler Sicht füllt die Città della Musica zudem eine empfindliche Lücke in der Infrastruktur. Das LAC verfügt nämlich über keine Probenräume, und das akustisch einzigartige Auditorio Stelio Molo auf dem Radiogelände ist zwar ein gesuchter Ort für Aufnahmen, aber zu klein für sinfonische Besetzungen. Mit der Città della Musica wird der Probenraum-Notstand ein Ende finden.

Abgesehen vom hohen Nutzen für die professionelle Ausbildung und Forschung eröffnet der Campus mit seinem grosszügigen Raumangebot auch kulturpolitisch neue Perspektiven. Die musikalischen Institutionen sollen sich zur Stadt und zur Region öffnen, heisst es, einerseits durch den niederschwelligen Zugang zum Areal und zu den Veranstaltungen, andererseits durch das Lehrangebot des Conservatorio. Die Präsidentin der Stiftung Conservatorio Ina Piattini Pelloni spricht von der integrativen Wirkung, die von dem Projekt ausgehe und musikalisch alle Generationen zusammenbringe. So wird neben dem international ausgerichteten Hochschulbetrieb und der Pre-College-Abteilung nicht zuletzt die Musikschule mit der Basisausbildung für Kinder und Jugendliche vom neuen Standort profitieren können. Auf die allgemeine Musikerziehung wird in Lugano viel Wert gelegt. Der Verein der Freunde des Conservatorio, der sich der Nachwuchsförderung widmet, hat beispielsweise allein für das laufende Schuljahr 160 000 Franken eingeworben und damit über 150 Stipendien an Schüler aus wenig bemittelten Familien ausgerichtet – Inklusion einmal anders.

Architektonische Synthese von Alt und Neu

Dem Prinzip Offenheit ist auch das prämierte Projekt des Architecture Club verpflichtet. Das junge Architektenteam aus Basel, das auch den Campus 2040 für die Musik-Akademie Basel entworfen hat, fand für die Neugestaltung des Areals eine Lösung, die nun bei der Präsentation viel Beifall erhielt. Das weiträumige Ensemble der bestehenden Gebäude bleibt äusserlich weitgehend unangetastet, ihre erstaunlich zeitlos anmutende Formensprache aus den Fünfzigerjahren wird für die Neubauten unauffällig übernommen. Das sechseckige Auditorio Stelio Molo bleibt als Herzstück im Zentrum erhalten. Doch eine wichtigere Funktion hat nun der ebenfalls polygone Bau des grosszügig bemessenen, multifunktionalen Probensaals, der bei Konzerten bis zu dreihundert Personen Platz bietet und sich wie alle anderen Bauten in die parkähnliche Umgebung organisch einfügt. Für alle Proben- und Übungsräume auf dem Gelände liegt das Akustikdesign in den Händen der japanischen Firma Nagata Acoustics, die auch der Hamburger Elbphilharmonie ihren Stempel aufdrückte.

Beispielhafte Zusammenarbeit auf allen Ebenen

Das Projekt der Città della Musica wird von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen. In den Redebeiträgen und persönlichen Gesprächen bei der Pressekonferenz war so etwas wie eine kollektive Euphorie über den erfolgreichen Start zu spüren. «Sämtliche Absichtserklärungen und Vereinbarungen sind in einem kollegialen, vertrauensvollen Verhältnis zustande gekommen», sagt Konservatoriumsdirektor Christoph Brenner, der das Projekt massgeblich vorangetrieben hat. «Es gibt diesen Willen in einem kleinen Kanton, wirklich zusammenzuarbeiten.» Das Wort Mentalitätswechsel fiel, und einige sprachen von einem kleinen Wunder: Alle Entscheidungsträger von den beteiligten Institutionen bis zur hohen Politik hätten an einem Strang gezogen. Gute Voraussetzungen für die Entwicklung einer zukunftsträchtigen, lokal gut verankerten Musikkultur mit internationaler Ausstrahlung.

Das Tessin, nur ein Ferienparadies mit Palmen, Spaghetti und Vino rosso? Die Neugründung widerlegt das Vorurteil. Nach dem LAC ist die Città della Musica ein weiterer Schritt auf dem Weg zum Kulturkanton.

Link: cittadellamusica.ch

Langer Atem für das Schweizer Musiklexikon

Eine Tagung in Bern zeigte auf, mit welchen medialen Umbrüchen das «Musiklexikon der Schweiz» (MLS) fertig werden muss. Interessierte sind im Rahmen eines Partizipationsprojekts eingeladen, beim Verfassen neuer Einträge mitzuwirken.

Auf der Startseite des Schweizer Musiklexikons ist die Suche integriert. Bild: Screenshot

Die Schweiz verfüge im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern über kein modernes Nachschlagewerk zur Musikgeschichte. Die bestehenden Lexika seien veraltet und würden der Vielfalt und dem Reichtum des Musiklebens der Schweiz nicht gerecht, schreibt die Schweizerische Musikforschende Gesellschaft (SMG) auf ihrer Webseite. Ein neues, wissenschaftlich fundiertes Musiklexikon werde schon seit Jahrzehnten verlangt.

Gearbeitet wird an dem geplanten und mittlerweile in ersten Fragmenten realisierten Musiklexikon der Schweiz (MLS) bereits seit 2013. An der Universität Bern ist für das MLS aus den bestehenden Nachschlagewerken eine Stichwortliste erstellt worden. Dabei sind etwa 11 000 ältere Lexikonartikel zu 6800 Personen digitalisiert und in einer Datenbank aufbereitet worden. Neue, eigene Artikel zu verfassen, stellt nun aber eine weitaus grössere Herausforderung dar, als es sich das Gründungsteam vorgestellt haben dürfte, denn in den letzten Jahren hat die Welt der Enzyklopädien fundamentale Veränderungen erfahren. Statt in Büchern finden sich diese heute im Internet.

Multimedial, veränderbar, mehrsprachig

Mit der Medienrevolution hat sich auch die Textredaktion vollkommen verändert. Lexikonartikel sind nicht mehr erratische Texte, die vielleicht für zweite oder dritte Auflagen nach einigen Jahren korrigiert oder ergänzt werden, sondern im Extremfall liquide Gebilde mit integrierten Audio-, Video- und Bildmaterialien, an denen Redaktoren, externe Freiwillige und weitere Beteiligte unablässig herumwerkeln. Neben den eigentlichen Artikeln muss zum Beispiel nun auch die Geschichte ihrer Veränderungen dokumentiert werden. Nicht zuletzt müssen Internet-, Datenbank- und Multimedia-Fachkräfte ins Team integriert werden. Darüber hinaus findet zurzeit eine Umwälzung in Sachen Mehrsprachigkeit statt: Lexikon-Nutzende greifen immer häufiger auf automatische Übersetzungshilfen zurück, um Texte in ihrer Muttersprache lesen zu können. Das hat tiefgreifende Konsequenzen für das Sprachen-Design eines Nachschlagewerks, besonders, wenn, wie beim MLS, ein mehrsprachiges Lexikon entsteht.

Das MLS, dessen Finanzierung noch keineswegs gesichert ist, sieht sich damit vor vielerlei Herausforderungen: Zum einen müssen seine Exponenten zurzeit ständig neu definieren, wie es aussehen soll – im Bewusstsein darum, dass sich digitale Lexika und ihre Nutzungen in wenigen Jahren wieder ganz anders präsentieren können. Zum andern gilt es, alle, die an dem grossen Werk mitarbeiten werden, auf eine Art zu organisieren, mit der akademische Institutionen in der Schweiz noch wenig Erfahrung haben. Eine professionelle, hauptamtlich damit beschäftigte Redaktion, wie sie vor Jahrzehnten für derartige editorische Mammutprojekte üblich war, genügt nicht mehr. Heutzutage sind in solche Projekte auch zahllose freie Autorinnen und Autoren integriert, die mit sachlichen Spezialgebieten oder geografischen Regionen vertraut sind, und es braucht Moderationen für laufende Kommentare zu Artikeln.

Datenbanken und Citizen-Science-Projekte

Um das Projekt etwas weiterzubringen, hat das Kuratorium des MLS in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) und der SMG an der Universität Bern ein Kolloquium (23. und 24. November 2023) und einen Workshop (25. November 2023) für interessierte Autoren und Autorinnen durchgeführt.

Was die Umwälzungen in der Medienwelt für die Aktualisierung traditioneller Lexika bedeutet, zeigte sich etwa in einem Bericht über die Retrodigitalisierung des Theaterlexikons der Schweiz (tls.theaterwissenschaft.ch). Im Kolloquium staunte man aber auch darüber, wie vielfältig die Landschaft digitaler Enzyklopädien mittlerweile ist. Vorgestellt wurde etwa das Kompetenznetzwerk Memoriav  zur Erhaltung des audiovisuellen Kulturerbes der Schweiz, ein Dictionnaire du Jura  oder das Westschweizer Projekt notreHistoire.ch, eine historisch ausgerichtete Plattform, auf der die Romands Sichtweisen und Dokumente zur Vergangenheit austauschen können und die entsprechende Ableger in den andern Landesteilen hat (unseregeschichte.ch, lanostrastoria.ch, nossaistorgia.ch). Es gibt auch einen «MusikerIndex», eine Namenliste für in der Schweiz im 19. Jahrhundert tätige Persönlichkeiten aus dem Musikleben. Dieser Index ist eine von mehreren Datenbanken des Instituts Interpretation an der Hochschule der Künste Bern. Der Wikipedia-Kulturbotschafter Diego Hättenschwiler ergänzte die Tagung mit Einblicken in die Arbeit des weltweiten Onlinelexikons.

Freie Mitwirkende und viel Geld sind gesucht

Die Übersetzerin und Musikwissenschaftlerin Irène Minder-Jeanneret, die Initiantin des MLS, wies darauf hin, dass für das auf zehn Jahre konzipierte Projekt mit Kosten von rund 9 Millionen Franken gerechnet werden muss. Die ganz grosse Herausforderung dürfte dabei die Suche nach freien Mitwirkenden und deren Zusammenarbeit mit der MLS-Redaktion werden. Geht man davon aus, dass ein umfassendes Schweizer Musiklexikon vielleicht 10 000 neue Artikel enthalten müsste, ist ein entsprechendes kulturelles Partizipationsprojekt doch ein überaus ambitiöses Unterfangen.

Auf der anderen Seite ist kulturelle Teilhabe seit 2016 ein Schwerpunkt der Schweizer Kulturpolitik. Im Rahmen einer «Citizen Science»-Initiative der Akademien der Wissenschaften Schweiz hat das MLS-Team denn auch ein Partizipationsprojekt ausgeschrieben. Gruppen und Einzelpersonen werden dabei angeregt, für das MLS lokale Musikkulturen mit Worten, Bildern und Klängen zu dokumentieren. Im Workshop im Anschluss an die Tagung liess sich eine noch recht kleine Gruppe Interessierter darin instruieren, wie Texte vorverfasst werden sollten, damit sie lexikontauglich sind.

Link zum Citizen-Science-Projekt:
schweizforscht.ch/projekte/musiklexikon-der-schweiz-1153

Xavier Dayer folgt an der ZHdK auf Michael Eidenbenz

Der Fachhochschulrat hat Xavier Dayer per 1. August 2024 zum neuen Direktor des Departements Musik an der Zürcher Hochschule der Künste ernannt.

Xavier Dayer. Foto: zVg

Wie die Bildungsdirektion des Kantons Zürich schreibt, gewinne die Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) mit Xavier Dayer eine erfahrene und gut vernetzte Persönlichkeit mit einem breiten Leistungsausweis in der Schweizer Musikhochschullandschaft als Nachfolger von Michael Eidenbenz, der das Amt noch bis Ende Juli 2024 innehat.

Xavier Dayer ist seit 2002 an der Hochschule der Künste Bern tätig, seit 2011 Präsident der Genossenschaft Suisa. Er hat mehrere Kompositionspreise gewonnen und zahlreiche Werke für wichtige Ensembles geschrieben.

Link zur Medienmitteilung der Bildungsdirektion des Kantons Zürich vom 13. Dezember 2024

 

«Ligeti-Labyrinth» in Basel und Budapest

Eine sehenswerte Ausstellung begibt sich auf Spuren von Ligetis Schaffen in neun sinnfälligen Modulen.

Die Originaldokumente sind auf Gitterflächen angebracht. Fotos: Philipp Emmel/Historisches Museum Basel, Musikmuseum

Das Ligeti-Jahr ist schon fast vorbei und in Zeitungen, Veranstaltungen und Radiobeiträgen wurde der 100. Geburtstag des 2006 verstorbenen ungarischen Komponisten eingehend gewürdigt. So mag es manchem wie die «Schneckenpost» vorkommen, dass die Paul-Sacher-Stiftung erst jetzt eine Ausstellung präsentiert: Im Musikmuseum des Historischen Museums Basel zeigt sie mehrheitlich Objekte des in der Stiftung verwahrten Nachlasses von György Ligeti.

Diese «späte» Ehrung hat vor allem zeitliche Gründe. Das Musikhistorische Museum Budapest – zu den Kooperationspartnern gehört das Musikwissenschaftliche Institut des Budapester Forschungszentrums für Geisteswissenschaften Hun-Ren –, wo die Ausstellung zuvor zu sehen war, hatte nur im Frühjahr 2023 Kapazität dafür, während die Basler Räumlichkeiten erst ab November zur Verfügung standen. Diese Umstände tun dem Inhalt der Ausstellung, die unbedingt zum Besuch zu empfehlen und bis am 7. April 2024 zu sehen ist, keinen Abbruch.

Sie demonstriert nicht nur den hohen Stellenwert Ligetis in der Musik des 20. Jahrhunderts, der ungebrochen andauert, sie führt uns auch in einer faszinierenden Weise an das Denken und Schaffen des Komponisten heran, wie es so bald wohl nicht mehr möglich sein wird. Essenzieller Bestandteil dieser «Reise» ins «Ligeti-Labyrinth», so der Titel der Ausstellung, sind die vielen zu bestaunenden Originale – eine Qualität, die leider immer mehr vernachlässigt wird.

Irrgarten in Gefängniszellen

Wer eine chronologische Präsentation erwartet, wird allerdings enttäuscht – zum Glück. Denn im Mittelpunkt stehen vielmehr die verschiedenen Facetten von Ligetis Denken, Schaffen und Arbeitsprozessen, die in neun Modulen ergründet werden. Themen wie «Träume und Fantasien» oder das «Netz von Stimmen» katapultieren die Kennerinnen und Kenner von Ligetis Werken sogleich in seine spezielle Welt hinein.

Ausgeheckt haben die sinnfälligen Module Heidy Zimmermann von der Sacher-Stiftung, welche den Ligeti-Nachlass seit Jahren betreut, und die ungarischen Musikwissenschaftler Anna Dalos und Márton Kerékfy. Konzept und Idee beruhen auf einer Aussage Ligetis: «Ich taste mich von Werk zu Werk vorwärts, in verschiedene Richtungen, wie ein Blinder in einem Labyrinth.» Und dieses «Ligeti-Labyrinth» findet in dem schwierig zu bespielenden Musikmuseum Lohnhof Basel mit seinen ehemaligen Gefängniszellen eine faszinierende Entsprechung.

Gezeigt wird ein breites Spektrum an Quellenmaterial, das sorgfältig ausgewählt und kommentiert ist. Gemäss Schätzungen von Heidy Zimmermann umfasst der Ligeti-Nachlass rund 25 000 Seiten Manuskript, 10 000 Korrespondenzen und 800 Fotos, Filme und Tondokumente. Ohne zu wissen, was in diesem Fundus sonst noch verborgen ist, scheint die in Basel präsentierte Auswahl stringent und spannend. So kann der persönliche Arbeitsprozess Ligetis in einmaliger Weise studiert werden.

Grafische Konzepte für musikalische Faktoren

Für seine Werke hat Ligeti jeweils seitenweise Konzept-Ideen aufgeschrieben, keine Noten, sondern Worte, wild durcheinander mit verschiedenen Buntstiften oder zum Teil auch in grafischen Darstellungen. Was auf den ersten Blick wie ein undurchdringlicher Wirrwarr erscheint, wird in Nachbarschaft zum komponierten Werk immer wieder zu einem Aha-Erlebnis. Die Begleittexte vermitteln den nötigen Hintergrund und mit dem Handy können die gezeigten Musikausschnitte auch abgehört werden.

Da ist etwa eine Skizze zum berühmten Atmosphères (1961) zu bestaunen, auf der die Musik genau beschrieben ist mit Disposition der Formteile und deren präziser Dauer. Oder es gibt eine Verlaufsskizze von Aventures (1962), die auf vier horizontal zusammengeklebten A4-Blättern die Vokal- und Instrumentalstimmen festhält, als «Zeit- und Formkontrolle», wie darauf vermerkt ist. Warum Ligeti zuerst solche aussermusikalischen Skizzen gemacht hat? «Ligeti hat erst mit 14 Jahren Klavierunterricht erhalten», erklärt Heidy Zimmermann, «er musste sich also lange Musikeindrücke vorstellen, weil er keine Schreibweise dafür hatte. Vielleicht ist das der Grund für diesen Weg.»

Verdeutlichen kann Ligetis Sonderweg das Violinkonzert (1990–1992), das im Kapitel «Stimmung und Verstimmung» thematisiert wird. Es existieren nicht weniger als fünf Blätter bunter Verbalskizzen. Kerékfy charakterisiert diese im ausgezeichneten Begleitkatalog: «Die Notizen beziehen sich teils auf die Form der Sätze, teils auf deren melodischen Inhalt und metrische Struktur. Ausserdem plante Ligeti das Grundtempo und die geschätzte Dauer.»

Ein weiteres Modul thematisiert die «Rhythmischen Entdeckungen». Es zeigt Ligetis Hinwendung zur Polyrhythmik, wie sie etwa im Klavierkonzert (1985) zur Anwendung kommt. Seine Inspiration erhielt er unter anderem durch die Musik eines zentralafrikanischen Stammes, der Banda-Linda, die aus rhythmischen Polyfonie-Patterns besteht. Ligeti besass eine Sammlung von rund 140 Schallplatten mit traditioneller Volksmusik aus aller Welt, die in einem Themenraum mit allen Covers präsent ist. Ein spannender Aspekt, der auch bei Ligeti zur Diskussion anregt. Es gibt eben viel zu sehen und zu lesen in Basel.

Eine Zelle zeigt Covers der Plattensammlung Ligetis. Foto: Philipp Emmel/Historisches Museum Basel, Musikmuseum

Ligeti-Labyrinth – HMB

Sonic Matter: Sprung ins Ungewisse

Die dritte Folge von Sonic Matter, dem Festival für experimentelle Musik Zürich, stand unter dem Motto «Leap». An 4 Tagen wurden 16 Veranstaltungen an mehreren Konzertorten und in unterschiedlichen Formaten angeboten.

Eröffnungskonzert im Schiffbau: Mazen Kerbajs Bilder werden auf die Leinwand projiziert. Foto: Kira Kynd

Die frohe Kunde gleich zu Beginn: Sonic Matter kann weitergeführt werden. Auf Antrag des Zürcher Stadtrats hat der Gemeinderat beschlossen, das Festival für experimentelle Musik in den kommenden vier Jahren weiterhin mit einem Betriebsbeitrag von jährlich 250 000 Franken zu unterstützen. Die Stadt Zürich ist der Hauptgeldgeber von Sonic Matter. Das 2021 aus den Tagen für Neue Musik Zürich hervorgegangene Festival befand sich bisher in einer Pilotphase und wurde von einer externen Firma auf seine Kreditwürdigkeit geprüft.

Andersartiges kennenlernen

Nachdem die erste Ausgabe unter dem Motto «Turn» den Blick auf musikalische und aussermusikalische Veränderungen gerichtet hatte und die letztjährige mit dem Motto «Rise» das Aufstehen auch in einem politischen Sinn verstehen wollte, bildete nun das Motto «Leap» die Klammer für das dritte Jahr. Im Vorwort des Programmhefts luden die beiden künstlerischen Leiterinnen Katharina Rosenberger und Lisa Nolte das Publikum ein, «gemeinsam den Sprung ins Ungewisse zu wagen». Die Vernetzung der Welt solle als Chance genutzt werden, das Andersartige kennenzulernen, sich auf das Unvorhergesehene einzulassen. Neben Musikerinnen und Musikern aus der Schweiz waren auch zahlreiche ausländische Künstler und Künstlerinnen, vornehmlich aus dem Vorderen Orient, eingeladen. Und als Gast war das Festival Irtijal Beirut mit von der Partie.

Überraschende Klänge und Wendungen

Eine Konkretisierung dieser Ideen lieferte gleich das Eröffnungskonzert im Schiffbau des Schauspielhauses Zürich. Spannend war etwa die Begegnung mit der iranischen Komponistin und Qanun-Spielerin Nilufar Habibian. In ihrem Stück Becoming gehen die orientalische Zither mit der E-Gitarre, dem Cello und der Bassklarinette verblüffende Verbindungen ein. Einen kräftigen Kontrast zu dieser Darbietung des Genfer Ensembles Contrechamps setzten der Gitarrist Sharif Sehnaoui und der Videokünstler Mazen Kerbaj, die beiden Gründer des Beiruter Festivals Irtijal, mit ihrer Stegreif-Performance Wormholes. Zu den ungewohnten Klängen auf der präparierten Gitarre zeichnete und sprayte Kerbaj abstrakte Bilder auf eine Folie, die simultan auf eine Leinwand projiziert wurden. Im Licht des aktuellen Gaza-Krieges las sich dann der plötzlich auftauchende Satz «Wir sind die Toten von morgen» als deutliche politische Botschaft. Die zum Schluss präsentierte Komposition für Live Ambisonic Turntables und immersive Elektronik der Komponistin Shiva Feshareki bot zwar überraschende 360-Grad-Klangerlebnisse, dauerte aber gemessen am Ideenreichtum eindeutig zu lange.

Mit einem Eklat war das traditionelle Tonhalle-Konzert verbunden, das diesmal, wie Sonic Matter kurzfristig mitteilte, nicht als Teil des Festivals stattfand. Über die Gründe schwiegen sich beide Veranstalter aus. Auf Nachfrage war vom Pressesprecher von Sonic Matter lediglich zu erfahren, dass die Entscheidung «mit der geopolitischen Lage zu tun» habe. Die Abkoppelung des Tonhalle-Konzerts bedeutete für Sonic Matter auf jeden Fall einen Prestigeverlust.

Klangparcours im Freien. Foto: Kira Kynd

Lounge, Party, Parcours, Marathon

Neben den herkömmlichen Konzerten bot Sonic Matter auch diesmal alternative Präsentationsformate an: so etwa die Listening Lounge mit aktueller elektroakustischer Musik aus zwanzig Ländern, die Party für junge Leute mit der DJ-Gruppe Frequent Defect aus der Beiruter Clubszene oder einen Klangparcours im Freien. Der vierstündige Konzertmarathon Long Night of Interferences im Theaterhaus Gessnerallee liess Musik aus verschiedenen Kulturen aufeinanderprallen. Den Schweizer Anteil daran bot die Uraufführung eines neuen Werks des Genfer Komponisten Denis Rollet, bei dem Violine, Bassklarinette und Live-Elektronik verschiedene Stadien der Annäherung und Entfernung durchlaufen.

«Umva!» von Aurélie Nyirabikali Lierman mit der Gruppe Silbersee im Schlusskonzert in der Roten Fabrik. Foto: Kira Kynd

Einen grossen geografischen und ästhetischen Sprung wagte das Festival mit der Schlussveranstaltung in der Roten Fabrik. Die in den Niederlanden lebende Komponistin Aurélie Nyirabikali Lierman und ihre Gruppe Silbersee entführten das Publikum in ihrer performativen Installation Umva! nach Ruanda. Gegenstand bildet das Leben von Aurélies Grossvater Kanyoni Ladislas, der in Ruanda als Kuhhirte und Naturheiler gelebt und mit 113 Jahren gestorben ist. Durch die Erzählung, die tänzerischen Elemente und das Spiel auf traditionellen afrikanischen Instrumenten sowie der «europäischen» Geige entstand ein faszinierendes afro-europäisches Musiktheater.

Fazit nach drei Jahren

Nach der dritten Durchführung von Sonic Matter kann man beobachten, dass sich das Festival inzwischen zu einem festen Bestandteil der avantgardistischen Musikszene entwickelt hat, den man nicht mehr missen möchte. Die Vielfalt der Präsentationsformen, die ästhetische Breite der Darbietungen und die Mitwirkung von Künstlern aus der halben Welt birgt aber auch die Gefahr einer gewissen Beliebigkeit und führt zudem zu einer Aufspaltung des Publikums in verschiedene Interessengruppen.

Listening Lounge mit aktueller elektroakustischer Musik aus zwanzig Ländern. Foto: Kira Kynd

 

Musikakademie Liechtenstein fokussiert auf ganzheitliche Menschenbildung

Seit gestern hat die Musikakademie Liechtenstein ein neues Erscheinungsbild. Sie präsentierte es auf der Baustelle: Den Campus «Hofstätte Hagenhaus» samt Konzertsaal in Nendeln wird sie voraussichtlich nächsten Herbst beziehen können.

Oberstes Organ der Musikakademie Liechtenstein ist der Stiftungsrat. Auf dem Bild zu sehen sind an der Pressekonferenz vom 30. November im Konzertsaal von links: Jürg Kesselring, Drazen Domjanic (Künstlerischer Leiter), Otmar Hasler (Präsident), Olav Behrens (Vizepräsident), Christina Zeller und oben auf dem Bildschirm der Cellist Kian Soltani, Alumnus und heute Professor der Musikakademie Liechtenstein. Foto: SMZ

Der Boden ist noch roher Beton, die Zugangstür ein Provisorium. Gleichwohl fand die Pressekonferenz im zukünftigen Konzertsaal der seit 2010 bestehenden und von Drazen Domjanic geleiteten Musikakademie Liechtenstein statt. Der Saal befindet sich im ehemaligen Tenn der Hofstätte Hagenhaus in Nendeln. Die dortigen Gebäude werden derzeit renoviert und durch einen Neubau ergänzt. Voraussichtlich ab nächsten Herbst wird die Musikakademie dort eine neue Heimat mit vielversprechenden Entwicklungsmöglichkeiten finden.

Im Zuge dieser grossen Veränderung wurde der Auftritt ganz überarbeitet, ebenso das Ausbildungskonzept. Die Musikakademie hat den Anspruch, «eine führende Institution in der internationalen Musikwelt mit fester Verankerung im Fürstentum Liechtenstein» zu sein. Ihr Ausbildungsangebot versteht sie als Ergänzung zu den Bachelor- und Masterausbildungen an Musikhochschulen. Neben der bewährten qualitativ hochstehenden musikalischen Ausbildung junger ausserordentlicher Begabungen aus der ganzen Welt durch international herausragende Lehrpersonen steht die ganzheitliche Menschenbildung im Zentrum. Dazu gehört eine umfassende Karriereplanung, die den Menschen mit all seinen sozialen, gesundheitlichen und wirtschaftlichen Bedürfnissen fördert. Die drei Lehrgänge sprechen unterschiedliche Altersgruppen an: Studierende bis 18 Jahre, über 18-Jährige und solche, die bereits einen Bachelorabschluss haben. Ein grosser Teil der Ausbildung wird durch Stipendien finanziert.

Detaillierte Informationen zum Ausbildungsangebot: https://www.musikakademie.li/

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